Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_998/2021
Urteil vom 22. Juni 2022
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
Bundesrichter Rüedi,
Bundesrichter Muschietti,
Bundesrichterin van de Graaf,
Bundesrichter Hurni,
Gerichtsschreiber Matt.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Pascale Hollinger-Bieri,
Beschwerdeführer,
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, 2. Strafkammer, vom 6. Juli 2021 (SK 21 133).
Sachverhalt:
A.
Am 24. Februar 2021 verurteilte das Regionalgericht Bern-Mittelland A.________ in Abwesenheit wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung und Angriffs zu einer Freiheitsstrafe von 41 Monaten. Gegen dieses Urteil erhoben die Verteidigung Berufung und die Generalstaatsanwaltschaft Anschlussberufung beim Obergericht des Kantons Bern.
Mit Verfügung vom 19. Mai 2021 stellte die Verfahrensleitung fest, dass A.________ unbekannten Aufenthalts sei und voraussichtlich nicht zur Berufungsverhandlung vorgeladen werden könne, obwohl er zwingend zur Person und zur Sache zu befragen sei. Sie gab der Verteidigung und der Generalstaatsanwaltschaft Gelegenheit zur Stellungnahme, ob ein Rückzug der Berufung im Sinne von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO vorliegt.
Mit Beschluss vom 6. Juli 2021 schrieb das Obergericht das Verfahren wegen Rückzugs der Berufung und Dahinfallens der Anschlussberufung als erledigt ab.
B.
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, der obergerichtliche Beschluss vom 6. Juli 2021 sei aufzuheben und das Obergericht sei anzuweisen, auf die Berufung sowie die Anschlussberufung einzutreten und zur Berufungsverhandlung vorzuladen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO zu Unrecht angewendet.
1.1. Die Säumnis der Parteien ist im Berufungsverfahren anders geregelt als im erstinstanzlichen Verfahren. Dies entspricht dem Umstand, dass das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien unterliegt.
Gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gilt die Berufung oder Anschlussberufung als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann.
1.2. Die Vorschriften über die Eröffnung und Zustellung (Art. 84 ff. StPO) gelten auch im Rechtsmittelverfahren (Urteile 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.4.2; 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.2).
Vorladungen ergehen grundsätzlich schriftlich (Art. 201 Abs. 1 StPO; vgl. auch Art. 85 Abs. 1 StPO). Die Zustellung erfolgt durch eingeschriebene Postsendung oder auf andere Weise gegen Empfangsbestätigung, insbesondere durch die Polizei (Art. 85 Abs. 2 StPO; vgl. zur elektronischen Zustellung: Art. 86 StPO).
Mitteilungen sind den Adressatinnen und Adressaten an ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort oder an ihren Sitz zuzustellen (Art. 87 Abs. 1 StPO). Parteien und Rechtsbeistände mit Wohnsitz, gewöhnlichem Aufenthaltsort oder Sitz im Ausland haben in der Schweiz ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen; vorbehalten bleiben staatsvertragliche Vereinbarungen, wonach Mitteilungen direkt zugestellt werden können (Art. 87 Abs. 2 StPO). Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, werden rechtsgültig an diesen zugestellt (Art. 87 Abs. 3 StPO). Hat eine Partei persönlich zu einer Verhandlung zu erscheinen oder Verfahrenshandlungen selbst vorzunehmen, so wird ihr die Mitteilung direkt zugestellt. Dem Rechtsbeistand wird eine Kopie zugestellt (Art. 87 Abs. 4 StPO).
Es obliegt den Behörden zu beweisen, dass sie alle notwendigen Anstrengungen unternommen haben, um die Adresse der beschuldigten Person herauszufinden (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.2). Ungenügend ist die Ersatzzustellung an die letzte bekannte Adresse, wie sie gewisse kantonale Strafprozessordnungen früher erlaubten (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3).
Gemäss Art. 88 Abs. 1 lit. a StPO erfolgt die Zustellung durch Veröffentlichung in dem durch den Bund oder den Kanton bezeichneten Amtsblatt, wenn der Aufenthaltsort der Adressatin oder des Adressaten unbekannt ist und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelt werden kann. Als zumutbare geeignete Nachforschungen hat die Behörde insbesondere bei der letzten bekannten Adresse, der zuletzt zuständigen Poststelle, bei Einwohnerregistern, Nachbarn oder den nächsten Angehörigen nachzufragen. Gegebenenfalls ist die Polizei für einen zweiten Zustellversuch beizuziehen (Urteil 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.4.3).
1.3. Das Bundesgericht hat sich noch nie vertieft mit Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO auseinandergesetzt. In den Urteilen 6B_876/2013 vom 6. März 2014 E. 2.4.2 und 6B_652/2013 vom 26. November 2013 E. 1.5 streifte es die Bestimmung nur am Rand und erklärte, dass die Vorladung zur Berufungsverhandlung im Amtsblatt hätte veröffentlicht werden müssen, nachdem der Aufenthaltsort der beschuldigten Person nicht in Erfahrung gebracht werden konnte.
Demgegenüber liegen verschiedene kantonale Urteile vor (vgl. Entscheid des Obergerichts des Kantons Obwalden AS 14/002 und AS 14/006 vom 9. Januar 2015, in: CAN 2015 Nr. 44 S. 123 ff. mit Bemerkungen von Stefan Keller; Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau SST.2015.147 vom 20. August 2015, in: CAN 2016 Nr. 46 S. 127 ff.; Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern SK 17 138-141 vom 23. Februar 2018; in: CAN 2018 Nr. 39 S. 120 ff.; Entscheid des Kantonsgerichts Wallis TCV P1 17 49 vom 8. Januar 2019, in: ZWR 2019 S. 221 ff.; Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen ST.2016.7 vom 2. Juli 2019, in: SJZ 116/2020 S. 507 ff.; vgl. ferner Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt SB.2014.25 vom 11. September 2015; Entscheid des Kantonsgerichts Jura vom 10. August 2017; Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern SK 17 192 vom 5. Februar 2018; Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz STK 2017 60 vom 3. Juli 2018; Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz STK 2018 10 vom 13. September 2018; Entscheid des Kantonsgerichts Schwyz STK 2019 12 vom 1. Juli 2019).
1.4.
1.4.1. Der Beschwerdeführer wirft der Vorinstanz vor, sie zeige nicht auf, dass sie sich genügend angestrengt habe, seinen Aufenthaltsort herauszufinden. Die Rückfrage bei den Migrationsbehörden, welche bestätigten, dass er sich abgemeldet habe, reiche nicht aus. Er sei Staatsangehöriger U.________, weshalb es der Vorinstanz zumutbar gewesen wäre, zum Beispiel über den Schengen-Informationsaustausch nach seinem Aufenthalt zu forschen.
1.4.2. Nach den unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz gab das Amt für Bevölkerung und Migration des Kantons Freiburg zur Auskunft, dass sich der Beschwerdeführer per 3. Dezember 2020 nach U.________ abgemeldet hat. Ebenso unbestritten ist die vorinstanzliche Feststellung, dass die Verteidigung bereits vor Erstinstanz erklärt hatte, der Beschwerdeführer sei nicht bereit, seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. Deshalb ersuchte die Verteidigung auch darum, dass der Beschwerdeführer von der erstinstanzlichen Hauptverhandlung dispensiert wird, welchem Gesuch die Verfahrensleitung entsprach. Die Verteidigung selbst hatte bloss eine E-Mail-Adresse des Beschwerdeführers.
1.4.3. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, erübrigte sich eine rechtshilfeweise Zustellung, da nicht einmal das damalige Aufenthaltsland des Beschwerdeführers bekannt war. Die Verteidigung führte vor der Vorinstanz sinngemäss aus, aus ihrem E-Mail-Kontakt mit dem Beschwerdeführer gehe hervor, dass er ein Interesse am Berufungsverfahren habe. Dabei übergeht sie, dass es dem Beschwerdeführer ohne weiteres möglich gewesen wäre, der Vorinstanz über seine Verteidigung auszurichten, unter welcher Adresse er zur Berufungsverhandlung hätte vorgeladen werden können. Dies lehnte er aber ausdrücklich ab. Wenn seine Verteidigung der Vorinstanz nun vorwirft, sie habe nicht alles unternommen, um seinen Aufenthaltsort herauszufinden, dann übersieht sie, dass den Beschwerdeführer diesbezüglich eine Mitwirkungspflicht traf.
1.5.
1.5.1. Der Beschwerdeführer verweist auf die Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts (Botschaft StPO, BBl 2006 1085 ff., S. 1317). Dort steht zu Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO, der Säumnis gleichgestellt sei der Fall, dass die betreffende Partei nicht vorgeladen werden konnte, weil sie es unterlassen habe, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen. Der Beschwerdeführer verweist ferner auf Art. 87 Abs. 3 StPO, wonach Mitteilungen an Parteien, die einen Rechtsbeistand bestellt haben, rechtsgültig an diesen zugestellt werden. Daraus leitet er ab, dass Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO nie zur Anwendung gelangen kann, wenn ein Rechtsbeistand bestellt ist. Denn dann könne nicht gesagt werden, dass die betreffende Partei es unterlassen habe, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen.
1.5.2. Der Beschwerdeführer übersieht Art. 87 Abs. 4 StPO, der dem Art. 87 Abs. 3 StPO als
lex specialis vorgeht.
Wie die Vorinstanz zutreffend erwägt, war eine schriftliche Durchführung des Berufungsverfahrens ausgeschlossen. Denn offensichtlich lag kein Anwendungsfall gemäss Art. 406 Abs. 1 und 2 StPO vor. Folglich hatte der Beschwerdeführer persönlich zur Berufungsverhandlung zu erscheinen. Für diesen Fall schreibt Art. 87 Abs. 4 StPO vor, dass ihm die Vorladung direkt zugestellt wird, während sein Rechtsbeistand eine Kopie erhält (vgl. dazu BGE 144 IV 64 E. 2.5 S. 67). Daher konnte die Vorladung nicht rechtsgültig an die Adresse der Verteidigung zugestellt werden.
Daran ändert nichts, dass in der Botschaft StPO steht, Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO beschlage den Fall, in dem die betreffende Partei nicht vorgeladen werden konnte, weil sie es unterlassen habe, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen. Damit kann nur ein Zustellungsdomizil gemeint sein, das eine rechtsgültige Zustellung erlaubt. Nachdem der Beschwerdeführer gegenüber der Vorinstanz zu keinem Zeitpunkt im Verfahren die Adresse seiner Verteidigung als Zustelldomizil bezeichnet hatte, konnte und durfte seine (persönliche) Vorladung nicht an deren Adresse zugestellt werden.
1.6.
1.6.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz hätte zunächst versuchen müssen, ihm die Vorladung an seinen letzten bekannten Aufenthalt persönlich zuzustellen. Wäre an dieser Adresse eine Zustellung nicht möglich gewesen und der neue Aufenthaltsort trotz zumutbarer Nachforschungen nicht zu ermitteln gewesen, hätte nach seiner Meinung die Zustellung ersatzweise durch Veröffentlichung im kantonalen Amtsblatt erfolgen müssen (Art. 88 Abs. 1 StPO).
1.6.2. Es ist davon auszugehen, dass jede Norm in der Strafprozessordnung eine eigenständige Bedeutung hat, denn andernfalls hätte sie der Gesetzgeber nicht erlassen.
Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stellt eine Spezialbestimmung für das Rechtsmittelverfahren dar, die Art. 88 Abs. 1 StPO verdrängt. Andernfalls bliebe Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO stets toter Buchstabe, da eine Vorladung grundsätzlich immer durch öffentliche Bekanntmachung gemäss Art. 88 Abs. 1 StPO publiziert werden kann.
Auf der anderen Seite entleert diese Auslegung Art. 88 Abs. 1 StPO nicht seines Sinns. Denn alle anderen Verfahrensarten sind von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO nicht betroffen. Zudem beschlägt Art. 88 Abs. 1 StPO nicht nur Vorladungen, womit eine Vielzahl von Anwendungsfällen für diese Bestimmung verbleiben.
Nach dem Gesagten ist im Berufungsverfahren keine Publikation der Vorladung erforderlich. Wenn die Partei, welche Berufung erklärt hat, nicht vorgeladen werden kann, dann tritt die Rückzugsfiktion nach dem klaren Wortlaut von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sofort ein. Dies gilt für sämtliche Konstellationen, die in Art. 88 Abs. 1 StPO beschrieben werden.
1.7.
1.7.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich an der mündlichen Berufungsverhandlung durch seine Verteidigung vertreten lassen.
1.7.2. Gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO gilt die Berufung oder Anschlussberufung als zurückgezogen, wenn die Partei, die sie erklärt hat, der mündlichen Berufungsverhandlung unentschuldigt fernbleibt und sich auch nicht vertreten lässt. Der Beschwerdeführer scheint daraus abzuleiten, dass die Rückzugsfiktion nicht greifen kann, wenn an der Berufungsverhandlung eine Vertretung erscheint.
Dabei übersieht er, dass Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO denklogisch erst ins Spiel kommt, wenn die Partei gültig vorgeladen werden konnte. In diesem Sinne ist Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO dem Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO zeitlich vorgelagert. Andernfalls hätte die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gar keinen eigenständigen Anwendungsbereich, was nicht dem Sinn und Zweck der Bestimmung entsprechen kann.
In diesem Zusammenhang trägt der Beschwerdeführer vor, er hätte eine fiktive Adresse angeben und an der Berufungsverhandlung nur seine Verteidigung auftreten lassen können. Dann wäre er angeblich besser gestellt gewesen, weil dann die Rückzugsfiktion gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO ausgeschlossen gewesen wäre. Dies sei stossend. Hier übersieht der Beschwerdeführer offensichtlich, dass die Vorladung an eine fiktive Adresse nicht rechtsgültig hätte zugestellt werden können, womit ebenfalls direkt die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO gegriffen hätte.
Fehl geht auch die Auffassung von Christen. Er vertritt die Ansicht, dass keine Säumnis der beschuldigten Person vorliege, wenn die Verteidigung vorgeladen werden könne. Sonst sei die beschuldigte Person besser gestellt, die auf Vorladung hin nicht erscheint und sich vertreten lässt, als jene, die nicht vorgeladen werden konnte und sich vertreten lässt. Eine solche Differenzierung dränge sich nicht auf. Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO sei demnach insofern zu ergänzen, als die beschuldigte Person nicht vorgeladen werden könne und sich auch nicht vertreten lasse (Stefan Christen, Anwesenheitsrecht im schweizerischen Strafprozessrecht mit einem Exkurs zur Vorladung, Diss. Zürich 2010, S. 238 f.; zustimmend: Christian Wyss, Ergreifung eines Rechtsmittels durch die [amtliche] Verteidigung bei Abwesenheit der beschuldigten Person im erstinstanzlichen Verfahren, in: Anwaltsrevue 2020, S. 88 ff., S. 91; vgl. auch Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt SB.2014.25 vom 11. September 2015). Die vorgenannten Autoren übersehen bei ihrer Auffassung zweierlei: Erstens ist die Rückzugsfiktion gesetzlich explizit vorgesehen und von einer Vertretung ist, anders als in Art. 407 Abs. 1 lit. a StPO, nicht die Rede. Zweitens erfolgt die Vorladung vor der Berufungsverhandlung. Mit anderen Worten kommt bei Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO zur Abwesenheit der beschuldigten Person an der Berufungsverhandlung erschwerend hinzu, dass sie nicht einmal gesetzmässig vorgeladen werden konnte - und dies meistens, weil sie es versäumte, für ein gültiges Zustelldomizil zu sorgen.
1.8.
1.8.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei in ständigem Kontakt mit der Verteidigung. Er habe dieser auch die Instruktion und Vollmacht zur Beschwerde in Strafsachen erteilt. Zurzeit halte er sich in einer bestimmten Stadt in seinem Heimatland V.________ auf. Als Musiker sei er oft unterwegs und habe keinen festen Wohnsitz.
1.8.2. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht nur soweit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG). Hierbei handelt es sich um unechte Noven. Echte Noven, das heisst Tatsachen, die sich zugetragen haben, nachdem vor der Vorinstanz keine neuen Tatsachen mehr vorgetragen werden durften, sind vor Bundesgericht unbeachtlich (BGE 139 III 120 E. 3.1.2; 135 I 221 E. 5.2.4; 133 IV 342 E. 2.1; je mit Hinweisen).
Soweit sich der Beschwerdeführer auf seinen aktuellen Aufenthalt beruft, ist er nicht zu hören. Denn hierbei handelt es sich um ein echtes Novum, das vor Bundesgericht von vornherein ausgeschlossen ist.
Der Beschwerdeführer präsentiert zudem einen teilweise geschwärzten Auszug seines E-Mail-Verkehrs mit der Verteidigung von Februar und März 2021 als Beweismittel. Dabei handelt es sich zwar um ein unechtes Novum, doch legt der Beschwerdeführer mit keinem Wort dar und ist nicht ersichtlich, inwiefern erst der angefochtene Beschluss Anlass zur Einreichung dieses Beweismittels gegeben haben soll.
1.9.
1.9.1. Der Beschwerdeführer trägt vor, es könne keine Rede davon sein, dass ein konkludenter Wille bestanden habe, nicht an den Verfahrenshandlungen teilzunehmen. Er sei mit der Verteidigung in Kontakt gestanden. Diese habe der Vorinstanz mitgeteilt, dass er an der Berufung festhalte und bereit sei, an der Berufungsverhandlung teilzunehmen. Dass der Verteidigung sein genauer Aufenthaltsort unbekannt gewesen sei, ändere an diesem Willen nichts.
1.9.2. Wie oben dargelegt wurde, greift die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO, weil der Beschwerdeführer nicht vorgeladen werden konnte.
Sodann ist ohne Belang, ob die Verteidigung Kontakt mit dem Beschwerdeführer hatte. Unerheblich ist auch, ob er tatsächlich den Willen hatte, am Berufungsverfahren teilzunehmen. Denn es liegt in der Natur der Rückzugsfiktion, dass sie ohne weiteres greift, wenn die Voraussetzungen dafür erfüllt sind. Dies war vorliegend der Fall.
Es reicht nicht aus, wenn die beschuldigte Person der Verteidigung nach Kenntnis des erstinstanzlichen Urteils mitteilt, dass sie damit nicht einverstanden ist. Vielmehr muss der Wille, dass eine Überprüfung durch das Berufungsgericht erfolgt, während des Rechtsmittelverfahrens fortlaufend gegeben sein. Durch den Umstand, dass keine Vorladung erfolgen kann, wird fingiert, dass kein Interesse vorhanden ist und dass die Berufung als zurückgezogen gilt. Entscheidend ist somit die ordnungsgemässe Zustellung der Vorladung an die beschuldigte Person. Das Berufungsverfahren unterscheidet sich wesentlich vom erstinstanzlichen Verfahren, das vornehmlich auf ein materielles Urteil ausgerichtet ist. Dagegen unterliegt das Rechtsmittelverfahren weitgehend der Disposition der Parteien (vgl. dazu oben E. 1.1). So erlaubt Art. 386 StPO auch den Verzicht (Abs. 1) auf und den Rückzug (Art. 2) von Rechtsmitteln.
1.10.
1.10.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Anwendung der Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO verstosse gegen die Rechtsweggarantie.
1.10.2. Gemäss Art. 32 Abs. 3 BV hat jede strafrechtlich verurteilte Person das Recht, das Urteil von einem höheren Gericht überprüfen zu lassen. Ein analoger Anspruch ergibt sich auch aus dem Völkerrecht (Art. 2 Ziff. 1 des Protokolls Nr. 7 vom 22. November 1984 zur EMRK [Prot. Nr. 7 EMRK; SR 0.101.07]; Art. 14 Ziff. 5 UNO-Pakt II [SR 0.103.2]). Jede beschuldigte Person muss die Möglichkeit haben, die ihr zustehenden Verteidigungsrechte geltend zu machen (Art. 32 Abs. 2 Satz 2 BV). Insbesondere besteht gestützt auf Art. 32 Abs. 2 BV ein Anspruch der beschuldigten Person, dass ihre Verteidigung an der Haupt- bzw. Berufungsverhandlung teilnehmen kann (BGE 133 I 12 E. 5 mit zahlreichen Hinweisen).
1.10.3. Der Beschwerdeführer behauptet vergeblich, dass er mit seiner Rechtsvertretung in Kontakt stand und die Vorladung auch dieser hätte zugestellt werden können. Denn eine rechtsgültige Zustellung der Vorladung war nicht möglich, weil der Beschwerdeführer der Vorinstanz seinen Aufenthaltsort nicht preisgeben wollte. Dies wurde oben bereits dargelegt. Entgegen den anderslautenden Ausführungen des Beschwerdeführers bestanden keine alternativen Möglichkeiten der Zustellung. Eine rechtshilfeweise Zustellung war nicht möglich (vgl. E. 1.4.3 hiervor) und eine öffentliche Bekanntmachung nicht angezeigt (vgl. E. 1.6.2 hiervor).
Kann aber im Berufungsverfahren der Berufungs- oder Anschlussberufungskläger nicht vorgeladen werden, dann greifen die spezifischen Säumnisfolgen von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO und die Berufung oder Anschlussberufung gilt als zurückgezogen. Diese Strenge ist gerechtfertigt. Denn die Partei, die mit dem erstinstanzlichen Urteil nicht einverstanden ist und daher Berufung eingelegt hat, muss ihren Standpunkt im Berufungsverfahren darlegen und sich auch vom Berufungsgericht befragen lassen.
Das Verhalten des Beschwerdeführers verdient keinen Rechtsschutz, weil es widersprüchlich ist und gegen Treu und Glauben verstösst. Der Beschwerdeführer kann nicht die Durchführung eines Berufungsverfahrens verlangen und gleichzeitig die Mitwirkung daran ablehnen. Dies hat er aber getan, indem er die Angabe seines Aufenthaltsorts verweigerte und auf diese Weise eine rechtsgültige Zustellung seiner Vorladung an die Berufungsverhandlung vereitelte.
Die Rückzugsfiktion gemäss Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO widerspricht den angerufenen Verfahrensgarantien nicht.
1.11. Die vorliegende Auslegung von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO steht im Einklang mit der bisherigen kantonalen Rechtsprechung. Zahlreiche obere kantonale Gerichte argumentierten in diversen Entscheiden in diesem Sinne (vgl. beispielsweise Entscheid des Obergerichts des Kantons Obwalden AS 14/002 und AS 14/006 vom 9. Januar 2015, in: CAN 2015 Nr. 44 S. 123 ff. mit Bemerkungen von Stefan Keller; Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau SST.2015.147 vom 20. August 2015, in: CAN 2016 Nr. 46 S. 127 ff.; Entscheid des Obergerichts des Kantons Bern SK 17 138-141 vom 23. Februar 2018, in: CAN 2018 Nr. 39 S. 120 ff.; Entscheid des Kantonsgerichts Wallis TCV P1 17 49 vom 8. Januar 2019, in: ZWR 2019 S. 221 ff.; Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen ST.2016.7 vom 2. Juli 2019, in: SJZ 116/2020 S. 507 ff.; abweichend: Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt SB.2014.25 vom 11. September 2015).
1.12. Die Anwendung der Rückzugsfiktion verstösst auch nicht gegen den Anspruch auf ein faires Verfahren. Namentlich hindert die EMRK eine beschuldigte Person nicht daran, aus freien Stücken auf die Garantien eines fairen Verfahrens, insbesondere auf ihr Recht auf ein kontradiktorisches Verfahren, ausdrücklich oder stillschweigend zu verzichten. Verlangt wird nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), dass der Verzicht unzweideutig zum Ausdruck kommt und von einem Mindestmass an Garantien, die seiner Bedeutung gerecht werden, begleitet wird. Dies setzt voraus, dass die beschuldigte Person von der gegen sie erhobenen Anklage und vom Verhandlungstermin wusste und die Folgen eines Verzichts vorhersehen konnte. Dem Verzicht dürfen ferner keine wesentlichen Allgemeininteressen entgegenstehen (vgl. Urteil des EGMR
Sejdovic gegen Italien vom 1. März 2006, Nr. 56581/00, § 86 ff. und 98 ff.; Urteile 6B_453/2020 vom 23. September 2020 E. 2.3.3; 6B_562/2019 vom 27. November 2019 E. 1.1.3; 6B_203/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.2.2; MEYER-LADEWIG/HARRENDORF/KÖNIG, in: Handkommentar, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2017, N. 123 f. zu Art. 6 EMRK; MAYER, in: Karpenstein/Mayer, EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2022, N. 122 ff. zu Art. 6 EMRK). Allein deshalb, weil sie bei der Verhandlung nicht anwesend ist, verliert die beschuldigte Person ausserdem nicht das Recht, sich von einem Anwalt verteidigen zu lassen, und es ist Aufgabe des Gerichts, sicherzustellen, dass die Verteidigung diese Aufgabe in einem Abwesenheitsverfahren effektiv wahrnehmen kann (vgl. Urteil des EGMR
Sejdovic gegen Italien, a.a.O., § 91 ff.; Urteile 6B_453/2020 vom 23. September 2020 E. 2.3.3; 6B_562/2019 vom 27. November 2019 E. 1.1.3; 6B_203/2016 vom 14. Dezember 2016 E. 2.2.2).
Der Beschwerdeführer war über die gegen ihn erhobenen Anklagevorwürfe im Bild (Art. 6 Ziff. 3 lit. a EMRK). Wie aus der Prozessgeschichte geschlossen werden darf, hatte er jedoch nicht die Absicht, an einer der Verhandlungen vor den Vorinstanzen teilzunehmen. Er hatte die Schweiz bereits vor der erstinstanzlichen Hauptverhandlung ohne Angabe seines Aufenthaltsorts verlassen und war von der Teilnahme dispensiert worden. Er war aber erstinstanzlich von seiner amtlichen Verteidigerin vertreten, welche mithin seine Rechte gebührend wahren konnte. Der Beschwerdeführer hat zudem weder ein Zustelldomizil benannt noch darlegen lassen, dass und weshalb er seinen Wohnsitz nicht bekannt geben wollte oder konnte, etwa, weil er keinen festen Wohnsitz hat. Der Beschwerdeführer hätte mithin ohne Weiteres die Möglichkeit gehabt, die Rechtmässigkeit des erstinstanzlichen Urteils von einer Berufungsinstanz überprüfen zu lassen und, wenn er dies gewollt hätte, seine Argumente persönlich vorzutragen. Dies hat er jedoch nicht getan. Sein gesamtes Verhalten lässt unzweideutig auf einen konkludenten Verzicht auf ein kontradiktorisches Verfahren und insbesondere auf eine Beurteilung durch ein Berufungsgericht schliessen. Die Folgen des dargestellten Verzichts waren für den anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer zudem voraussehbar. Letztlich hat er es somit selbst zu verantworten, dass keine Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils stattfand. Solches ist auch nicht zwingend erforderlich, zumal das Berufungsverfahren weitgehend in der Disposition der Parteien liegt. Ausserdem war die Verteidigerin bei der erstinstanzlichen Verhandlung anwesend und konnte die Rechte des Beschwerdeführers wahren. Somit ist das Verfahren insgesamt als fair anzusehen (siehe zum Ganzen Urteile des EGMR
Chong Coronado gegen Andorra vom 23. Juli 2020, Nr. 37368/15, § 42 f.;
Medenica gegen die Schweiz vom 14. Juni 2001, Nr. 20491/92, § 55 ff.; zum Ganzen: Urteil 6B_45/2021 vom 27. April 2022 E. 1.6). Die von der Vorinstanz angenommene Rückzugsfiktion steht im Einklang mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK.
1.13. Für den vorliegenden Fall bedeutet das Gesagte, dass die Vorinstanz zu Recht annimmt, die Berufung des Beschwerdeführers gelte als zurückgezogen im Sinne von Art. 407 Abs. 1 lit. c StPO. Damit fiel gemäss Art. 401 Abs. 3 StPO auch die Anschlussberufung der Generalstaatsanwaltschaft dahin und das Verfahren war als erledigt abzuschreiben.
2.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gutzuheissen, da die Beschwerde eine Rechtsfrage beschlägt, die das Bundesgericht bislang noch nicht entschieden hatte, und daher nicht von vornherein aussichtslos war. Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers scheint erstellt ( Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Rechtsanwältin Pascale Hollinger-Bieri wird als unentgeltliche Rechtsvertreterin eingesetzt und für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Juni 2022
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
Der Gerichtsschreiber: Matt