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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 509/01 
 
Urteil vom 21. August 2003 
I. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin Riedi Hunold 
 
Parteien 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
H.________, 1981, Beschwerdegegner, vertreten durch den Beistand V.________, Gesetzlicher Betreuungsdienst der Stadt Y.________ 
 
Vorinstanz 
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur 
 
(Entscheid vom 11. Juni 2001) 
 
Sachverhalt: 
A. 
H.________ (geboren 1981) leidet an einer adoleszentären Identitätsstörung (ICD-10 F 93.8) mit ausgeprägtem Cannabis- und Alkoholabusus auf dem Hintergrund eines Psychoorganischen Syndroms (POS), für welches die Invalidenversicherung verschiedene Leistungen gewährte. Mit Verfügung vom 8. Juni 1999 ordnete die Jugendanwaltschaft Y.________ eine Erziehungshilfe nach Art. 91 StGB an. Am 30. August 1999 erteilte sie die Weisung, H.________ habe in der Schreinerei des Vereins "X.________" (nachfolgend: "X.________"), mitzuarbeiten. Nach einer Schnupperzeit von drei Wochen begann er eine Lehre als Schreiner, welche er in der Folge abbrach. Der Gesetzliche Betreuungsdienst (GBD; vormals Amtsvormundschaft) der Stadt Y.________ ersuchte am 26. August 1999 um Leistungen zur beruflichen Eingliederung von H.________. Nach erfolgten medizinischen und beruflichen Abklärungen lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 18. April 2000 das Gesuch ab, da der Gesundheitszustand von H.________ keine beruflichen Massnahmen erlaube. 
B. 
Der Beistand von H.________ erhob hiegegen Beschwerde und beantragte die Übernahme der Kosten für das Arbeitstraining bis 31. Juli 2000 in der Eingliederungswerkstätte der "X.________" mit der Möglichkeit einer anschliessenden Schreinerlehre sowie für eine begleitende Psychotherapie. Mit Verfügung vom 6. Juli 2000 gewährte die IV-Stelle die Übernahme der Kosten der Lehre ab 1. August 2000 sowie der begleitenden Psychotherapie. Replikweise beantragte der Beistand zusätzlich Taggelder für die Zeit vom 1. September 1999 bis 31. Juli 2000. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Beschwerde, soweit darauf einzutreten und diese nicht gegenstandslos geworden war, mit Entscheid vom 11. Juni 2001 gut, hob die Verfügung vom 18. April 2000 auf und verpflichtete die IV-Stelle, H.________ ab 1. September 1999 bis 31. Juli 2000 medizinische und berufliche Massnahmen zu gewähren. 
C. 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei insofern aufzuheben, als er H.________ für die Zeit vom 1. September 1999 bis 31. Juli 2000 berufliche Massnahmen zuspreche. 
 
H.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, währenddem das Bundesamt für Sozialversicherung deren Gutheissung beantragt. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Invalidenversicherung geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar. 
2. 
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf berufliche Eingliederungsmassnahmen (Art. 8 Abs. 1 und 3 lit. b sowie Art. 10 Abs. 1 IVG), insbesondere auf Berufsberatung (Art. 15 IVG; BGE 114 V 29 Erw. 1a; ZAK 1988 S. 179 Erw. 4a, je mit Hinweisen) und erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 IVG, Art. 5 IVV; BGE 114 V 30 Erw. 1b und 2; ZAK 1989 S. 598 Erw. 2, 1988 S. 177 Erw. 2 und 3, 1982 S. 493, je mit Hinweisen), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
3. 
Es ist unbestritten, dass der Versicherte auf Grund seiner psychischen Leiden grundsätzlich Anspruch auf berufliche Massnahmen hat. Streitig ist jedoch, ob die IV-Stelle für die Kosten des Aufenthalts in der "X.________" von 1. September 1999 bis 31. Juli 2000 aufzukommen hat. 
3.1 
3.1.1 Nach der Rechtsprechung müssen sämtliche Formen erstmaliger beruflicher Ausbildung den Charakter einer gezielten und planmässigen Förderung in beruflicher Hinsicht aufweisen, mit andern Worten, auf den Erwerb und die Vermittlung spezifisch beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten gerichtet sein. Vorbereitende Massnahmen sind nur dann der erstmaligen beruflichen Ausbildung gleichzustellen, wenn sie nach getroffener Berufswahl zur Vorbereitung auf die eigentliche Berufsausbildung notwendig werden (ZAK 1988 S. 177 Erw. 2 mit Hinweisen). 
3.1.2 Gemäss Bericht des Berufsberaters der IV-Stelle vom 7. März 2000 sowie der "X.________" vom 26. Februar 2000 ist der weitere Aufenthalt des Versicherten in der "X.________" nach Abbruch der Lehre anfangs 2000 als Arbeitstraining und zur Stabilisierung seiner Persönlichkeit geplant. Diese Beschäftigung mit dem Charakter einer Sozialrehabilitation stellt damit keine berufliche Ausbildung und auch keine notwendige vorbereitende Massnahme im Sinne von Art. 16 Abs. 1 IVG dar. 
3.2 Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdegegner gestützt auf Art. 15 IVG anspruchsberechtigt ist. 
3.2.1 Nach dieser Bestimmung haben Versicherte, die infolge der Invalidität in der Berufswahl oder in der Ausübung ihrer bisherigen Tätigkeit behindert sind, Anspruch auf Berufsberatung. Diese soll die versicherte Person zu jener (beruflichen) Tätigkeit führen, in der sie die ihrer Neigung und Begabung gemässe Verwirklichung findet. Es kommen verschiedene Massnahmen wie Berufswahlgespräche, Durchführung von Neigungs- und Begabungstests usw. in Frage. Die Berufsberatung kann mit einem praktischen Arbeitsversuch gekoppelt oder in einer Eingliederungs- oder Ausbildungsstätte durchgeführt werden. Eine Einweisung in eine solche Stätte hat unter genauer Umschreibung des Abklärungsauftrags und Festlegung der Maximaldauer zu erfolgen, wobei die zum Voraus bewilligte Dauer der stationären Abklärung in der Regel drei Monate nicht überschreiten soll (ZAK 1988 S. 179 Erw. 4a mit Hinweisen). Im Sinne einer ausserordentlichen Massnahme kann diese auch länger dauern (unveröffentlichtes Urteil A. vom 13. Juli 1990, I 492/88). Die Invalidenversicherung hat etwa die Kosten eines Aufenthalts zu übernehmen, wenn dieser zum Zweck des Arbeitstrainings und der Lehrvorbereitung erfolgt, oder wenn bei Entlassung die Verwirklichung der erstmaligen beruflichen Ausbildung gefährdet ist; allerdings muss (auch bei Anordnung des Aufenthalts im Rahmen einer Strafe oder Massnahme gemäss StGB) dieser wegen des Gesundheitsschadens und dessen Auswirkungen auf die Ausbildungsfähigkeit notwendig sein (Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 114 mit Hinweisen). 
3.2.2 Gemäss Einschätzung des Berufsberaters der IV-Stelle war es aus behinderungsbedingten Gründen notwendig, dem Versicherten trotz Lehrabbruch anfangs 2000 die Beschäftigung in der "X.________" als Tagesstruktur zu erhalten, damit er die für die Inangriffnahme der Schreinerlehre erforderliche Stabilität gewinnen könne (Bericht vom 7. März 2000). Aus dem Bericht des Leiters der "X.________" vom 26. Februar 2000 ergibt sich, dass zu diesem Zeitpunkt denn auch Fortschritte ersichtlich waren. Sowohl der Leiter der "X.________" als auch die behandelnde Psychiaterin und der Beistand sowie der Versicherte selbst waren nach wie vor vom Ziel des Schreinerberufs überzeugt und zuversichtlich, dank dieses Arbeitstrainings die für die erfolgreiche Absolvierung der Lehre notwendige psychische Stabilität des Beschwerdegegners zu erreichen. Das kantonale Gericht hat somit im Grundsatz zu Recht im Sinne einer ausserordentlichen Massnahme die Leistungspflicht der Invalidenversicherung für den gesundheitlich bedingten Aufenthalt in der "X.________" für die Zeit vom 18. September 1999 bis 31. Juli 2000 gestützt auf Art. 15 IVG bejaht. 
3.2.3 Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Gefährdung der erstmaligen beruflichen Ausbildung nicht auch anders begegnet werden könnte. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich der Versicherte auf Anweisung der Jugendanwaltschaft im Sinne einer jugendstrafrechtlichen Massnahme in der "X.________" aufhielt. Nach der Rechtsprechung besteht zwar kein Vorrang jugendstrafrechtlicher Massnahmen gegenüber solchen der Invalidenversicherung (BGE 114 V 31 Erw. 2b). Umgekehrt gibt es aber auch keine Priorität von Massnahmen der Invalidenversicherung gegenüber solchen der Jugendstrafrechtspflege. Soweit (stationäre) Massnahmen gemäss Art. 15 IVG nur ausnahmsweise, nämlich zur Sicherung der erstmaligen beruflichen Ausbildung im Sinne einer Überbrückung angezeigt sind, die Gefährdung aber durch bereits verfügte Massnahmen der Jugendstrafrechtspflege abgewendet werden kann, rechtfertigt sich die Anordnung solcher Massnahmen zu Lasten der Invalidenversicherung nicht. Die Sache ist somit an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie abkläre, ob auf Grund der Anordnung der Jugendanwaltschaft Y.________ die Kosten des Aufenthalts in der "X.________" vom 18. September 1999 bis 31. Juli 2000 nicht bereits gedeckt sind. 
3.2.4 Dasselbe gilt für die Zeit vom 30. August bis 17. September 1999, während welcher abgeklärt wurde, ob der Versicherte für den Beruf des Schreiners geeignet ist. Auch diese Leistung hat die Vorinstanz im Grundsatz zu Recht als Berufsberatung im Sinne von Art. 15 IVG bejaht; doch ist hier ebenfalls abzuklären, ob dieser Aufenthalt in der "X.________" nicht bereits durch die Kostengutsprache der Jugendanwaltschaft erfasst ist. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Juni 2001 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über die Beschwerde neu entscheide. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 21. August 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der I. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: