Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_210/2024
Urteil vom 22. Mai 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch,
Bundesrichter Kölz,
Gerichtsschreiber Hahn.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Krüger,
Beschwerdeführer,
gegen
Sicherheitsdirektion des Kantons Bern (SID), Kramgasse 20, 3011 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Aufschub des Strafvollzugs,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, vom 18. Januar 2024 (SK 23 362).
Sachverhalt:
A.
A.________ wurde mit Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 14. November 2019 wegen gewerbsmässigen Betrugs zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Bundesgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil 6B_595/2020 vom 8. April 2021 ab.
B.
B.a. Die Bewährungs- und Vollzugsdienste des Amts für Justizvollzug des Kantons Bern (BVD) hiessen ein erstes Gesuch von A.________ vom 10. Juni 2021 um Verschiebung des Strafantritts gut und verschoben den auf den 28. Juni 2021 vorgesehenen Strafantritt auf den 3. Januar 2022.
B.b. Das zweite Gesuch von A.________ vom 12. November 2021 um Verschiebung des Strafantritts wiesen die BVD am 29. November 2021 formlos ab. Auf Gesuch des Beschwerdeführers erliessen die BVD am 14. Dezember 2021 eine gleichlautende beschwerdefähige Verfügung. Die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde am 7. April 2022 ab. Das Obergericht des Kantons Bern wies die Beschwerde gegen den Entscheid der Sicherheitsdirektion am 15. August 2022 ab.
B.c. Die BVD boten A.________ am 10. Oktober 2022 per 14. November 2022 erneut zum Strafantritt auf. Sein erstes Gesuch vom 11. November 2022 um Verschiebung des Strafantritts hiessen die BVD mit Verfügung vom 24. Februar 2023 gut und verschoben den Strafantritt auf den 3. April 2023.
B.d. Am 30. März 2023 stellte A.________ erneut ein Gesuch um Aufschub des Strafantritts, welches die BVD mit Verfügung vom 4. April 2023 abwiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wies die Sicherheitsdirektion am 4. Juli 2023 ab. Das Obergericht des Kantons Bern wies die gegen den Entscheid der Sicherheitsdirektion erhobene Beschwerde 2023 mit Beschluss vom 18. Januar 2024 ab.
C.
Mit Eingabe vom 20. Februar 2024 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er beantragt, der Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern vom 18. Januar 2024 sei aufzuheben und der Vollzug der Strafe sei bis zum Wiedererlangen der Hafterstehungsfähigkeit aufzuschieben.
Das Obergericht des Kantons Bern hat mit Eingabe vom 26. Februar 2024 auf eine Stellungnahme zum Gesuch um aufschiebende Wirkung verzichtet und sich im Übrigen nicht zur Beschwerde geäussert. Die Sicherheitsdirektion hat mit Eingabe vom 1. März 2024 auf eine Stellungnahme verzichtet.
Mit Verfügung vom 7. März 2024 wies der Präsident der II. Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts das Gesuch um aufschiebende Wirkung einstweilen ab.
Die kantonalen Akten wurden beigezogen.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene kantonal letztinstanzliche Entscheid betrifft eine Frage des Strafvollzugs und kann somit mit Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (vgl. Art. 78 Abs. 2 lit. b, Art. 80 Abs.1 BGG ). Der Beschwerdeführer ist als verurteilte Person hierzu legitimiert ( Art. 81 Abs. 1 lit. a und b BGG ). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1. Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz gehe willkürlich von seiner Hafterstehungsfähigkeit aus. Sie verletze ausserdem seinen Anspruch auf rechtliches Gehör zufolge antizipierter Beweiswürdigung, indem sie ungeachtet seines Antrages kein Gutachten zur Frage der Hafterstehungsfähigkeit einhole. Soweit die Vorinstanz Zweifel am medizinischen Bericht des Hausarztes hege, hätte sie diesen durch eine Fachperson überprüfen lassen müssen. Sie verfüge diesbezüglich nicht über das nötige Fachwissen.
2.2.
2.2.1. Der Vollzug von Strafen und der Strafantritt richten sich nach kantonalem Recht (Art. 372 Abs. 1 StGB, Art. 439 Abs. 1 StPO). Auf das Verfahren ist gemäss Art. 53 des bernischen Gesetzes über den Justizvollzug vom 23. Januar 2018 (JVG/BE; BSG 341.1) das bernische Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 23. Mai 1989 (VRPG/BE; BSG 155.21) anwendbar.
Gemäss Art. 23 Abs. 1 der bernischen Verordnung über den Justizvollzug vom 22. August 2018 (Justizvollzugsverordnung (JVV/BE); BSG 341.11) sollen Freiheitsstrafen spätestens innert sechs Monaten seit Bestimmung der Vollzugsform angetreten werden. Aus wichtigen Gründen kann der Vollzug einer Freiheitsstrafe aufgeschoben oder unterbrochen werden (Art. 17 Abs. 1 JVG/BE). Als wichtige Gründe gelten gemäss Art. 17 Abs. 2 JVG/BE namentlich ausserordentliche persönliche, familiäre oder berufliche Verhältnisse (lit. a) sowie vollständige Hafterstehungsunfähigkeit (lit. b). Beim Entscheid sind die voraussichtliche Vollzugsdauer, die Entweichungs- und Wiederholungsgefahr sowie allfällige Beurteilungen von Sachverständigen zu berücksichtigen (Art. 17 Abs. 3 JVG/BE).
2.2.2. Bei der Beurteilung, ob eine verurteilte und zum Vollzug aufgebotene Person hafterstehungsfähig ist oder nicht, handelt es sich gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht um eine medizinische Diagnose, die einem Arzt obliegt, sondern um eine Rechtsfrage, die auf einer Rechtsgüterabwägung von medizinischen Faktoren einerseits und dem Straf-, Behandlungs- sowie Sicherheitsanspruch des Staats andererseits fusst. Die Beurteilung dieser Rechtsfrage obliegt nicht einem Arzt sondern der zuständigen (Gerichts-) Behörde (siehe MARC GRAF/BENJAMIN BRÄGGER, in: Das schweizerische Vollzugslexikon, 2. Aufl. 2022, S. 308; vgl. auch 7B_932/2023 vom 10. Januar 2024 E. 2.1.1).
Nach der Rechtsprechung schränken das öffentliche Interesse am Vollzug rechtskräftig verhängter Strafen und der Gleichheitssatz den Ermessensspielraum der Vollzugsbehörde hinsichtlich einer Verschiebung des Strafvollzugs erheblich ein. Der Strafvollzug bedeutet für die betroffene Person immer ein Übel, das von den einen besser, von den anderen weniger gut ertragen wird. Die blosse Möglichkeit, dass Leben oder Gesundheit der verurteilten Person gefährdet sein könnten, genügt nicht für einen Strafaufschub auf unbestimmte Zeit. Verlangt wird, dass mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, der Strafvollzug gefährde Leben oder Gesundheit der betroffenen Person. Selbst in diesem Fall ist eine Abwägung von öffentlichen und privaten Interessen vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten auch die Art und Schwere der begangenen Tat und die Dauer der Strafe zu berücksichtigen sind (BGE 108 Ia 69 E. 2b f.; Urteil 7B_932/2023 vom 10. Januar 2024 E. 2.2.1 mit Hinweisen). Im Lichte dieser Rechtsprechung und mit Blick auf die grundsätzlich gute medizinische Grundversorgung in Schweizer Haftanstalten sowie der Möglichkeit der Verlegung einer inhaftierten Person in eine medizinische Bewachungsstation oder eine forensisch psychiatrische Klinik ist von Hafterstehungsunfähigkeit nur in schwerwiegenden Fällen auszugehen (MARC GRAF/BENJAMIN BRÄGGER, a.a.O., S. 309; siehe auch Urteile 7B_932/2023 vom 10. Januar 2024 E. 2.2.1, 6B_683/2022 vom 24. August 2022 E. 1.1.1, wonach die Hafterstehungsfähigkeit selbst bei erheblicher Selbstmordgefahr in der Regel zu bejahen ist).
2.2.3. Das Bundesgericht überprüft die Anwendung kantonalen Rechts, von hier nicht relevanten Ausnahmen abgesehen, nur auf Willkür (vgl. Art. 95 BGG; BGE 141 IV 305 E. 1.2 mit Hinweisen). Die Feststellung des Sachverhalts kann vor Bundesgericht ebenfalls nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig und damit willkürlich ist (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 143 IV 241 E. 2.3.1; 143 I 310 E. 2.2; je mit Hinweis). Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten und von kantonalem Recht gilt sodann eine qualifizierte Rügepflicht. Das Bundesgericht prüft Rügen nur insofern, als sie in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden sind (Art. 106 Abs. 2 BGG).
2.3. Entgegen der Kritik des Beschwerdeführers geben die vorinstanzlichen Erwägungen zur Frage der Hafterstehungsfähigkeit keinen Anlass zur Kritik. Die Vorinstanz geht richtig davon aus, dass die vorhandenen Arztberichte bloss eine Entscheidhilfe für die Beurteilung dieser Frage sind (siehe E. 2.2.2 hiervor). In ihre Würdigung bezieht sie die Berichte von Dr. med. B.________ vom 10. Januar 2023, von Dr. med. C.________ vom 13. Februar 2023 sowie das ärztliche Attest von Dr. med. D.________ vom 29. März 2023 ein. Demnach leidet der mittlerweile 74-jährige Beschwerdeführer an einer Spinalkanalstenose, chronischen Rückenschmerzen bei Radikulopathie, Diabetes mellitus Typ 2 und COPD, wobei er lediglich seine Rückenbeschwerden als Grund für den Antrag auf Aufschub des Strafantritts vorgebracht habe. Er habe sich am 14. November 2022 einer Rückenoperation unterzogen, befinde sich noch in Rehabilitation, benötige Physiotherapie und müsse Heimübungen ausführen. Aus dem letztgenannten Attest ergebe sich namentlich, dass eine gewisse Verbesserung der Beschwerden seit der Operation eingetreten sei, der Beschwerdeführer aber im Alltag immer noch erheblich eingeschränkt sei und unter Schmerzen leide. Er benötige Unterstützung bei der Körperpflege und beim Sitzen. Es sei von einer Verbesserung der Beschwerden im Verlaufe der Zeit auszugehen, wobei der Zeithorizont nicht abgeschätzt werden könne. Jedenfalls sei aufgrund der vorhandenen Berichte eine weitere Verbesserung zu erwarten. In diese Richtung weise auch die E-Mail von Dr. med. C.________ vom 27. Februar 2023, wonach der Beschwerdeführer sich selbständig bewegen könne, auf keine Hilfsmittel angewiesen sei und in zwei Monaten keine Behinderung mehr haben bzw. werde Treppen steigen können.
Nach den vorinstanzlichen Erwägungen gefährdet der Strafvollzug aufgrund der dargelegten Umstände weder das Leben noch die Gesundheit des Beschwerdeführers ernsthaft. Auch wenn seine postoperative Rehabilitation noch nicht abgeschlossen sei, so könnten Pflege und Heilung im Rahmen des Strafvollzuges erfolgen. Die Vollzugseinrichtungen seien verpflichtet, für eine ausreichende medizinische Versorgung zu sorgen. Insbesondere könne er die Physiotherapie sowie die notwendigen Eigenübungen auch im Strafvollzug fortführen. Andere medizinische Massnahmen gingen nicht aus den Arztberichten oder den Angaben des Beschwerdeführers hervor. Erforderlichenfalls könne er von der Pflicht zur Arbeitsleistung befreit oder gar bei einer Verschlechterung seines Zustands der Vollzug unterbrochen werden. Insgesamt ist aus Sicht der Vorinstanz die Hafterstehungsfähigkeit zu bejahen.
2.4. Die Vorinstanz erkennt sodann zutreffenderweise weder eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes, noch des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Sie stützt sich in ihren Erwägungen auf Ziff. 3.2.1 der Richtlinie der Konkordatskonferenz des Strafvollzugskonkordats der Nordwest- und Innerschweizer Kantone betreffend die Hafterstehungsfähigkeit vom 25. November 2016 (SSED 17ter.0). Daraus leitet sie ab, ein Anspruch auf ein Gutachten bestehe nur dann, wenn sich die Verhältnisse nicht anders schlüssig erklären liessen. Vorliegend reichten die vom Beschwerdeführer eingereichten ärztlichen Berichte zusammen mit den Angaben des Beschwerdeführers zur Beurteilung aus. Diese liessen insgesamt auf eine deutlich positive Prognose schliessen, auch wenn die Rehabilitation langsamer als erwartet voranschreite und nicht abgeschlossen sei. Diesen Erwägungen gibt es nichts beizufügen. Die Vorinstanz durfte in antizipierter Beweiswürdigung davon ausgehen, ein Gutachten ändere nichts an ihrer Einschätzung betreffend Hafterstehungsfähigkeit. In diesem Zusammenhang verletzt es auch das Willkürverbot nicht, wenn die Vorinstanz davon ausgeht, es wäre dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Mitwirkungspflicht nach Art. 20 Abs. 1 VRPG frei gestanden, aktuellere Unterlagen zu seinem Gesundheitszustand einzureichen, um ihre Einschätzung, die sich aus den vorhandenen ärztlichen Unterlagen ergibt, umzustossen.
2.5. Sodann nimmt die Vorinstanz eine gut begründete Interessenabwägung vor. Sie führt ins Feld, dass die zu vollziehende Strafe bereits über zwei Jahre rechtskräftig und damit die Grenze von sechs Monaten bis zum Vollzugsantritt nach Art. 23 Abs. 1 JVV/BE längstens überschritten sei. Weiter habe der Beschwerdeführer eine enorme kriminelle Energie an den Tag gelegt und sei mit der hohen Strafe von fünf Jahren Freiheitsstrafe belegt worden. Die öffentliche Sicherheit überwiege das private Interesse des Beschwerdeführers. Seinen gesundheitlichen Problemen könne im Strafvollzug begegnet werden (siehe angefochtener Beschluss S. 17). Darin ist mit Blick auf die genannten Grundsätze (siehe E. 2.2.2 hiervor) keine Bundesrechtsverletzung zu erblicken.
3.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen. Der unterliegende Beschwerdeführer wird bei diesem Verfahrensausgang kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, und der Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Mai 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Hahn