Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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8C_72/2017
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Urteil vom 23. Mai 2017
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grunder.
Verfahrensbeteiligte
A.A.________, handelnd durch seine Eltern
B.A.________ und C.A.________, und diese vertreten durch Rechtsanwältin Christine Fleisch,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Hilflosenentschädigung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. November 2016.
Sachverhalt:
A.
Der 2003 geborene A.A.________ leidet nach einer Frühgeburt an einer Cerebralparese mit Rumpfataxie und Epilepsie. Er bezog deswegen Leistungen der Invalidenversicherung (Ergo- und Physiotherapie; medizinische Massnahmen zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 387 und 390; vgl. Mitteilungen der IV-Stelle Zürich vom 23. und 24. Juli 2012). Gestützt auf den Abklärungsbericht vom 1. März 2013 sprach ihm die Verwaltung ab 1. Oktober 2011 bis 30. September 2021 eine Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit sowie einen Intensivpflegezuschlag für einen Betreuungsaufwand von mindestens 4 Stunden zu (Verfügung vom 30. Mai 2013).
Am 28. April 2015 ersuchten die Ärzte des Kinderspitals B.________ die IV-Stelle, den Intensivpflegezuschlag leichten Grades wegen einer Häufung der epileptischen Anfälle neu zu evaluieren. Die Verwaltung holte den Abklärungsbericht vom 9. Juli 2015 ein und bestätigte - nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren - die Ansprüche auf Entschädigung wegen Hilflosigkeit und auf Intensivpflegezuschlag je im bisherigen Umfang (Verfügung vom 28. September 2015).
B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich ab (Entscheid vom 29. November 2016).
C.
A.A.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm einen Intensivpflegezuschlag von Fr. 31.30 gestützt auf einen invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens 6 Stunden am Tag auszurichten.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht die Verfügung der IV-Stelle vom 28. September 2015 bestätigt hat, wonach der Beschwerdeführer lediglich Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag im Sinne von Art. 42ter Abs. 3 IVG und Art. 39 IVV im Umfang von mindestens vier Stunden hatte. Bei dessen Beurteilung ist gestützt auf das Gesuch der Ärzte des Kinderspitals B.________ vom 28. April 2015 davon auszugehen, dass ein Revisionsgrund im Sinne des Art. 17 Abs. 2 ATSG in Verbindung mit Art. 88a Abs. 2 IVV vorlag. Daher hatte das kantonale Gericht den geltend gemachten Anspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend, ohne Bindung an frühere Beurteilungen, zu prüfen (vgl. Art. 17 Abs. 2 ATSG; BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 11 mit Hinweisen und E. 6.1 S. 13), was unbestritten ist.
2.
2.1. Gemäss Art. 42ter Abs. 3 IVG wird die Hilflosenentschädigung für Minderjährige, die zusätzlich eine intensive Betreuung brauchen, um einen Intensivpflegezuschlag erhöht; dieser Zuschlag wird nicht gewährt bei einem Aufenthalt in einem Heim. Der monatliche Intensivpflegezuschlag beträgt bei einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens acht Stunden pro Tag 60 Prozent, bei einem solchen von mindestens sechs Stunden pro Tag 40 Prozent und bei einem solchen von mindestens vier Stunden pro Tag 20 Prozent des Höchstbetrages der Altersrente nach Artikel 34 Absätze 3 und 5 AHVG. Der Zuschlag berechnet sich pro Tag. Der Bundesrat regelt im Übrigen die Einzelheiten.
2.2. Nach Art. 39 IVV liegt eine intensive Betreuung im Sinne von Artikel 42ter Absatz 3 IVG bei Minderjährigen vor, wenn diese im Tagesdurchschnitt infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzliche Betreuung von mindestens vier Stunden benötigen (Abs. 1). Anrechenbar als Betreuung ist der Mehrbedarf an Behandlungs- und Grundpflege im Vergleich zu nichtbehinderten Minderjährigen gleichen Alters. Nicht anrechenbar ist der Zeitaufwand für ärztlich verordnete medizinische Massnahmen, welche durch medizinische Hilfspersonen vorgenommen werden sowie für pädagogisch-therapeutische Massnahmen (Abs. 2). Bedarf eine minderjährige Person infolge Beeinträchtigung der Gesundheit zusätzlich einer dauernden Überwachung, so kann diese als Betreuung von zwei Stunden angerechnet werden. Eine besonders intensive behinderungsbedingte Überwachung ist als Betreuung von vier Stunden anrechenbar (Abs. 3).
Im Kreisschreiben des BSV über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung (KSIH) werden die in Art. 39 Abs. 2 und 3 IVV geregelten Tatbestände konkretisiert (zur Tragweite von Weisungen der Aufsichtsbehörde vgl. BGE 136 V 16 E. 5.1.2 in fine S. 20 und 133 V 257 E. 3.2 S. 258).
3.
3.1. Die Vorinstanz hat erwogen, zur revisionsrechtlichen Beurteilung des Intensivpflegezuschlags sei auf den in allen Teilen beweiskräftigen Abklärungsbericht vom 9. Juli 2015 abzustellen, wonach der invaliditätsbedingte Mehraufwand 5 Stunden und 46 Minuten betrage. Zu den Vorbringen des Versicherten sei zunächst auf die Rechtsprechung hinzuweisen, wonach das Sozialversicherungsgericht die Gesetzmässigkeit des angefochtenen Entscheids in der Regel nach dem Sachverhalt zu beurteilen hat, der zur Zeit des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens gegeben war. Die Abklärungsperson der IV-Stelle sei übereinstimmend mit dem Bericht des Kinderspitals B.________ vom 12. Oktober 2015 von bis zu vier Epilepsie-Anfällen täglich von bis zu 90 Sekunden ausgegangen. Die danach eingetretene Häufung der epileptischen Anfälle stelle einen veränderten Sachverhalt dar, der gegebenenfalls im Rahmen eines neuen Verfahrens zu prüfen sei. Das kantonale Gericht hat sich weiter im Einzelnen mit den Einwänden des Versicherten zur Bemessung des Mehraufwandes hinsichtlich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen auseinandergesetzt, der laut Abkärungsbericht vom 9. Juli 2015 3 Stunden und 32 Minuten betrug. Schliesslich hat es erwogen, auch der von der Abklärungsperson gestützt auf Art. 39 Abs. 3 Satz 1 IVV angerechnete Betreuungsaufwand von zwei Stunden wegen der notwendigen dauernden Überwachung sei nicht zu beanstanden. Der Versicherte übersehe mit seinem Vorbringen, der Intensivpflegezuschlag sei anhand von Art. 39 Abs. 3 Satz 2 IVV auf vier Stunden festzulegen. Nach der Rechtsprechung sei bei einer schweren Hilflosigkeit der dauernden persönlichen Überwachung ein nur minimales Gewicht beizumessen, da dort gleichzeitig vorausgesetzt werde, dass die versicherte Person in allen alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig auf die Hilfe Dritter angewiesen sei. Das Kinderspital B.________ (Bericht vom 28. April 2015) ersuche zwar, den Intensivpflegezustand neu zu evaluieren, indessen nehme es keine eigene Schätzung des Überwachungsaufwandes vor.
3.2.
3.2.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts sei der Abklärungsbericht vom 9. Juli 2015 nicht voll beweiskräftig; die IV-Stelle habe den Sachverhalt aufgrund seiner Einwände im vorinstanzlichen Verfahren neu geprüft und hinsichtlich der alltäglichen Lebensverrichtungen zusätzlich einen Mehraufwand von 19.9 Minuten festgestellt. Die in dieser Stellungnahme erwähnte, aber durch nichts belegte Praxisänderung, wonach im Bereich der alltäglichen Lebensverrichtung Essen ein pauschaler Abzug von 20 Minuten vorzunehmen sei, wenn zwei Kinder am Tisch sässen, entbehre jeglicher rechtlichen Grundlage und diene nur dazu, trotz des anerkannten Mehraufwandes die Dauer der notwendigen Betreuung unter dem Grenzwert von 6 Stunden zu halten.
3.2.2. Die Verwaltung legte im vorinstanzlichen Verfahren die Stellungnahme ihres Abklärungsdienstes vom 14. Juni 2016 auf. Danach berechnete dieser die anlässlich der Abklärung an Ort und Stelle vom 30. Juni 2016 (recte: 2015; vgl. Bericht vom 9. Juli 2015) evaluierten Umstände mittels der "Excel-Liste" neu, wobei sich ein zusätzlicher Betreuungsaufwand von 19.9 Minuten ergab. Dabei wies die zuständige Fachperson darauf hin, dass "heute im Bereich Essen aufgrund unserer neuen internen Bestimmungen noch ein kleiner Abzug von 20 Minuten/Tag berücksichtigt werden" müsse. Daher bleibe es bei einem Mehraufwand von insgesamt 5 Stunden und 46 Minuten. Entgegen den Erwägungen des kantonalen Gerichts überzeugt diese Begründung nicht. Die Abklärungsperson hob in ihrem Bericht vom 9. Juli 2015 hervor, der Versicherte benötige beim Essen eine "1 : 1 Betreuung"; es gelinge den Eltern kaum, nebenbei zu essen, weshalb sie meistens getrennt oder später spiesen. Unter diesen Umständen ist nicht nachvollziehbar, inwieweit die Präsenz der eineinhalb Jahre alten Schwester des Versicherten am Esstisch zu einer Reduktion des tatsächlich von den Eltern geleisteten, zeitlichen Aufwandes führen sollte. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass die Abklärungsperson, was das kantonale Gericht ebenfalls übersehen hat, den zeitlichen Aufwand im Bereich der Lebensverrichtung Essen in Kenntnis des Umstands einschätzte, dass der Versicherte einen Teil seiner Mahlzeiten nicht zu Hause, sondern in der heilpädagogischen Schule C.________ einnahm. So hielt sie fest, die Mutter müsse in der Regel die pürierten Speisen dem Sohn in die Schule mitgeben. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie erkannt hat, der von der IV-Stelle berücksichtigte Mehraufwand im Umfang von 75 statt 95 Minuten pro Tag erscheine schlüssig.
3.2.3. Zusammenfassend ist festzustellen, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf einen monatlichen Intensivpflegezuschlag bei einem invaliditätsbedingten Betreuungsaufwand von mindestens sechs Stunden pro Tag hatte (5 Stunden und 46 Minuten plus 19.9 Minuten). Die Beschwerde ist daher gutzuheissen.
3.2.4. Auf das Begehren des Beschwerdeführers, der Stundenansatz sei auf Fr. 31.30 festzulegen, ist mangels einer Begründung nicht weiter einzugehen.
4.
Der IV-Stelle werden als unterliegender Partei die Gerichtskosten auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie hat den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 29. November 2016 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 28. September 2015 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen, damit sie über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Intensivpflegezuschlag neu verfüge.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 23. Mai 2017
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Maillard
Der Gerichtsschreiber: Grunder