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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
8C_695/2014  
   
   
 
 
 
Urteil vom 22. Dezember 2014  
 
I. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin, 
Bundesrichter Ursprung, Bundesrichter Maillard, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Josef Flury, Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern,  
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des 
Kantonsgerichts Luzern vom 19. August 2014. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Der 1960 geborene A.________ stammt aus dem Land B.________ und reiste am 22. Januar 2001 in die Schweiz ein. Am 12. Mai und 11. August 2009 meldete er sich bei der IV-Stelle des Kantons Luzern zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 11. August 2010 trat die IV-Stelle auf das Leistungsbegehren nicht ein, da er sich geweigert habe, an der medizinischen Abklärung teilzunehmen. Am 1. November 2010 meldete sich A.________ bei der IV-Stelle erneut zum Leistungsbezug an. Diese holte diverse Arztberichte und ein Gutachten des Psychiaters Dr. med. C.________ vom 13. Januar 2012 ein. Mit Verfügung vom 23. August 2012 verneinte sie den Rentenanspruch. 
 
B.   
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (heute: Kantonsgericht Luzern) mit Entscheid vom 31. Mai 2013 ab. 
 
C.  
 
C.a. Dagegen erhob A.________ beim Bundesgericht Beschwerde mit den Anträgen, in Aufhebung des kantonalen Entscheids sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen; diese sei zu verpflichten, ihm ab 2. April 2011 eine volle (wohl: ganze) IV-Rente zu bezahlen, eventuell den medizinischen Sachverhalt mittels interdisziplinärem Gutachten abzuklären; es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren; das bundesgerichtliche Verfahren sei zu sistieren, damit die Vorinstanz auf das Revisionsbegehren eintreten und dieses überprüfen könne. Diese Sache ist Gegenstand des Verfahrens 8C_519/2013.  
 
C.b. Während der Rechtshängigkeit dieser Beschwerde reichte A.________ bei der Vorinstanz am 6. September 2013 ein Revisionsgesuch gegen den Entscheid vom 31. Mai 2013 ein.  
 
C.c. Der Instruktionsrichter sistierte am 24. September 2013 das Beschwerdeverfahren gegen den Entscheid vom 31. Mai 2013 bis zum Abschluss des kantonalen Revisionsverfahrens.  
 
C.d. Die Vorinstanz wies das Revisionsgesuch vom 6. September 2013 mit Entscheid vom 19. August 2014 ab.  
 
C.e. Mit Beschwerde beantragt A.________, in Aufhebung des kantonalen Entscheids vom 19. August 2014 sei die Sache an die IV-Stelle (eventuell an die Vorinstanz) zurückzuweisen; die IV-Stelle sei zu verpflichten, den medizinischen Sachverhalt mittels interdisziplinärem Gutachten abzuklären; eventuell sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese zu verpflichten, den medizinischen Sachverhalt mittels interdisziplinärem Gutachten abzuklären; subeventuell sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm ab frühstmöglichem Zeitpunkt eine ganze Rente auszurichten; es sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren; das Verfahren 8C_519/2013 sei mit diesem Verfahren zu vereinigen.  
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Am 27. November 2014 reicht A.________ eine persönliche Erklärung zur Beschwerde ein. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Dieses Verfahren ist nicht mit dem Verfahren 8C_519/2013 zu vereinigen, weil sich nicht die gleichen Rechtsfragen stellen und die Rechtsmittel nicht den gleichen vorinstanzlichen Entscheid betreffen (nicht publ. E. 1.2 des Urteils BGE 139 V 519 mit Hinweis). Die Revision als ausserordentliches Rechtsmittel dient nicht einfach der Weiterführung des Verfahrens 8C_519/2013 (Urteil 8C_197/2013 vom 28. Mai 2013 E. 2.2). 
 
2.   
Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). 
 
3.   
Streitig und zu prüfen ist, ob der Revisionsgrund der Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel erfüllt ist. Nach Art. 61 lit. i ATSG in Verbindung mit § 175 des Gesetzes des Kantons Luzern vom 3. Juli 1972 über die Verwaltungsrechtspflege (VRG, SRL Nr. 40) muss die Revision von Entscheiden der kantonalen Versicherungsgerichte u.a. wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel gewährleistet sein. Neu sind Tatsachen, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, d.h. sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des zur Revision beantragten Entscheids zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer anderen Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht resp. die Verwaltung im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte (BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670; 127 V 353 E. 5b S. 358; SVR 2012 UV Nr. 17 S. 63 E. 7.1 [8C_434/2011]; SVR 2010 IV Nr. 55 E. 3.1 f.; Urteil 8C_523/2012 vom 7. November 2012 E. 3.1). 
 
4.  
 
4.1. Im Entscheid vom 31. Mai 2013 - dessen Revision der Beschwerdeführer verlangt - wurde im Wesentlichen erwogen, es bestünden keine medizinischen Akten betreffend den Beschwerdeführer vor seiner Einreise in die Schweiz im Jahre 2001. Gemäss dem Gutachten des Psychiaters Dr. med. C.________ vom 13. Januar 2012 sei davon auszugehen, dass beim Beschwerdeführer eine vollständige Invalidität bereits vor der Einreise in die Schweiz im Jahre 2001 bestanden habe. Der Versicherungsfall "Rente" sei somit zu einem Zeitpunkt eingetreten, bevor die Anspruchsvoraussetzung der Leistung von Beiträgen während mindestens eines volles Jahres (Art. 36 Abs. 1 IVG in der bis Ende 2007 gültig gewesenen, hier anwendbaren Fassung) nach Art. 6 Abs. 2 IVG habe erfüllt sein können. Der Rentenanspruch sei mithin unter dem formellen Gesichtspunkt der versicherungsmässigen Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 2 IVG zu verneinen. Ein Rentenanspruch wäre zu bejahen, wenn zur ursprünglichen, bei der Einreise in die Schweiz bestandenen gesundheitliche Beeinträchtigung eine davon völlig verschiedene Gesundheitsstörung hinzugetreten wäre und zu einer Erhöhung des Invaliditätsgrades geführt hätte; dies treffe nicht zu.  
 
 
4.2.  
 
4.2.1. Revisionsweise reichte der Beschwerdeführer bei der Vorinstanz neu folgende medizinische Unterlagen ein: einen Bericht des Psychiaters Dr. F.________ vom 30. Juni 2013, der im Wesentlichen ausführte, er habe ihn seit seinem Unfall vom 12. Juli 1992 bis 4. November 2000 mehrmals untersucht und keine psychiatrischen Symptome oder Störungen festgestellt; ein medizinisches Zertifikat des Dr. G.________, General and Plastic Surgeon, vom 2. November 2000, wonach der Beschwerdeführer an keinen übertragbaren und ansteckenden Krankheiten gelitten habe; er sei klinisch und radiologisch untersucht und es seien Laboruntersuchungen vorgenommen worden; er sei klinisch und physisch fit gewesen.  
 
4.2.2. Nach § 175 Abs. 3 VRG hat der Gesuchsteller glaubhaft zu machen, dass er trotz zumutbarer Sorgfalt nicht in der Lage war, die neuen Tatsachen oder Beweismittel im früheren Verfahren oder durch ein Rechtsmittel geltend zu machen, oder dass er dies aus entschuldbaren Gründen unterlassen hat.  
 
Der Beschwerdeführer beruft sich auf ein Schreiben seines Advokaten E.________ aus dem Land B.________ vom 30. Juni 2013, worin dieser ausführte, dass er medizinische Akten in den Archiven des Gesundheitsministeriums habe ausfindig machen können; um diese Akten zu erhalten, seien viele Prozesse zwischen 9. April 2012 und 30. Juni 2013 nötig gewesen; der Hintergrund sei, dass, falls betroffene Personen ihre medizinischen Unterlagen während zehn Jahren nicht benötigten, diese bei den Ärzten gelöscht und einzig im Archiv des Gesundheitsministeriums gesichert würden; die medizinischen Akten würden den Ärzten wiederum zur Verfügung gestellt, wenn eine betroffene Person danach ersuche; dieser Prozess betreffend Rückgabe der medizinischen Unterlagen an den Arzt benötigen eine Vielzahl von Prozessen, welche Regeln, Bedingungen und Gesetzen unterlägen. Aus diesem Schreiben kann der Beschwerdeführer indessen nichts zu seinen Gunsten ableiten. Denn damit wird nicht durch entsprechende Korrespondenz glaubhaft gemacht, ab wann welche konkreten Prozessschritte im Land B.________ unternommen wurden und wie lange sie dauerten. Diesbezüglich beinhaltet das Schreiben des Advokaten E.________ vom 30. Juni 2013 bloss eine pauschale und nicht substanziierte Behauptung. Hinzu kommt, dass Dr. F.________ im Bericht vom 30. Juni 2013 betreffend den Gesundheitsverlauf ab Juli 1992 bis November 2000 gar keine konkreten medizinischen Akten aus diesem Zeitraum anführte. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe dem Gutachter Dr. med. C.________ mitgeteilt, es sei ihm unmöglich, seine Gesundheitsakten aus dem Gesundheitsministerium im Land B.________ schneller zu beschaffen und aufzulegen, was dieser im Gutachten vom 13. Januar 2012 festgehalten habe. Abgesehen davon, dass sich in diesem Gutachten kein solcher Vermerk befindet, vermöchte ein solcher keinen Revisionsgrund zu begründen. 
 
Unter diesen Umständen kann nicht als glaubhaft gemacht gelten, dass es dem Beschwerdeführer trotz hinreichender Sorgfalt unmöglich war, die neuen Arztberichte (vgl. E. 5.2.1 hievor) noch vor dem vorinstanzlichen Entscheid vom 31. Mai 2013 einzureichen. 
 
4.3. Nicht revisionsrelevant ist die Behauptung des Beschwerdeführers, vor der aktenkundigen Beinoperation im Jahre 2008 habe er sich nirgends wegen Krankheiten oder Ähnlichem behandeln lassen müssen, weshalb die Behauptung der IV-Stelle, er sei schon sei seiner Einreise in die Schweiz psychisch krank gewesen, willkürlich sei. Dies hätte er nämlich schon im früheren Verfahren vorbringen können.  
 
4.4. Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine Bestätigung des Bundesamtes für Flüchtlinge vom 5. August 2004 und auf ein Schreiben der Caritas vom 9. Februar 2010 beruft, sind sie ebenfalls unerheblich, da sie sich schon im früheren Verfahren bei den IV-Akten befanden und damit nicht neu sind.  
 
4.5. Die Vernehmlassung der IV-Stelle wurde dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers am 29. Oktober 2014 zur Kenntnisnahme zugestellt; es wurde ihm eröffnet, dass allfällige Bemerkungen bis 10. November 2014 zu erfolgen hätten (zum Replikrecht vgl. BGE 139 I 189 E. 3.2 S. 191 und 138 I 484 E. 2.4 S. 487). Die persönliche Erklärung des Beschwerdeführers vom 27. November 2014 ist somit verspätet. Hievon abgesehen beinhaltet sie keine Aspekte, die zur Bejahung eines Revisionsgrundes führen.  
 
4.6. Nach dem Gesagten ist der angefochtene Entscheid nicht zu beanstanden.  
 
5.   
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihm gewährt werden (Art. 64 BGG). Er hat der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Josef Flury wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt. 
 
3.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen. 
 
4.   
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 22. Dezember 2014 
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Leuzinger 
 
Der Gerichtsschreiber: Jancar