Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_70/2019  
 
 
Urteil vom 21. März 2019  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Mirjam Stanek Brändle, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 30. November 2018 (IV.2017.00139). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1961 geborene A.________ meldete sich im Juli 2002 erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich (nachfolgend: IV-Stelle) verneinte mit Verfügung vom 8. Januar 2004 einen Leistungsanspruch. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 16. August 2004 fest (Invaliditätsgrad 34 %). Auf Beschwerde der A.________ hin wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Sache zu weiterer Abklärung an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 29. Dezember 2004).  
 
Die IV-Stelle veranlasste eine polydisziplinäre (internistische, rheumatologische, psychiatrische) Begutachtung bei der Ärztliches Begutachtungsinstitut GmbH (ABI; Expertise vom 30. November 2005). Gestützt darauf beschied sie das Leistungsbegehren erneut abschlägig (Verfügung vom 21. Dezember 2005, Einspracheentscheid vom 20. Juni 2006; Invaliditätsgrad 14 %). Die dagegen geführte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 31. Oktober 2007). 
 
A.b. Auf eine Anmeldung vom April 2009 trat die IV-Stelle nicht ein (Verfügung vom 14. Oktober 2009, bestätigt durch den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 31. März 2011).  
 
A.c. Im Juli 2011 verdrehte sich A.________ das linke Knie, wofür die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) Leistungen erbrachte. Im Mai 2012 meldete sich A.________ wegen Beschwerden im Knie und Fuss sowie eines psychiatrischen Leidens erneut bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle zog die Akten der Suva bei und tätigte verschiedene Abklärungen; namentlich veranlasste sie eine psychiatrische Begutachtung bei Dr. med. B.________ (Expertise vom 24. Juni und Ergänzung vom 26. September 2014) sowie eine polydisziplinäre (internistische, orthopädische, psychiatrische, neuropsychologische) Begutachtung beim Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB; Expertise vom 26. Oktober 2016). Gestützt darauf wies die IV-Stelle das Leistungsbegehren nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren ab mit der Begründung, es liege kein Revisionsgrund vor (Verfügung vom 20. Januar 2017).  
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich gut, hob die angefochtene Verfügung auf und sprach A.________ ab dem 1. November 2012 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu (Entscheid vom 30. November 2018). 
 
C.   
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Bestätigung der Verfügung vom 20. Januar 2017. Überdies sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen. 
 
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sowie bei der konkreten Beweiswürdigung handelt es sich um für das Bundesgericht grundsätzlich verbindliche Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Dagegen sind frei überprüfbare Rechtsfragen (Urteil 9C_194/2017 vom 29. Januar 2018 E. 3.2) die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 43 Abs. 1, Art. 61 lit. c ATSG) und der Anforderungen an den Beweiswert ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352). Gleiches gilt für die Frage, ob und in welchem Umfang die Feststellungen in einem medizinischen Gutachten anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen (BGE 141 V 281 E. 7 S. 308 f.).  
 
2.   
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie der Beschwerdegegnerin ab dem 1. November 2012 eine ganze Invalidenrente zusprach. 
Das kantonale Gericht legte die massgebenden Rechtsgrundlagen zutreffend dar. Es betrifft dies namentlich die Bestimmungen und Grundsätze zu den Begriffen der Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 ATSG) und der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG), insbesondere auch im Zusammenhang mit psychischen Erkrankungen, bei denen die Festsetzung der Arbeitsfähigkeit im Rahmen eines strukturierten Beweisverfahrens anhand der sogenannten Standardindikatoren zu erfolgen hat (BGE 143 V 409 und 418; 141 V 281), sowie zum Anspruch auf eine Invalidenrente (Art. 28 IVG). Richtig sind auch die Ausführungen zur Revision von Invalidenrenten (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349 ff. mit Hinweisen), zur zeitlichen Vergleichsbasis für die Beurteilung einer anspruchserheblichen Änderung (BGE 133 V 108) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung medizinischer Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3 S. 352 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen. 
 
3.   
Die Vorinstanz würdigte die medizinischen Unterlagen eingehend und bejahte aufgrund eines veränderten Gesundheitszustands einen Revisionsgrund nach Art. 17 Abs. 1 ATSG. Zur Prüfung der Auswirkungen dieser Veränderung auf den Rentenanspruch stützte sie sich auf das ZMB-Gutachten vom 26. Oktober 2016. Darin wurde der Beschwerdegegnerin (mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit) eine dissoziative Störung (ICD-10 Ziff. F44.7), eine rezidivierende depressive Störung (gegenwärtig mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom; ICD-10 Ziff. F33.11), tätliche Angriffe mit körperlicher Gewalt (ICD-10 Ziff. Y04), sexueller Missbrauch mittels körperlicher Gewalt (ICD-10 Ziff. Y05) sowie ein chronisches Schulter-Arm-Syndrom rechts mit Bewegungseinschränkung der Schulter diagnostiziert. Das kantonale Gericht mass der Expertise - auch im Lichte der im Gutachten explizit berücksichtigten Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 - vollumfänglichen Beweiswert zu. Gestützt darauf kam es zum Schluss, die Beschwerdegegnerin sei ab dem 26. November 2012 zu 100 % erwerbsunfähig. Weil sie bereits zuvor zwischen dem 24. November 2011 und dem 8. Oktober 2012 zu 100 % arbeitsunfähig gewesen sei und somit das Wartejahr erfüllt habe, bestehe - unabhängig von der Statusfrage - ab dem 1. November 2012 Anspruch auf eine ganze Invalidenrente. 
 
4.   
Die Beschwerdeführerin bezweifelt den Beweiswert der ZMB-Expertise zu Recht nicht. Sie bestreitet einzig die invalidenversicherungsrechtliche Relevanz der darin attestierten Arbeitsunfähigkeit. Dabei beschränken sich ihre Einwände im Wesentlichen darauf, ihre eigene, von der Vorinstanz abweichende Indikatorenprüfung darzulegen, was nicht genügt: 
 
4.1. Unverfänglich ist die Behauptung, die von Dr. med. C.________ im psychiatrischen ZMB-Teilgutachten erhobenen Befunde seien weitgehend unauffällig, maximal leichtgradig eingeschränkt gewesen, weshalb die Vorinstanz nicht auf das Vorliegen eines schweren Leidens hätte schliessen dürfen. Die diesbezüglichen Ausführungen in der Beschwerde erschöpfen sich in Verweisen auf Befunde, welche im ZMB-Gutachten gerade als unauffällig oder als wenig eingeschränkt beschrieben wurden (wie das Bewusstsein oder die Orientierung). Die Beschwerdeführerin setzt sich indessen nicht mit den massgebenden vorinstanzlichen Feststellungen auseinander, wonach die Beschwerdegegnerin mittel- bis schwergradig eingeschränkt sei in der Fähigkeit zur Anpassung an Regeln und Routinen, in der Fähigkeit zur Planung und Strukturierung von Aufgaben, in der Flexibilität und Umstellungsfähigkeit, in der Verkehrsfähigkeit, in der Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit, in der Durchhalte- und Selbstbehauptungsfähigkeit sowie in der Fähigkeit zu Spontanaktivität. Dr. med. C.________ diagnostizierte u.a. eine dissoziative Störung (ICD-10 Ziff. F44.7) und eine rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig mittelgradige Episode mit somatischem Syndrom (ICD-10 Ziff. F33.11). Bezüglich Schweregrad hielt er ausdrücklich fest, die psychiatrische Funktionsfähigkeit der Beschwerdegegnerin sei schwer beeinträchtigt. Wenn das kantonale Gericht mit Blick darauf schloss, Dr. med. C.________ habe ein Leiden von erheblichem Schweregrad plausibel und in Bezug auf die einzelnen Auswirkungen detailliert dargestellt, ist dies nicht zu beanstanden.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin macht geltend, bei der Beschwerdegegnerin seien nach wie vor psychosoziale Faktoren massgebend. Indem die Vorinstanz vom Gegenteil ausgegangen sei, habe sie den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt. Diesbezüglich führte das kantonale Gericht aus, im Rahmen der Entstehung der psychischen Störung hätten psychosoziale Belastungen eine Rolle gespielt. Es sei jedoch nicht anzunehmen, dass das Beschwerdebild aktuell durch solche unterhalten werde. Diese Feststellungen sind mit Blick auf die gutachterlichen Ausführungen in der ZMB-Expertise nicht zu beanstanden: Dr. med. C.________ wies darauf hin, die von der Beschwerdegegnerin durchgemachte psychosomatische Entwicklung habe mit der psychosozialen Belastungssituation begonnen, mit der Zeit hätten sich aber eine Anpassungsstörung, ein Benzodiazepinabusus, depressive Episoden, eine Schmerzverarbeitungsstörung und schliesslich eine dissoziative Störung entwickelt. Anders als die Einwände in der Beschwerde vermuten lassen, lässt sich auch dem Bericht der D.________ AG vom 25. November 2015 nichts Gegenteiliges entnehmen. Auch darin erwähnte Dr. med. E.________ psychosoziale Faktoren einzig im Rahmen der Darlegung der Krankengeschichte, indem sie darauf hinwies, diese hätten seinerzeit gegenüber den somatischen Leiden im Vordergrund gestanden. Dass die psychosozialen Faktoren indessen auch das aktuelle psychiatrische Beschwerdebild massgebend unterhalten würden, geht aus ihrem Bericht ebenso wenig hervor wie aus dem ZMB-Gutachten. Von einer offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsfeststellung kann keine Rede sein.  
 
4.3. Was die in verschiedenen Teilgutachten der ZMB-Expertise beschriebenen erheblichen Diskrepanzen zwischen den anamnestischen Angaben und den objektiv erhobenen Befunden anbelangt, weist die Beschwerdeführerin selbst darauf hin, diese seien im interdisziplinären Teil des Gutachtens mit Hinweis auf das psychiatrische Teilgutachten bzw. auf die darin diagnostizierte dissoziative Störung als gut erklärbar bezeichnet worden. Im psychiatrischen Teilgutachten des Dr. med. C.________ werden gerade jegliche Inkonsistenzen verneint. Weiterungen dazu erübrigen sich. Nichts anderes gilt in Bezug auf die in diesem Zusammenhang geäusserten Spekulationen über das Vorliegen eines sekundären Krankheitsgewinns.  
 
4.4. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin betreffend den Indikator "Behandlungserfolg oder -resistenz" (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.2 S. 299) und betreffend den Komplex "Persönlichkeit" (Persönlichkeitsdiagnostik, persönliche Ressourcen; BGE 141 V 281 E. 4.3.2 S. 302) beschränken sich primär auf eine Wiederholung der diesbezüglichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid. Inwiefern sich daraus eine Bundesrechtswidrigkeit ergeben soll ist weder ersichtlich noch in der Beschwerde dargetan. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, die von der Vorinstanz erwähnten ressourcenhemmenden Faktoren beruhten auf psychosozialen Faktoren, kann auf bereits Gesagtes verwiesen werden (vgl. E. 4.2 hievor).  
 
4.5. Zusammenfassend ergibt sich, dass in der Beschwerde keine Argumente vorgebracht werden, welche die vorinstanzliche Indikatorenprüfung in tatsächlicher Hinsicht offensichtlich unrichtig oder anderweitig bundesrechtswidrig erscheinen lassen könnten.  
 
5.   
Mit dem Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch der Beschwerdegegnerin um aufschiebende Wirkung gegenstandslos. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 21. März 2019 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner