Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1P.777/2005 /ggs
Urteil vom 23. Januar 2006
I. Öffentlichrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiber Kessler Coendet.
Parteien
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Walter Heuberger,
gegen
Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland, Hermann Götz-Strasse 24, Postfach, 8401 Winterthur,
Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, Hirschengraben 13, Postfach, 8023 Zürich.
Gegenstand
Art. 9 BV (Strafverfahren, Einhaltung der Einsprachefrist),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss
des Obergerichts des Kantons Zürich, III. Strafkammer, vom 15. Oktober 2005.
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland erliess gegen X.________ am 15. Juni 2005 einen Strafbefehl wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand (Übermüdung) und Verletzung von Verkehrsregeln. Sie belegte ihn in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 und Art. 91 Abs. 2 SVG mit einer Busse von Fr. 1'500.--. Der Strafbefehl wurde X.________ am 21. Juni 2005 zugestellt. Er wurde in diesem Entscheid darauf aufmerksam gemacht, dass er binnen 10 Tagen Einsprache erheben könne; diese habe schriftlich mit Angabe der Abänderungsanträge zu erfolgen.
B.
Mit Schreiben vom 30. Juni 2005 erhob der Rechtsvertreter des Gebüssten "vorsorglicherweise" Einsprache. Er ersuchte um stillschweigende Gewährung einer Frist von 14 Tagen für den Rückzug oder die Angabe von Abänderungsanträgen. Am 14. Juli 2005 teilte der Rechtsvertreter, unter Festhaltung an der Einsprache, einen Abänderungsantrag mit.
Die Einzelrichterin in Strafsachen des Bezirks Dielsdorf, der die Akten überwiesen worden waren, trat mit Verfügung vom 18. August 2005 auf die Einsprache wegen verspäteter Begründung nicht ein; demzufolge verweigerte sie die Zulassung des Strafbefehls als Anklage definitiv; dieser sei rechtskräftig geworden. Das Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, wies einen gegen diese Verfügung gerichteten Rekurs am 15. Oktober 2005 ab.
C.
Gegen den Beschluss des Obergerichts führt X.________ staatsrechtliche Beschwerde und beantragt dessen Aufhebung. Er rügt einen Verstoss gegen das Willkürverbot sowie gegen Treu und Glauben (Art. 9 BV).
Das Obergericht verzichtet auf eine Vernehmlassung. Der Leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland ersucht um Gutheissung der Beschwerde.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
Der angefochtene Entscheid ist letztinstanzlich und stützt sich auf kantonales Recht; gegen ihn steht von Bundesrechts wegen kein anderes Rechtsmittel offen als die staatsrechtliche Beschwerde (Art. 84 Abs. 2 und Art. 86 OG ). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, kann auf die Beschwerde - unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; vgl. BGE 131 I 377 E. 4.3 S. 385; 130 I 258 E. 1.3 S. 262; BGE 117 Ia 10 E. 4b S. 11 f.) - eingetreten werden.
2.
2.1 § 321 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) lautet in der Fassung vom 27. Januar 2003 wie folgt:
1 Binnen zehn Tagen nach der schriftlichen Mitteilung können der Bestrafte, der Leitende Staatsanwalt und der Geschädigte gegen den Strafbefehl beim zuständigen Staatsanwalt zuhanden des Einzelrichters Einsprache erheben.
2 Mit ihr müssen die Abänderungsanträge verbunden werden.
3 Richtet sich die Einsprache nur gegen die Bestimmung über Kosten, Entschädigung und Schadenersatz, so muss sie schriftlich begründet werden."
2.2 Nach Ansicht des Obergerichts folgt aus dem Wortlaut von § 321 Abs. 1 und 2 StPO /ZH, dass die Abänderungsanträge innert der Einsprachefrist zu stellen sind. In der früheren Fassung dieser Bestimmung habe es lediglich geheissen, dass die Abänderungsanträge mit ihr (d.h. der Einsprache) verbunden werden "sollen". Im Vergleich dazu lasse sich das Wort "müssen" nicht anders verstehen denn als Gültigkeitserfordernis; der Wortlaut sei insoweit klar.
2.3 Eine Gesetzesbestimmung ist in erster Linie nach ihrem Wortlaut auszulegen. Eine kantonale Behörde verfällt nicht in Willkür, wenn sie sich an den klaren und unzweideutigen Wortlaut einer Gesetzesbestimmung hält (BGE 125 I 161 E. 3c S. 164). Umgekehrt darf sie ohne Willkür vom Gesetzeswortlaut abweichen, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben (BGE 87 I 10 E. 3 S. 16 und die seitherige Rechtsprechung; 131 I 394 E. 3.2 S. 396). Nach diesen Regeln sind insbesondere Bestimmungen des Prozessrechts auszulegen (BGE 122 I 253 E. 6a S. 254).
2.4 Die vom Beschwerdeführer vorgebrachten Willkürrügen erweisen sich weitgehend als appellatorisch (E. 1). Es trifft zu, dass die Abänderungsanträge nach dem Gesetzeswortlaut nicht in der Einsprache selbst enthalten sein müssen. Es genügt, wenn sie mit ihr verbunden werden; davon geht auch das Obergericht aus. Es ist aber angesichts des Wortlauts von § 321 Abs. 2 StPO/ZH nicht nachvollziehbar, wenn der Beschwerdeführer den Schluss zieht, er sei hinsichtlich der Abänderungsanträge von der Einhaltung der Einsprachefrist befreit. Seine Argumentation zeigt insbesondere nicht auf, weshalb es unhaltbar sein soll, dass das Obergericht den Gesetzeswortlaut in der umstrittenen Frage als hinreichend klar für die Annahme eines Gültigkeitserfordernisses erachtet. Triftige Gründe, dass die Bestimmung entgegen ihrem Wortlaut auszulegen wäre, bringt der Beschwerdeführer nicht vor.
3.
In der hier vorliegenden Konstellation stellt die angefochtene Handhabung von § 321 StPO/ZH keinen Verstoss gegen das verfassungsmässige Recht auf Vertrauensschutz dar. Sie ist auch nicht überspitzt formalistisch, wie der Leitende Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland meint.
3.1 Innert Frist hat der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers bloss vorsorglich Einsprache erhoben und ausdrücklich noch keine Anträge gestellt. Es verdient keinen Rechtsschutz, wenn ein Rechtsuchender bewusst eine mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um dadurch eine Nachfrist für die Begründung zu erwirken (BGE 108 Ia 209 E. 3 S. 212; Urteil 1P.661/1995 vom 3. Mai 1996, E. 3b in: ZBl 98/1997 S. 307). Unter diesen Umständen war die Staatsanwaltschaft nicht gehalten, den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers von Amtes wegen darüber zu informieren, dass die Abänderungsanträge innert der Einsprachefrist zu stellen sind. Ausserdem ging die Eingabe bei ihr erst am 1. Juli 2005, d.h. am letzten Tag der Einsprachefrist ein. Es ist daher ohnehin zweifelhaft, ob der Mangel rechtzeitig hätte behoben werden können, falls die Staatsanwaltschaft ihn vor Fristablauf festgestellt hat. Im Übrigen müssen die Behörden eingehende Eingaben nicht systematisch auf allfällige Mängel hin untersuchen (BGE 114 Ia 20 E. 2a S. 22; unveröffentlichtes Urteil 2A.139/2005 vom 2. August 2005, E. 3.1). Der Beschwerdeführer kann der Staatsanwaltschaft eine mangelhafte Erfüllung ihrer Amtspflichten nicht mit Erfolg vorwerfen.
3.2 Fehl geht der Beschwerdeführer bei seinem Versuch, einen Anspruch auf Vertrauensschutz aus der offenbar grosszügigeren Praxis unter dem früheren Recht abzuleiten. Ebenso wenig kann es hier eine Rolle spielen, wenn die Rechtsmittelbelehrung unter dem früheren Recht gleich lautete. Deren Formulierung lässt sich nicht als behördliche Zusicherung verstehen, wonach eine Einsprache bei vollständigem Fehlen von Abänderungsanträgen formell genügen würde. Somit fehlt es insofern an einer massgeblichen Vertrauensgrundlage (BGE 131 II 627 E. 6.1 S. 636; 130 I 26 E. 8.1 S. 60).
3.3 An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die Akten trotz frühzeitigem Gesuch erst am 28. Juni 2005 zur Einsicht erhielt. Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Obergericht eine Erhebung der Abänderungsanträge bis zum Ablauf der Frist als zumutbar erachtet hat. Folglich hatte der Rechtsbeistand des Beschwerdeführers keine hinreichenden Gründe, sich darauf zu verlassen, dass er die Abänderungsanträge später nachreichen könne.
4.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 156 Abs. 1 OG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Winterthur / Unterland und dem Obergericht des Kantons Zürich, III. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 23. Januar 2006
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: