Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
4P.209/2004 /bie 
 
Urteil vom 21. Januar 2005 
I. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Corboz, Präsident, 
Bundesrichterin Klett, Bundesrichter Nyffeler, 
Gerichtsschreiber Mazan. 
 
Parteien 
X.________ AG, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Ralf Rosenow, 
 
gegen 
 
Y.________ AG, Beschwerdegegnerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Hafner 
und/oder Rechtsanwalt Harold Frey, 
Handelsgericht des Kantons Aargau, 
Obere Vorstadt 37, 5000 Aarau. 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 BV (Willkürliche Beweiswürdigung; rechtliches Gehör), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil 
des Handelsgerichts des Kantons Aargau 
vom 1. Juli 2004. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Im Jahre 2000 hatte die Y.________ AG (Beschwerdegegnerin) für die X.________ AG (Beschwerdeführerin) verschiedene Einzelaufträge zur Entwicklung eines Verfahrens für die Herstellung des pharmazeutischen Wirkstoffes SPP100 (Blutdrucksenkungspräparat) ausgeführt. Im Frühjahr 2001 unterzeichneten die Parteien ein nicht datiertes "Collaborative Research and Development Agreement" (im Folgenden: CRD-Vertrag). Dabei handelte es sich um einen Rahmenvertrag für die von der Beschwerdegegnerin ab 1. Januar bis 31. Dezember 2001 in zehn Unterprojekten (Project Plans) zu leistende Entwicklungs-, Forschungs- und Produktionstätigkeit. 
In Ziff. 3.1 des CRD-Vertrages wurde die Vergütung für die von der Beschwerdegegnerin zu leistende Tätigkeit wie folgt geregelt: 
"X.________ AG will pay to Y.________ AG all costs associated with the Project Plans at the annual rate of two hundred and ninetythousand Swiss Francs (CHF 290,000.-) plus any and all VAT or other similar tax per full time equivalent ("FTE"), based on 1750 hours as described in Exhibit A. Y.________'s AG annual FTE rate shall remain unchanged until December 31st, 2001 [...]." 
Im Anhang A des CRD-Vertrages wurde in Bezug auf die FTE-Vergütung Folgendes festgehalten: 
"Number of FTEs: 
The distribution of FTEs for the work to be performed at Y.________ AG shall be as follows: 
 
2001: X.________ AG will commit to support a minimum of 10 FTEs at Y.________ AG [...]. 
 
Definition FTE: 
An FTE is a calculation unit based on hours of human resources (employees) in an GMP environment. 
 
This environment includes: 
- all necessary technical infrastructure und equipment (qualified productions plants, labs, ventilation, nitrogen supply, vacuum etc.) 
- organization (project coordination, QA, logistics etc.)." 
In Rahmen der Vertragsabwicklung erstattete die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin monatlich Bericht in Form von sog. "Tracking Tools". Mit E-Mails vom 5. Oktober und 8. November 2001 teilte die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin mit, dass die vereinbarten zehn FTE-Einheiten aufgebraucht und bereits zusätzliche Arbeiten für Fr. 179'705.-- geleistet worden seien. In der Folge stellte die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin für die durch die Zahlung von zehn FTE-Einheiten in der Höhe von Fr. 2,9 Mio. nicht gedeckten Arbeitsleistungen sowie für noch nicht bezahlte Materialkosten insgesamt Fr. 565'842.60 in Rechnung. Die Beschwerdeführerin weigerte sich, den geforderten Betrag zu bezahlen. 
B. 
Mit Klage vom 15. Mai 2002 beantragte die Beschwerdegegnerin dem Handelsgericht des Kantons Aargau, die Beschwerdeführerin sei zu verpflichten, Fr. 565'842.60 zuzüglich Zins zu bezahlen. Mit Klageantwort und Widerklage vom 11. September 2002 beantragte die Beschwerdeführerin, die Klage sei abzuweisen und die Beschwerdegegnerin sei zu verpflichten, Fr. 2'219'494.85 zurückzuerstatten. Im weiteren Verlauf des Verfahrens reduzierte die Beschwerdegegnerin die eingeklagte Forderung auf Fr. 502'471.76 und die Beschwerdeführerin den widerklageweise geltend gemachten Anspruch auf Fr. 1'813'636.80. 
Mit Urteil vom 1. Juli 2004 hiess das Handelsgericht des Kantons Aargau die Klage teilweise gut und verpflichtete die Beschwerdeführerin, der Beschwerdegegnerin Fr. 451'532.75 zuzüglich Zins zu bezahlen; die Widerklage wurde abgewiesen. 
C. 
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 7. September 2004 beantragt die Beschwerdeführerin dem Bundesgericht, das Urteil des Handelsgerichts des Kantons Aargau vom 1. Juli 2004 sei aufzuheben. 
Die Beschwerdegegnerin beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Handelsgericht des Kantons Aargau hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
D. 
In der gleichen Sache gelangt die Beschwerdeführerin auch mit Berufung ans Bundesgericht. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Erhebt eine Partei gleichzeitig staatsrechtliche Beschwerde und Berufung, so ist in der Regel zuerst über die staatsrechtliche Beschwerde zu befinden, und der Entscheid über die Berufung wird ausgesetzt (Art. 57 Abs. 5 OG). Im vorliegenden Fall besteht kein Anlass, anders zu verfahren. 
2. 
2.1 Die Beschwerdeführerin wirft dem Handelsgericht zunächst vor, den Begriff "FTE" (full time equivalent) "branchenspezifisch" ausgelegt zu haben, obwohl keine Partei behauptet - und geschweige denn bewiesen - habe, dass der fragliche Begriff überhaupt branchenspezifisch sei und wie der Begriff zu verstehen sei. Mangels entsprechender Behauptungen habe das Obergericht in willkürlicher Weise Dinge unterstellt, die prozessual nicht gegeben seien. 
Diese Rüge ist unbegründet. Die Beschwerdegegnerin hat in der Replik und Widerklageantwort (Rz. 38 ff.) ausgeführt, was in der pharmazeutischen und chemischen Industrie unter dem Begriff "FTE-Vertrag" zu verstehen sei. Das Handelsgericht hat im angefochtenen Urteil im Wesentlichen diese Darstellung zum Begriff "FTE-Vertrag" übernommen. Entgegen der Darstellung der Beschwerdeführerin kann daher keine Rede davon sein, dass das Handelsgericht in willkürlicher Weise eine "Branchenspezifigkeit" unterstellt habe, die von keiner Partei behauptet worden sei. 
2.2 Weiter rügt die Beschwerdeführerin die Auffassung des Handelsgerichtes als willkürlich, dass der vertraglich vereinbarte Kostenansatz von Fr. 2,9 Mio. durch die Beschwerdegegnerin im Umfang von ca. Fr. 333'000.-- und damit nur um 10,5 % überschritten worden sei. Effektiv sei nämlich ein gewichtiges Projekt - die Herstellung von 30 kg des Wirkstoffes SPP100 - mit einem geschätzten Volumen von ca. Fr. 1'000'000.-- ausgegliedert und durch ein neues Projekt - die Herstellung des Wirkstoffes SPP0020 - mit einem geschätzten Volumen von nur ca. Fr. 220'000.-- ersetzt worden. Das gesamte Auftragsvolumen - nach Ausgliederung der grossen Herstellungscharge SPP100 und Einfügung des neuen Projektes SPP0020 - sei nicht auf Fr. 2'900'000.--, sondern nur noch mit Fr. 2'220'000.-- zu bewerten, so dass die Überschreitung des ungefähren Kostenansatzes nicht 10,5 %, sondern nahezu 50 % betrage. 
Auch diese Rüge erweist sich als unbegründet. Richtig ist zwar, dass die Vorinstanz festgehalten hat, die Herstellung von 30 kg des Wirkstoffes SPP100 sei in gegenseitigem Einvernehmen aus dem Rahmenvertrag ausgegliedert worden. Deswegen ist die beanstandete Feststellung des Handelsgerichtes jedoch keineswegs willkürlich. Einerseits können dem angefochtenen Urteil keine Hinweise entnommen werden, dass das ausgelagerte Projekt - Herstellung von 30 kg des Wirkstoffes SPP100 - ein Auftragsvolumen von ca. Fr. 1'000'000.-- ausmachte. Und andrerseits gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass das weggefallene Projekt nur durch ein einziges neues Projekt im geschätzten Volumen von Fr. 220'000.-- - Herstellung des Wirkstoffes SPP0020 - ersetzt wurde. 
2.3 Sodann beanstandet die Beschwerdeführerin die Auffassung des Handelsgerichtes als willkürlich, sie habe die Abrechnungen und Rapporte der Beschwerdegegnerin durch Schweigen akzeptiert. Zudem werde ihr Anspruch auf rechtliches Gehör auch verletzt, weil auf ihre Argumentation gar nicht eingegangen worden sei. 
Auf diese Rüge ist nicht einzutreten. Effektiv macht die Beschwerdeführerin mit ihren Rügen nicht eine Verfassungsverletzung geltend, sondern kritisiert die Rechtsauffassung des Handelsgerichts, dass das Stillschweigen der Beschwerdeführerin auf die detaillierten monatlichen Berichte (sog. "Tracking Tools") als Genehmigung im Sinne von Art. 6 OR zu qualifizieren sei. Die Kritik an der Anwendung von Bundesrecht ist mit Berufung vorzubringen (Art. 43 Abs. 3 OG). Die staatsrechtliche Beschwerde steht nicht zur Verfügung (Art. 84 Abs. 2 OG). 
2.4 Umstritten ist weiter, ob das Handelsgericht zutreffend festgehalten hatte, dass die Beschwerdegegnerin der Beschwerdeführerin die Kosten für sog. "Säulen" (49 HPLC Säulen und 6 GC Säulen) in Rechnung stellen könne. Soweit die Beschwerdeführerin die betreffende Begründung als willkürlich rügt, ist auf die Beschwerde ebenfalls nicht einzutreten. Auch diesbezüglich ist ausschliesslich die Rechtsfrage zu beurteilen, ob es sich bei diesen Säulen um Laborausrüstung handelt, die von der Beschwerdegegnerin zur Verfügung zu stellen ist, oder ob von Verbrauchsmaterial auszugehen ist, welches gestützt auf Ziff. 3.1 CRD-Vertrag der Beschwerdegegnerin verrechnet werden kann. Diese Frage kann nur im Berufungsverfahren überprüft werden (Art. 43 Abs. 3 OG). Die staatsrechtliche Beschwerde steht nicht zur Verfügung (Art. 84 Abs. 2 OG). 
2.5 Weiter wirft die Beschwerdeführerin dem Handelsgericht eine Gehörsverletzung und eine willkürliche Anwendung von kantonalem Prozessrecht (insbes. § 78 ZPO/AG) vor, weil die Einholung einer Expertise im Zusammenhang mit dem geltend gemachten Verlust des Wirkstoffes SPP100 abgelehnt worden sei. 
 
Vorweg ist dazu zu bemerken, dass Gegenstand der hier zu beurteilenden Rüge ausschliesslich der Materialverlust von 2,07 kg des Wirkstoffes SPP100 im Unterprojekt SPP0104 bildet. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, sie habe in der Duplik und Widerklagereplik (Rz. 84) sowie in der Triplik (Rz. 83) den Vorwurf der Fahrlässigkeit an die Adresse der Beschwerdegegnerin substanziiert und eine Expertise beantragt, ist ihr entgegenzuhalten, dass sich diese Stellen der Rechtsschriften auf den Materialverlust von 5,6 kg des Wirkstoffes SPP100 im Unterprojekt SPP0105 beziehen, welches nicht Gegenstand der Rüge bildet. Einzig relevant ist damit die Frage, ob in Duplik und Widerklagereplik (Rz. 75) die geltend gemachte Sorgfaltspflichtverletzung entgegen der Auffassung des Handelsgerichtes genügend substanziiert wurden und ob der Verzicht auf die Einholung eines Gutachtens eine Gehörsverletzung darstellt. Beide Fragen können indessen in einem berufungsfähigen Verfahren nicht mit staatsrechtlicher Beschwerde aufgeworfen werden. Wie weit ein Sachverhalt zu substanziieren ist, damit er unter das materielle Recht subsumiert werden kann, bestimmt sich nach Bundesrecht (BGE 127 III 365 E. 2b S. 368 m.w.H.), so dass diesbezüglich nur die Berufung gegeben ist und auf die staatsrechtliche Beschwerde nicht einzutreten ist (Art. 43 Abs. 3 OG und Art. 84 Abs. 2 OG). Aus den gleichen Gründen besteht auch für die Rüge der Gehörsverletzung (Art. 29 Abs. 2 BV bzw. § 78 ZPO) kein Raum, soweit in berufungsfähigen Verfahren eine Verletzung des Anspruchs auf Beweisführung (Art. 8 ZGB) gerügt werden kann, von welcher Möglichkeit in der parallel erhobenen Berufung auch Gebrauch gemacht worden ist. 
2.6 Schliesslich beanstandet die Beschwerdeführerin die Kosten- und Entschädigungsregelung in verschiedener Hinsicht als verfassungswidrig. 
2.6.1 Soweit sie geltend macht, dass ihr Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt worden sei, dass ihr keine Gelegenheit zur Stellungnahme in Bezug auf die Bezifferung der Prozesskostenentschädigung der Beschwerdegegnerin gegeben worden sei, erweist sich die Beschwerde als unbegründet. Für eine solche Stellungnahme gibt es keine gesetzliche Grundlage; anzuhören ist in diesem Verfahrensstadium nur noch der Anwalt, dessen Kostennoten nicht in der beanspruchten Höhe genehmigt wird (§ 14 Abs. 1 Anwaltstarif [SAR 291.150]). Im Übrigen ist es allgemein nicht gebräuchlich, vor der Festsetzung der Prozessentschädigung (Parteikosten) die kostenpflichtige Partei anzuhören. 
2.6.2 Unbegründet ist die Beschwerde auch insoweit, als die der Beschwerdegegnerin zugesprochenen Parteikosten in der Höhe von Fr. 273'770.60 als willkürlich beanstandet werden. Ausgangspunkt für die Bemessung der Parteikosten ist der Streitwert, der sich im vorliegenden Fall aus der Summe von Klage (Fr. 565'0842.60) und Widerklage (Fr. 2'219'494.85) zusammensetzt (§ 4 Abs. 2 Anwaltstarif) und somit auf ca. Fr. 2'785'000.-- beläuft. Der Einwand der Beschwerdeführerin, dass sich die von den Parteien geltend gemachten Ansprüche gegenseitig ausschlössen, ist nicht zutreffend. Da die mit ihrer Klage weitgehend obsiegende Beschwerdegegnerin mit ihrem Begehren nicht nur hätte unterliegen, sondern zusätzlich auch zur Bezahlung des geltend gemachten Widerklageanspruchs hätte verurteilt werden können, schliessen sich die eingeklagten Begehren nicht aus. Im Übrigen erweisen sich auch die beanstandeten Zuschläge nicht als willkürlich. Dass zumindest zwei von drei Rechtsschriften sehr umfangreich waren (Replik und Widerklageantwort 121 Seiten, Widerklageduplik 115 Seiten), wird von der Beschwerdeführerin anerkannt, so dass diese Zuschläge insgesamt nicht zu beanstanden sind. Auch der weitere Zuschlag von 50 % für ausserordentliche Aufwendungen erscheint vertretbar, zumal der Prozess eine nicht alltägliche Materie mit fremdsprachigen Akten betraf (vgl. § 6 Abs. 3 und § 7 Abs. 1 Anwaltstarif). 
2.6.3 Unbegründet ist die Beschwerde schliesslich auch insoweit, als die Bemessung der Gerichtskosten beanstandet wird. Gemäss § 4 Abs. 2 des Verfahrenskostendekrets (SAR 221.150) sind die Streitwerte von mehreren im gleichen Verfahren gestellten Rechtsbegehren zusammenzuzählen, soweit sich die Ansprüche nicht gegenseitig ausschliessen. Dass sich die Klage und Widerklage im vorliegenden Fall nicht ausschliessen, wurde bereits ausgeführt (vg. E. 2.6.2). 
3. 
Aus diesen Gründen ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 156 Abs. 1 und Art. 159 Abs. 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 12'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt. 
3. 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 14'000.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Handelsgericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 21. Januar 2005 
Im Namen der I. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: