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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_736/2010 
 
Urteil vom 22. Dezember 2010 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Frésard, Maillard, 
Gerichtsschreiber Holzer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, 
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Bruno Bauer, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen 
vom 16. August 2010. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Mit Verfügung vom 11. September 2009 sistierte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen die laufende Invalidenrente des 1975 geborenen A.________ rückwirkend ab dem 1. Mai 2009, da er sich seit jenem Datum in Untersuchungshaft befinde. 
 
B. 
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 16. August 2010 gut und verpflichtete die IV-Stelle unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung, dem Versicherten ab 1. Mai 2009 und für die Zeit, in der er sich in der Untersuchungshaft befinde, die Hälfte der Invalidenrente auszurichten. 
 
C. 
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle das Kantons St. Gallen, es sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides ihre Sistierungsverfügung vom 11. September 2009 zu bestätigen. 
Während A.________ und die Vorinstanz auf Abweisung der Beschwerde schliessen, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) auf eine Vernehmlassung. In prozessualer Hinsicht beantragt A.________ die unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254). 
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
Streitig und zu prüfen ist, ob die Invalidenrente des Versicherten in der Zeit, in der er sich in Untersuchungshaft befand, vollständig zu sistieren oder ob sie für diese Zeit lediglich hälftig auszuzahlen ist. 
 
3. 
Art. 21 ATSG bestimmt unter der Überschrift "Kürzung und Verweigerung von Leistungen" was folgt: 
"Hat die versicherte Person den Versicherungsfall vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert, so können ihr die Geldleistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder in schweren Fällen verweigert werden (Abs. 1). 
Geldleistungen für Angehörige oder Hinterlassene werden nur gekürzt oder verweigert, wenn diese den Versicherungsfall vorsätzlich oder bei vorsätzlicher Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt haben (Abs. 2). 
Soweit Sozialversicherungen mit Erwerbsersatzcharakter keine Geldleistungen für Angehörige vorsehen, kann höchstens die Hälfte der Geldleistungen nach Absatz 1 gekürzt werden. Für die andere Hälfte bleibt die Kürzung nach Absatz 2 vorbehalten (Abs. 3). 
(Abs. 4) 
Befindet sich die versicherte Person im Straf- oder Massnahmevollzug, so kann während dieser Zeit die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter ganz oder teilweise eingestellt werden; ausgenommen sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Absatz 3 (Abs. 5)." 
 
4. 
4.1 Rechtsprechungsgemäss ist Art. 21 Abs. 3 ATSG, welcher die Kürzung der Leistungen lediglich um die Hälfte vorsieht, auf die Renten der Invalidenversicherung nicht anwendbar (SVR 2010 IV Nr. 20 S. 61, 9C_256/2009). Das Bundesgericht hat in diesem Urteil erwogen, nach Art. 21 Abs. 3 Satz 1 ATSG sei diese lediglich hälftige Kürzung auf Leistungen von Sozialversicherungen mit Erwerbsersatzcharakter beschränkt, die keine Geldleistungen für Angehörige vorsehen. Dies treffe für die Invalidenversicherung auch nach dem Wegfall der Zusatzrenten für die Ehegatten mit Inkrafttreten der 5. IV-Revision am 1. Januar 2008 nicht zu. Denn nach Art. 35 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 IVG haben Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der AHV beanspruchen könnte, weiterhin Anspruch auf Kinderrenten in der Höhe von 40 % der entsprechenden Invalidenrente. Dabei handelt es sich um Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Art. 21 Abs. 3 Satz 1 ATSG (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 21 N. 50 und N. 57 f.). 
 
4.2 Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen besteht kein Anlass, auf diese erst kürzlich begründete Rechtsprechung zurückzukommen. Die Frage, ob Art. 21 Abs. 3 ATSG grundsätzlich auf Sistierungen im Rahmen von Art. 21 Abs. 5 ATSG anwendbar ist, wurde im erwähnten Urteil ausdrücklich offengelassen (SVR 2010 IV Nr. 20 S. 61, 9C_256/2009 E. 4), nachdem eine solche Anwendbarkeit - welche im Widerstreit zu Wortlaut und Systematik der Norm stehen würde - vom BSV bezweifelt wurde (erwähntes Urteil E. 3.2). Auch wenn die Empfehlung der ad-hoc-Kommission Schaden UVG Nr. 1/2004, zu der sich das Bundesgericht bis anhin nicht äussern musste, davon ausgeht, dass unfallversicherungsrechtliche Invalidenrenten bei Haft nicht vollständig zu sistieren sind, so kann doch nicht gesagt werden, Art. 21 Abs. 3 ATSG finde unbestrittenermassen auf nach Art. 21 Abs. 5 ATSG zu sistierende Renten der Unfallversicherung und der Militärversicherung Anwendung. Sinn der Sistierung der Rentenleistungen inhaftierter Personen ist es, diese nicht ungerechtfertigt gegenüber nicht invaliden Häftlingen zu privilegieren (vgl. Urteil 9C_20/2008 vom 21. August 2008 E. 4 mit weiteren Hinweisen und ERWIN MURER, Die Einstellung der Auszahlung von Invalidenrenten der Sozialversicherung während des Straf- und Massnahmevollzugs, in: FS Franz Riklin, Zürich 2007, S. 153 ff., S. 159). Solche verlieren in der Regel auch dann ihr Erwerbseinkommen, wenn sie für Angehörige zu sorgen haben. Es ist deshalb nicht einzusehen, weshalb Bezüger von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter in einigen Sozialversicherungen besser zu stellen wären als in anderen. Ob eine allenfalls abweichende Praxis in der Unfall- oder Militärversicherung bundesrechtskonform wäre, braucht indessen nicht weiter geprüft zu werden, da der Beschwerdeführer aus einer solchen ohnehin nichts zu seinen Gunsten ableiten könnte. Die Invalidenversicherung kennt im Unterschied zu den beiden anderen genannten Versicherungen nach wie vor nicht einstellbare Geldleistungen für Angehörige, weshalb der vorinstanzliche Hinweis auf das Gleichbehandlungsgebot von vornherein fehl geht. Somit stellt das vom kantonalen Gericht angeführte "systematische Auslegungselement" so wenig einen Grund dar, vom Wortlaut des Art. 21 Abs. 3 ATSG abzuweichen, wie die vorinstanzlichen Hinweise auf die Materialien, aus denen lediglich hervorgeht, dass die Kinderrenten (und, als es diese noch gab, die Zusatzrenten) nicht sistiert werden dürfen. 
 
4.3 Ist an der Rechtsprechung festzuhalten, dass Renten der Invalidenversicherung nicht unter den Tatbestand von Art. 21 Abs. 3 ATSG fallen, so ist die Rente des Versicherten nicht bloss um die Hälfte zu kürzen, sondern für die Dauer der Untersuchungshaft vollständig zu sistieren. Die Beschwerde der IV-Stelle ist demnach gutzuheissen und der kantonale Entscheid ist aufzuheben. 
 
5. 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 16. August 2010 aufgehoben. 
 
2. 
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4. 
Rechtsanwalt Bruno Bauer wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdegegners bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.- ausgerichtet. 
 
5. 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Entschädigungsfolgen des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen. 
 
6. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Schweizerischen Baumeisterverbandes und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 22. Dezember 2010 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Ursprung Holzer