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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_522/2022  
 
 
Urteil vom 23. Februar 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Viscione, 
Gerichtsschreiber Grünvogel. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich, Abteilung Arbeitslosenversicherung, Thurgauerstrasse 80, 8090 Zürich, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Michèle Epprecht, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Arbeitslosenversicherung (Einstellung in der Anspruchsberechtigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 8. Juni 2022 (AL.2021.00182). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Verfügung vom 19. November 2020 stellte das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich die 1960 geborene A.________ wegen Nichtbefolgung von Weisungen des Regionalen Arbeitsvermittlungszentrums (RAV) für die Dauer von 54 (wertmässig 38) Tagen in der Anspruchsberechtigung auf Arbeitslosentaggelder ein. Mit Einspracheentscheid vom 29. April 2021 hielt das Amt daran fest. 
 
B.  
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 8. Juni 2022 insoweit gut, als es die Einstellungsdauer auf 27 Tage reduzierte. 
 
C.  
Das AWA lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils sei der Einspracheentscheid vom 29. April 2021 zu bestätigen. 
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet das Staatssekretariat für Wirtschaft und Arbeit (SECO) auf eine Stellungnahme. Zusätzlich lässt A.________ um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 145 V 57 E. 4.2).  
 
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig bedeutet dabei willkürlich (BGE 145 V 188 E. 2 mit Hinweisen).  
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz die Einstellung in der Anspruchsberechtigung zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung wegen Nichtbefolgung von Weisungen zu Recht von 54 auf 27 Tage reduziert hat. 
 
3.  
Die für die Beurteilung des Streitgegenstands massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die dazu ergangene Rechtsprechung hat das kantonale Gericht zutreffend dargelegt. 
 
3.1. Hervorzuheben ist, dass die Ablehnung einer zumutbaren Arbeitsstelle ohne entschuldbaren Grund nach Art. 30 Abs. 3 AVIG in Verbindung mit Art. 45 Abs. 4 lit. b AVIV in der Regel als schweres Verschulden zu qualifizieren und demnach mit einer Einstellungsdauer von 31 bis 60 Tagen zu sanktionieren ist (Art. 45 Abs. 3 lit. c AVIV). Liegen besondere Umstände im Einzelfall vor, kann dieser Rahmen unterschritten werden. Vorausgesetzt ist dabei ein entschuldbarer Grund, der - ohne zur Unzumutbarkeit zu führen - das Verschulden als lediglich mittelschwer oder leicht erscheinen lässt. Dieser kann die subjektive Situation der betroffenen Person (etwa gesundheitliche Probleme, familiäre Situation, Religionszugehörigkeit) oder eine objektive Gegebenheit (z.B. die Befristung der Stelle) beschlagen. Wenn ein solcher Grund vorliegt, ist Art. 45 Abs. 4 AVIV nicht anwendbar und die Einstellungsdauer bemisst sich nach den allgemeinen Regeln des Art. 30 Abs. 3 Satz 3 AVIG (BGE 130 V 125 E. 3.5; THOMAS NUSSBAUMER, Arbeitslosenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Auflage 2016, S. 2524 Rz. 864).  
 
3.2. Hervorzuheben ist sodann Folgendes: Wenn eine versicherte Person wiederholt in der Anspruchsberechtigung eingestellt wird, ist die Einstellungsdauer angemessen zu verlängern, wobei für die Verlängerung die Einstellungen der letzten zwei Jahre zu berücksichtigen sind (Art. 45 Abs. 5 AVIV).  
 
4.  
Das kantonale Gericht bestätigte in Auseinandersetzung mit den Parteivorbringen und in Würdigung der Akten die Auffassung der Verwaltung, wonach die Beschwerdegegnerin durch das Einreichen des ihr faktisch eine Vermittlungsunfähigkeit bescheinigenden Zeugnisses des Dr. med. Zweifel vom 19. Februar 2022 an die private Stellenvermittlerin in Kauf genommen habe, im weiteren Bewerbungsprozess nicht berücksichtigt zu werden, was als Ablehnung einer zumutbaren Arbeit im Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. d AVIG zu qualifizieren sei. Daher erweise sich die Einstellung in der Anspruchsberechtigung grundsätzlich als rechtens. Dies wird letztinstanzlich zu Recht von keiner Partei ernsthaft in Frage gestellt. 
 
5.  
Was die Einstellungsdauer anbelangt, erachtete das kantonale Gericht die von der Beschwerdeführerin verfügten 54 Tage selbst unter Berücksichtigung, dass die Beschwerdegegnerin schon früher mit Einstellungstagen sanktioniert worden war, als der Sache nicht angemessen. Dies, weil ein Teil der ursprünglichen Vorhaltungen (unvollständiges Bewerbungsdossier) bereits im Einspracheverfahren fallen gelassen worden sei. Darüber hinaus sei der Beschwerdegegnerin zugute zu halten, dass das AWA das Arztzeugnis bereits aus früheren Verfahren kannte, ohne der Einlegerin deswegen (bisher) die Vermittlungsfähigkeit abgesprochen zu haben; wenn die Beschwerdegegnerin dergestalt das Arztzeugnis im Bewerbungsprozess erneut eingereicht habe, so sei ihr dies im Sinne eines entschuldbaren Grundes anzurechnen, sodass der bei Ablehnung einer zumutbaren Arbeit grundsätzlich vorgesehene Sanktionsrahmen von 31 bis 60 Tagen unterschritten werden dürfe. Eine Reduktion der Einstelltage um die Hälfte auf neu 27 Tage erscheine gesamthaft gesehen als dem Verschulden angemessen. 
Das AWA wendet ein, es seien keine entschuldbaren Gründe oder besonderen Umstände gegeben, die ein Unterschreiten des Einstellrahmens für schweres Verschulden (31 bis 60 Tage) erlauben würden. Deshalb verletze die Vorinstanz mit der Reduktion auf 27 Tage Bundesrecht. 
 
6.  
 
6.1. Der Begriff des entschuldbaren Grundes gemäss Art. 45 Abs. 4 AVIV ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Die Handhabung unbestimmter Rechtsbegriffe unterliegt als Rechtsfrage grundsätzlich einer uneingeschränkten Überprüfung durch das Bundesgericht (ARV 2012 S. 300, 8C_7/2012 E. 4.1; MARKUS SCHOTT, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 36 zu Art. 95 BGG). Die Festlegung der Einstellungsdauer beschlägt hingegen eine typische Ermessensfrage, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur dort zugänglich ist, wo das kantonale Gericht sein Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat, also bei Ermessensüberschreitung oder -unterschreitung sowie bei Ermessensmissbrauch (BGE 137 V 71 E. 5.1; Urteil 8C_856/2018 vom 31. Januar 2019 E. 4 mit Hinweisen).  
 
6.2. Im Gegensatz zur Kognition des Bundesgerichts ist diejenige der Vorinstanz in diesem Zusammenhang nicht auf Rechtsverletzung beschränkt, sondern sie erstreckt sich auch auf die Beurteilung der Angemessenheit der Verwaltungsverfügung, wobei das Gericht sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen darf (BGE 137 V 71 E. 5.2; 126 V 75 E. 6; Urteil 8C_332/2019 vom 18. September 2019 E. 3.3 mit weiteren Hinweisen).  
 
7.  
 
7.1. Das kantonale Gericht verfällt einem falschen Verständnis von Art. 45 Abs.4 AVIV, wenn es allein deshalb einen entschuldbaren Grund für das neuerliche Einreichen des Arztberichts in einem Bewerbungsverfahren erblickte, weil die Arbeitslosenkasse nach dessen vorgängiger erstmaliger Kenntnisnahme der Beschwerdegegnerin nicht die Vermittlungsfähigkeit abgesprochen hatte. Solange eine Person zum Leistungsbezug angemeldet ist, hat sie alles ihr Zumutbare zu unternehmen, um die Arbeitslosigkeit zu beenden. Wenn sie der Auffassung ist, nicht mehr vermittlungsfähig zu sein, steht es ihr frei, sich vom Leistungsbezug abzumelden. Es geht aber nicht an, einerseits Leistungen der Arbeitslosenkasse zu beanspruchen, auf der anderen Seite gegenüber potenziellen Arbeitgebern aber klar zum Ausdruck zu bringen, sich gar nicht als vermittlungsfähig zu betrachten, was die Beschwerdegegnerin mit dem Einreichen des fraglichen Arztberichtes bei der Stellenvermittlerin gemäss vorinstanzlicher Auffassung aber im Ergebnis getan hat. Wird durch ein solches Vorgehen eine objektiv betrachtet zumutbare Arbeitsstelle abgelehnt, liegt - wie eingangs dargelegt - nach der gesetzgeberischen Konzeption ein schweres Verschulden vor. Dass die Verwaltung diesen Bericht nicht (bereits) bei früherer Gelegenheit als eine Vermittlungsunfähigkeit suggerierend beanstandet hat, ist in diesem Zusammengang unbeachtlich.  
 
7.2. Der Vollständigkeit halber ist auch noch auf das letztinstanzlich wiederholte Argument der Beschwerdegegnerin einzugehen, wegen fehlender genauer Kenntnisse des Anforderungsprofils der ausgeschriebenen Stellen habe man mit der Abgabe des Berichtes verhindern wollen, dass der potentielle Arbeitgeber von "falschen Erwartungen" ausgehe.  
Dieses Vorbringen erweist sich als wenig stichhaltig. Wie von der Vorinstanz zutreffend erwogen, hätte ihm allenfalls etwas abgewonnen werden können, wenn der Bericht lediglich körperliche Einschränkungen im Hinblick auf eine bestimmte Stelle bescheinigt und nicht - wie vorliegend - die Vermittlungsfähigkeit an sich in Frage gestellt hätte. Ein entschuldbarer Grund im Sinne von Art. 45 Abs. 4 AVIV ist auch damit nicht ausgewiesen. 
 
7.3. Zusammengefasst hat das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt, indem es die in Art. 45 Abs. 3 lit. c AVIV für schweres Verschulden vorgesehene Einstellungsdauer unterschritten hat. Einen triftigen Grund, (im für schweres Verschulden vorgegebenen Rahmen) sein Ermessen an die Stelle desjenigen der Verwaltung zu setzen, ist nicht auszumachen. Dass die Beschwerdeführerin im Einspracheverfahren von weiteren Vorhaltungen Abstand genommen hat, reicht nicht aus, zumal die Beschwerdegegnerin bereits am 19. Februar 2020 ein erstes Mal wegen Ablehnung zumutbarer Arbeit für die Dauer von 36 Tagen eingestellt worden war (bestätigt mit Einspracheentscheid vom 16. Juli 2020; dazu s. Art. 45 Abs. 5 AVIV). Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und der Einspracheentscheid vom 29. April 2021 zu bestätigen.  
 
8.  
Die unterliegende Beschwerdegegnerin trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann gewährt werden (Art. 64 BGG). Die Beschwerdegegnerin hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 8. Juni 2022 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid des Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Zürich vom 29. April 2021 bestätigt. 
 
2.  
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Michèle Epprecht wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Der Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
6.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, III. Kammer, und dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 23. Februar 2023 
 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Grünvogel