Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
 
{T 0/2}  
6B_596/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 23. Dezember 2015  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, 
Bundesrichter Oberholzer, 
Gerichtsschreiberin Siegenthaler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Jugendanwaltschaft des Kantons Bern, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Melanie Schürch, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Verzicht auf Konfrontation (Raub, Nötigung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, Strafabteilung, 1. Strafkammer, vom 4. Mai 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Jugendgericht des Kantons Bern sprach A.________ am 26. August 2014 schuldig des Raubes, des Diebstahls, der Drohung, der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (alles mehrfach begangen) sowie des Hausfriedensbruchs. Hingegen erkannte es auf Freispruch in Bezug auf die Vorwürfe des Raubes und der Nötigung zum Nachteil von B.________, da es dessen Aussagen als unverwertbar erachtete, weil keine Konfrontationseinvernahme stattgefunden hatte. 
Auf Berufung der Jugendanwaltschaft Region Oberland bestätigte das Obergericht des Kantons Bern diese Freisprüche am 4. Mai 2015. 
 
B.  
Die Jugendanwaltschaft des Kantons Bern führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 4. Mai 2015 sei aufzuheben und die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
Das Obergericht des Kantons Bern und A.________ beantragen sinngemäss die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der bundesrechtlichen Beweiserhebungs- und Verwertungsbestimmungen. Die Vorinstanz erachte die Aussagen des Privatklägers B.________ als unverwertbar, weil dieser nie parteiöffentlich befragt worden sei. Dem Protokoll zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung sei allerdings zu entnehmen, dass sämtliche Parteien auf die Durchführung der Einvernahme mit dem Privatkläger verzichtet hätten, nachdem dieser trotz Vorladung unentschuldigt nicht vor Gericht erschienen sei. Damit habe ein eindeutiger Verzicht des Beschwerdegegners auf sein Konfrontationsrecht mit dem Privatkläger vorgelegen, weshalb dessen Aussagen aus früheren Befragungen verwertbar seien. Indem die Vorinstanz sie als unverwertbar qualifiziere, verletze sie Bundesrecht.  
Soweit die Vorinstanz zur Begründung ausführe, dem Protokoll des Jugendgerichts lasse sich kein eindeutiger Verzicht auf das Konfrontationsrecht entnehmen, stelle sie den Sachverhalt offensichtlich unrichtig und damit willkürlich fest. 
 
1.2. Die Feststellung des Sachverhalts durch die Vorinstanz kann gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig, d.h. willkürlich im Sinne von Art. 9 BV ist (BGE 139 II 404 E. 10.1 mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür: BGE 140 III 16 E. 2.1; 139 III 334 E. 3.2.5), oder auf einer Verletzung von schweizerischem Recht im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann.  
 
1.3. Die Vorinstanz erwägt, eine beschuldigte Person könne zwar auf das Konfrontationsrecht verzichten. Dies habe aber förmlich und unzweideutig zu erfolgen. Dem Protokoll zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung könne entnommen werden, dass die Vorsitzende mit dem Einverständnis der Parteien auf eine Einvernahme des Privatklägers verzichtet habe. Der protokollierte Wortlaut sei allerdings nicht eindeutig. Es sei nicht ersichtlich, was genau zwischen den Parteien und dem Gericht besprochen worden sei bzw. wer welche Anträge gestellt habe. Aus dem Protokoll ergebe sich auch nicht unmissverständlich, dass der Beschwerdegegner, dem das Konfrontationsrecht persönlich zustehe, selbst förmlich auf dieses verzichtet habe. Damit stehe auch nicht fest, dass er sich mit der Verwertbarkeit der Aussagen des Privatklägers einverstanden erklärt habe. Selbst das erstinstanzliche Gericht, welches das Protokoll verfasst habe, sei nicht sicher gewesen, wie die Erklärung der Verteidigerin zu verstehen gewesen sei. Dies gehe einerseits aus den Ausführungen in der schriftlichen Urteilsbegründung hervor, andererseits aber auch aus dem Wortlaut des Protokolls. Wäre tatsächlich und eindeutig ein ausdrücklicher Verzicht auf Konfrontation erfolgt, hätte die erste Instanz dies auch so protokolliert und die Aussagen des Privatklägers in der Folge verwertet.  
 
1.4. Die Vorbringen der Beschwerdeführerin erweisen sich als begründet.  
 
1.4.1. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach das erstinstanzliche Hauptverhandlungsprotokoll nicht eindeutig wiedergebe, was zwischen den Parteien und dem Gericht besprochen worden sei bzw. wer welche Anträge gestellt habe, widerspricht dem Grundsatz, dass in der Regel von der Vollständigkeit eines Verfahrensprotokolls auszugehen ist (vgl. PHILIPP NÄPFLI, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 2 f. zu Art. 76 StPO). Demzufolge kann angenommen werden, dass im Protokoll wenigstens kurz festgehalten worden wäre, wenn der Beschwerdegegner seinen Verzicht dem Gericht gegenüber unter Vorbehalt geäussert und ihn insbesondere auf die Durchführung der Befragung beschränkt, seinen Konfrontationsanspruch jedoch davon ausgenommen hätte. Ebenso spricht nichts dafür, dass die Parteien nebst ihrer Verzichtsäusserung irgendwelche Anträge gestellt haben könnten, da auch solche ins Protokoll hätten aufgenommen werden müssen (vgl. Art. 77 lit. c StPO). Ohne konkrete Anhaltspunkte davon auszugehen, die einschlägigen Verfahrensvorschriften seien nicht eingehalten und das fragliche Protokoll unvollständig verfasst worden, erscheint willkürlich.  
 
1.4.2. Die Argumentation der Vorinstanz, dass das erstinstanzliche Gericht selbst nicht sicher gewesen sei, wie die Verteidigerin ihre Erklärung gemeint habe, da es einen eindeutigen Verzicht auch als solchen protokolliert und die Aussagen des Privatklägers in der Folge verwertet hätte, greift zu kurz.  
Die erste Instanz hält in ihrer Urteilsbegründung ausdrücklich fest, sie sei ursprünglich davon ausgegangen, der Beschwerdegegner verzichte nicht nur auf die Durchführung der Befragung mit dem Privatkläger, sondern auch auf sein Konfrontationsrecht. Erst seinem anschliessenden Parteivortrag sei zu entnehmen gewesen, dass dem offenbar nicht so sei (vgl. erstinstanzliches Urteil, S. 33). Diese Formulierung spricht klar dafür, dass der Beschwerdegegner zuvor in Bezug auf seinen Verzicht keine Einschränkungen erklärt hatte und das Protokoll somit vollständig und korrekt wiedergibt, was tatsächlich geäussert wurde: ein ohne Vorbehalte geäusserter Verzicht auf die Durchführung der Einvernahme mit dem Privatkläger. Dass die erste Instanz der Argumentation des Beschwerdegegners schliesslich trotzdem folgte und die Aussagen des Privatklägers als unverwertbar qualifizierte, geschah aus rechtlichen Überlegungen und kann nicht als Indiz dafür verstanden werden, dass die Verzichtserklärung an der Hauptverhandlung nicht in der protokollarisch festgehaltenen Weise erfolgt war. 
 
1.4.3. Schliesslich macht die Beschwerdeführerin zu Recht geltend, dass entgegen der vorinstanzlichen Ansicht nicht wesentlich sei, ob der Beschwerdegegner persönlich auf sein Konfrontationsrecht verzichtet habe. Selbst wenn einzig die Verteidigung auf die Durchführung der fraglichen Einvernahme verzichtet hätte, wäre dies dem Beschwerdegegner anzurechnen, ausser dieser hätte sich explizit gegen den Verzicht ausgesprochen (vgl. Urteil 1B_250/2012 vom 31. Juli 2012 E. 2.3 mit Hinweisen). Dafür gibt es vorliegend keine Anhaltspunkte.  
 
1.4.4. Aus dem Protokoll zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung geht somit entgegen der vorinstanzlichen Auffassung klar hervor, dass der Beschwerdegegner auf die Befragung des Privatklägers vorbehaltlos verzichtete. Dass das urteilende Gericht diesen ohne Einschränkungen geäusserten Verzicht im gegebenen Kontext als gleichzeitigen Verzicht auf das Konfrontationsrecht verstehen würde, liegt auf der Hand und musste auch dem Beschwerdegegner bzw. seiner Verteidigung bewusst sein. Es wäre ohne Aufwand und Rechtsverlust möglich gewesen, darauf hinzuweisen, dass der Verzicht ausschliesslich die Durchführung der Einvernahme, nicht aber den Konfrontationsanspruch umfassen solle. Ebenso hätte der Beschwerdegegner ohne Weiteres an der Befragung des Privatklägers festhalten und so entweder sein Konfrontationsrecht durchsetzen oder - im Verweigerungsfall - immer noch die Unverwertbarkeit von dessen früheren Aussagen geltend machen können. Stattdessen verlegte er sich von vornherein darauf, seinen zunächst ohne Vorbehalt erklärten Verzicht im Parteivortrag zu relativieren und für die Unverwertbarkeit der fraglichen Aussagen zu plädieren. Dieses Vorgehen erscheint rechtsmissbräuchlich. Unter dem Aspekt von Treu und Glauben ist der Verzicht des Beschwerdegegners auf die gerichtliche Befragung des Privatklägers deshalb als gleichzeitiger Verzicht auf sein Konfrontationsrecht zu verstehen.  
 
1.5. Dieser Verzicht des Beschwerdegegners auf sein Konfrontationsrecht führt dazu, dass die bereits vorhandenen Aussagen des Privatklägers verwendet werden dürfen (vgl. BGE 121 I 306 E. 1b mit Hinweisen; Urteil 6B_34/2013 vom 17. Juni 2013 E. 1.5.1).  
 
2.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Diese wird die Anklagepunkte des Raubes und der Nötigung zum Nachteil des Privatklägers B.________ unter Berücksichtigung von dessen Aussagen neu zu beurteilen haben. 
Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Antrag auf Abweisung der Beschwerde, weshalb er grundsätzlich kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1 BGG). Jedoch ist sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren gutzuheissen, da er zur Wahrnehmung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör eines Rechtsbeistands bedurfte und seine Bedürftigkeit erstellt scheint. Sein Antrag auf Abweisung der Beschwerde kann nicht als aussichtslos bezeichnet werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Seiner Rechtsvertreterin ist eine angemessene Entschädigung auszurichten. 
Der obsiegenden Beschwerdeführerin ist keine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 3 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 4. Mai 2015 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.   
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen. 
 
3.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
4.   
Der Rechtsvertretung des Beschwerdegegners, Rechtsanwältin Melanie Schürch, wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 23. Dezember 2015 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Die Gerichtsschreiberin: Siegenthaler