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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_156/2007 /fun 
 
Urteil vom 23. August 2007 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Aemisegger, Aeschlimann, 
Reeb und Fonjallaz, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführerin, vertreten 
durch Rechtsanwalt Thomas Gattlen, 
 
gegen 
 
Jugendanwaltschaft Winterthur, 
Hermann Götz-Strasse 26, 8400 Winterthur, 
Bezirksgericht Winterthur, Haftrichter, 
Lindstrasse 10, 8400 Winterthur. 
 
Gegenstand 
Verlängerung der Untersuchungshaft, 
 
Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung 
des Bezirksgerichts Winterthur, Haftrichter, vom 26. Juli 2007. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Am 7. Juli 2007 wurde X.________ (geboren am ... September 1989) bei der Rückreise von der Dominikanischen Republik in die Schweiz am Flughafen Zürich verhaftet, weil sie in ihrem Rollkoffer und in ihrer Laptoptasche ca. 5 kg Kokain mit sich führte. X.________ bestreitet, Kenntnis vom Kokain gehabt zu haben. Sie sei zu Besuch bei ihrem Mann in der Dominikanischen Republik gewesen. Dort sei ihr der Koffer und die Laptoptasche von einem "Kelvin" übergeben worden, mit der Bitte, diese in der Schweiz weiterzugeben. 
 
B. 
Mit Verfügung des Haftrichters am Bezirksgericht Winterthur vom 10. Juli 2007 wurde Untersuchungshaft bis zum 27. Juli 2007 wegen Kollusions- und Fluchtgefahr angeordnet. Mit Verfügung vom 26. Juli 2007 wurde die Haft bis zum 24. August 2007 verlängert. 
 
C. 
Dagegen hat X.________ am 30. Juli 2007 Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben. Sie beantragt, die Verfügung des Haftrichters vom 26. Juli 2007 sei aufzuheben und es sei ihre sofortige Freilassung anzuordnen. Zudem beantragt sie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. 
Der Haftrichter hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Auch die Jugendanwaltschaft Winterthur hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
D. 
Am 17. August 2007 wurde X.________ aus der Untersuchungshaft entlassen. Mit Schreiben vom 20. August 2007 teilte ihr Anwalt mit, das Rechtsbegehren sei damit gegenstandslos geworden; zu entscheiden sei lediglich noch über die Kosten- und Entschädigungsfolge. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Der angefochtene Entscheid erging nach dem 1. Januar 2007, weshalb das Bundesgerichtsgesetz anwendbar ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). 
 
2. 
Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen, zu denen auch Haftentscheide gehören. 
 
2.1 Mit der Entlassung aus der Untersuchungshaft entfällt grundsätzlich das aktuelle praktische Interesse an der Beurteilung einer Haftbeschwerde (BGE 125 I 394 E. 4a S. 397 mit Hinweisen). Dies führt i.d.R. zur Abschreibung des Verfahrens, sofern die Haftentlassung nach Beschwerdeerhebung erfolgt. 
 
Ausnahmsweise verzichtet das Bundesgericht jedoch auf das Erfordernis des aktuellen praktischen Interesses, wenn die Beschwerde Fragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwirft, die sich jederzeit unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen könnten, ohne dass im Einzelfall rechtzeitig eine höchstrichterliche Prüfung stattfinden könnte (BGE 131 II 670 E. 1.2 S. 674 zu Art. 103 lit. a OG; BGE 127 I 164 E. 1a S. 166 zu Art. 88 OG, je mit weiteren Hinweisen). Eine solche Ausnahme wurde mehrfach für Fragen des Haftverfahrens angenommen (vgl. Übersicht in BGE 125 I 394 E. 4b S. 397/398). Diese Rechtsprechung ist auch unter der Geltung des BGG weiterzuführen (vgl. Entscheid 1C_89/2007 vom 13. Juli 2007 E. 1.3). 
 
3. 
Im vorliegenden Fall stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der kantonale Instanzenzug ausgeschöpft worden ist (Art. 80 Abs. 1 BGG), d.h. unmittelbar gegen den Haftverlängerungsentscheid des Zürcher Haftrichters im Jugendstrafverfahren Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht erhoben werden kann. 
 
Das Zürcher Recht sieht kein kantonales Rechtsmittel gegen diesen Entscheid vor (vgl. § 62 Abs. 4 i.V.m. § 380 Abs. 3 der Zürcher Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 [StPO/ZH]). Fraglich ist allerdings, ob diese Regelung mit Art. 41 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) vereinbar ist, wonach die Kantone gegen Urteile und Verfügungen, die gestützt auf das Jugendstrafgesetz ergehen, ein Rechtsmittel an eine gerichtliche Instanz vorsehen müssen. 
 
Diese Frage ist von prinzipieller Bedeutung und stellt sich bei jedem Zürcher Haftentscheid im Anwendungsbereich des JStG. Da die Untersuchungshaft gemäss Art. 6 Abs. 1 Satz 2 JStG so kurz wie möglich zu halten ist, besteht die Gefahr, dass ein bundesgerichtlicher Entscheid zu dieser Frage nie rechtzeitig vor der Haftentlassung eingeholt werden könnte. Insofern rechtfertigt es sich, die Frage im vorliegenden Verfahren zu beantworten. 
 
3.1 Das Jugendstrafgesetz ist auf die Beschwerdeführerin anwendbar, weil sie im Zeitpunkt der vermuteten Straftat, d.h. des Drogentransports, das 18. Lebensjahr noch nicht erreicht hatte (vgl. Art. 3 Abs. 1 JStG). 
 
3.2 Zwar stützt sich die Anordnung von Untersuchungshaft in erster Linie auf die Bestimmungen des kantonalen Strafprozessrechts (hier: §§ 58 ff. ZPO/ZH). Zu beachten sind aber zusätzlich die restriktiveren Anforderungen gemäss Art. 6 Abs. 1 JStG, weshalb sich die Haftanordnung auch auf das JStG stützt und zu den anfechtbaren Entscheiden nach Art. 41 JStG gehört (so auch Peter Aebersold, Schweizerisches Jugendstrafrecht, Bern 2007, S. 200; Baptiste Viredaz, Le nouveau droit pénal des mineurs, in: André Kuhn/Laurent Moreillon/ Baptiste Viredaz/Aude Bichovsky, La nouvelle partie générale du Code pénal suisse, S. 411 Fn. 56, Bern 2006). 
 
Art. 41 JStG will den Rechtsschutz des Jugendlichen verbessern und verpflichtet deshalb die Kantone, ein Rechtsmittel vorzusehen, mit dem Urteile und Verfügungen, gleichgültig ob von Gerichten oder Verwaltungsbehörden erlassen, bei einer gerichtlichen Instanz des Kantons angefochten werden können (Botschaft des Bundesrats zum JStG vom 21. September 1998, BBl 1999 Ziff. 425.4 S. 2265). Es ist kein Grund ersichtlich, ausgerechnet die Untersuchungshaft als einschneidendste freiheitsentziehende Massnahme von dieser Rechtsmittelgarantie auszuschliessen, und diese auf vorsorgliche Massnahmen gemäss Art. 5 i.V.m. Art. 12 ff. JStG zu beschränken. 
 
Gemäss Art. 6 Abs. 1 JStG darf Untersuchungshaft gegen Jugendliche nur angeordnet werden, wenn ihr Zweck nicht durch eine vorsorglich angeordnete Schutzmassnahme erreicht werden kann. Insofern besteht auch materiell ein Konnex zwischen der Haftanordnung und den vorrangig zu prüfenden vorsorglichen Massnahmen des Jugendstrafrechts. Es ist daher sinnvoll, wenn auch die Haftanordnung (bzw. -verlängerung) von einer auf das Jugendstrafrecht spezialisierten kantonalen Rechtsmittelinstanz überprüft wird, bevor Beschwerde ans Bundesgericht erhoben werden kann. 
 
3.3 Zu prüfen ist noch, ob Art. 41 JStG unmittelbar anwendbar ist. Von ihrem Wortlaut her ist die Bestimmung als Gesetzgebungsauftrag formuliert; das JStG legt jedoch keine Übergangsfrist für die Erfüllung dieser Verpflichtung fest. 
 
Nachdem das JStG gleichzeitig mit dem BGG am 1. Januar 2007 in Kraft getreten ist, fragt sich, ob die Übergangsbestimmung von Art. 130 BGG auch für Art. 41 JStG herangezogen werden kann. Nach Art. 130 Abs. 1 BGG erlassen die Kantone auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens der schweizerischen Strafprozessordnung Ausführungsbestimmungen über die Zuständigkeit, die Organisation und das Verfahren der Vorinstanzen in Strafsachen im Sinne der Artikel 80 Abs. 2 und 111 Abs. 3 BGG, einschliesslich der Bestimmungen, die zur Gewährleistung der Rechtsweggarantie nach Art. 29a BV erforderlich sind. Ist sechs Jahre nach Inkrafttreten des BGG noch keine schweizerische Strafprozessordnung in Kraft, so legt der Bundesrat die Frist zum Erlass der Ausführungsbestimmungen nach Anhörung der Kantone fest. 
 
Allerdings wurde das Jugendstrafgesetz von den eidgenössischen Räten schon am 20. Juni 2003 beschlossen, lange vor dem BGG. Es trat gleichzeitig mit der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafrechts in Kraft (vgl. Art. 49 Abs. 2 JStG). 
 
Am 23. Juni 2006 wurde Art. 130 BGG mit dem Bundesgesetz über die Bereinigung und Aktualisierung der Totalrevision der Bundesrechtspflege (AS 2006 4213) geändert, um die Umsetzungsarbeiten zum BGG mit denjenigen zur eidgenössischen StPO zeitlich zu koordinieren und um klarzustellen, dass die Übergangsfristen von Artikel 130 BGG auch für die Umsetzung der Rechtsweggarantie gemäss Art. 29a BV gelten (Botschaft des Bundesrats vom 1. März 2006, BBl 2006 Ziff. 3.1 S. 3074 f.). Bei dieser Revision, die den Anwendungsbereich von Art. 130 BGG präzisieren sollte, wurde Art. 41 JStG nicht erwähnt. Dies spricht dafür, dass den Kantonen für die Umsetzung dieser Bestimmung keine Übergangsfrist eingeräumt werden sollte. 
 
Das JStG regelt nicht nur das materielle Jugendstrafrecht, sondern enthält auch Grundsätze für das Jugendstrafverfahren (vgl. Art. 1 Abs. 1 lit. b JStG). Diese stellen Mindestgarantien dar, die vom kantonalen Recht über-, nicht aber unterschritten werden dürfen, und sollen sicherstellen, dass das materielle Jugendstrafrecht und seine Grundsätze tatsächlich zum Tragen kommen (Aebersold, a.a.O. S. 191 f.; vgl. auch Botschaft, a.a.O., Ziff. 425.4 S. 2266). Von diesem Schutzzweck her muss auch die Verfahrensbestimmung von Art. 41 JStG unmittelbar anwendbar sein. 
 
3.4 Ein Verhafteter, auf den das Jugendstrafgesetz anwendbar ist, kann daher gestützt auf diese Bestimmung im Kanton ein Rechtsmittel gegen eine Haftanordnung oder -verlängerung erheben und muss diese Möglichkeit auch ausschöpfen, bevor er Beschwerde ans Bundesgericht erheben kann. Bis zur Anpassung der kantonalen StPO muss die zuständige kantonale Instanz durch den Erlass einer Übergangsregelung auf dem Verordnungsweg oder durch die Bezeichnung des Gerichts im Einzelfall bestimmt werden. Hierfür kann auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu den Rechtsmittelgarantien der Art. 6 EMRK und Art. 98a OG (nach Ablauf der Übergangsfrist am 15. Februar 1997) verwiesen werden (vgl. BGE 123 II 231 E. 7 S. 236 f. mit Hinweisen). 
 
4. 
Zu prüfen ist, ob trotz der Nichterschöpfung des kantonalen Instanzenzugs auf die Beschwerde ausnahmsweise, aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und des Vertrauensschutzes, eingetreten werden muss. Dies ist aufgrund der zwischenzeitlich erfolgten Haftentlassung der Beschwerdeführerin und ihrer Stellungnahme vom 20. August 2007 zu verneinen. Auch bei den Kosten entsteht ihr kein Nachteil, weil ihr die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren ist (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG i.V.m. Art. 40 Abs. 2 lit. c und Abs. 3 JStG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2. 
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
 
2.2 Rechtsanwalt Thomas Gattlen wird als amtlicher Vertreter der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse ein Honorar von Fr. 2'000.-- ausgerichtet. 
 
3. 
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Jugendanwaltschaft und dem Bezirksgericht Winterthur, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 23. August 2007 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: