Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_973/2023
Urteil vom 23. Dezember 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Koch, als präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Kölz, Hofmann,
Gerichtsschreiber Stadler.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Claudio Nosetti,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern Abteilung 5 Wirtschaftsdelikte,
Obernauerstrasse 16, Postfach, 6011 Kriens.
Gegenstand
Akteneinsicht,
Beschwerde gegen den Beschluss des Kantonsgerichts Luzern, 1. Abteilung, vom 31. Oktober 2023
(N 23 104/2U 23 45).
Sachverhalt:
A.
Die Staatsanwaltschaft Abteilung 5 Wirtschaftsdelikte führt gegen A.________, H.________ und weitere Personen als Verantwortliche beziehungsweise Angestellte der C.B.________ GmbH, der D.B.________ AG, der E.B.________ AG, der F.B.________ AG, der G.B.________ AG sowie der H.B________ AG (nachfolgend: "B.________-Gruppe") eine Strafuntersuchung wegen gewerbsmässigen Betrugs zum Nachteil diverser Versicherungen.
B.
Nachdem die Staatsanwaltschaft bereits am 25. April sowie 5. und 26. Mai 2023 Akteneinsichtsgesuche von A.________ abgewiesen hatte, wies sie mit Verfügung vom 28. Juni 2023 auch dessen Gesuch um Gewährung der Akteneinsicht vom 26. Juni 2023 ab. Dagegen erhob A.________ Beschwerde und beantragte, seinem Akteneinsichtsgesuch sei zu entsprechen und ihm seien unverzüglich sämtliche Akten des Strafverfahrens zur Verfügung zu stellen. Zudem sei ihm für das Beschwerdeverfahren die amtliche Verteidigung zu gewähren. Mit Beschluss vom 31. Oktober 2023 wies das Kantonsgericht Luzern die Beschwerde und das Gesuch um amtliche Verteidigung ab.
C.
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, der Beschluss des Kantonsgerichts vom 31. Oktober 2023 sei vollumfänglich aufzuheben, dem Akteneinsichtsgesuch vom 26. Juni 2023 sei zu entsprechen und die Staatsanwaltschaft sei anzuweisen, ihm gestützt auf Art. 101 Abs. 1 StPO unverzüglich sämtliche Akten des Strafverfahrens zur Verfügung zu stellen. Eventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zu neuer Beurteilung zurückzuweisen. Ihm sei für das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren zudem die amtliche Verteidigung zu gewähren. Ausserdem ersucht er für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege.
Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Beschwerdeentscheid über die Beschränkung der Akteneinsicht. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht grundsätzlich offen (vgl. Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 BGG ). Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab. Er kann deshalb nur unter den Voraussetzungen von Art. 92 und 93 BGG angefochten werden. Danach ist die Beschwerde insbesondere zulässig, wenn der angefochtene, selbstständig eröffnete Zwischenentscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Bei einer Beschränkung der Akteneinsicht im Strafverfahren ist diese Voraussetzung nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung dann erfüllt, wenn die beschuldigte Person im gegebenen Verfahrensstadium grundsätzlich über ein Recht auf Akteneinsicht verfügt, namentlich gestützt auf Art. 101 Abs. 1 StPO (vgl. BGE 147 IV 188 E. 1.3.3; Urteile 7B_461/2024 vom 27. August 2024 E. 1.2.3; 7B_523/2023 vom 2. Juli 2024 E. 1.4; 7B_578/2023 vom 23. Oktober 2023 E. 2.3; je mit Hinweisen).
Der Beschwerdeführer macht geltend, ihm sei mit Blick auf Art. 101 StPO die Akteneinsicht zu Unrecht verweigert worden. Damit erscheint der drohende nicht wieder gutzumachende Rechtsnachteil ausreichend erkennbar beziehungsweise dargelegt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
2.
Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zu begründen (Art. 42 Abs. 1 BGG). In der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 143 I 377 E. 1.2). Die Begründung muss sachbezogen sein und erkennen lassen, dass und weshalb nach Auffassung der beschwerdeführenden Partei Recht verletzt ist (BGE 142 I 99 E. 1.7.1). Die beschwerdeführende Partei kann in der Beschwerdeschrift nicht bloss erneut die Rechtsstandpunkte bekräftigen, die sie im kantonalen Verfahren eingenommen hat, sondern hat mit ihrer Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz anzusetzen (BGE 146 IV 297 E. 1.2 mit Hinweisen). Die Begründung der Beschwerde muss in der Beschwerdeschrift selbst enthalten sein, wogegen der blosse Verweis auf Ausführungen in anderen Rechtsschriften oder auf die Akten nicht ausreicht (BGE 143 IV 122 E. 3.3; 141 V 416 E. 4; 138 IV 47 E. 2.8.1; je mit Hinweisen). Eine qualifizierte Begründungspflicht besteht, soweit die Verletzung von Grundrechten einschliesslich Willkür behauptet wird (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 148 IV 39 E. 2.3.5). Auf ungenügend begründete Rügen oder allgemeine appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 147 IV 73 E. 4.1.2; 146 IV 114 E. 2.1; je mit Hinweisen).
3.
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung seines Akteneinsichtsrechts sowie seines Anspruchs auf rechtliches Gehör.
3.1. Nach Art. 101 Abs. 1 StPO können die Parteien spätestens nach der ersten Einvernahme der beschuldigten Person und der Erhebung der übrigen wichtigsten Beweise durch die Staatsanwaltschaft die Akten des Strafverfahrens einsehen; Art. 108 StPO bleibt vorbehalten. Diese Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Der Wortlaut der Bestimmung räumt der Verfahrensleitung einen gewissen Ermessensspielraum ein (BGE 137 IV 280 E. 2.3). Die zuständige Behörde kann die Akteneinsicht jedoch nicht auf unbestimmte Zeit aufschieben, indem sie sich auf Art. 101 Abs. 1 StPO beruft. Sie muss vielmehr dartun, dass die Akteneinsicht den Untersuchungszweck gefährden könnte, und die "wichtigen Beweise" darlegen, die zuvor erhoben werden müssen (zum Ganzen: Urteile 7B_207/2023 vom 22. Februar 2024 E. 2.3.1 mit Hinweisen; 1B_264/2013 vom 17. Oktober 2013 E. 2.1.1; 1B_667/2011 vom 7. Februar 2012 E. 1.2; 1B_597/2011 vom 7. Februar 2012 E. 2.2).
Die wichtigsten Beweise im Sinne von Art. 101 Abs. 1 StPO sind Beweismittel, ohne deren Erhebung die materielle Wahrheit nicht erforscht beziehungsweise das Verfahren nicht mit Anklage, Einstellung oder Strafbefehl abgeschlossen werden kann. Dazu kann allenfalls auch die (erste) Befragung der beschuldigten Person zu (bereits erhobenen) massgeblichen Beweisergebnissen zählen (Urteil 1B_585/2021 vom 16. Februar 2022 E. 2.3 mit Hinweisen).
3.2. Die Vorinstanz erwägt, das Untersuchungsverfahren gestalte sich komplex und aufwendig. Es umfasse einen angeblichen Tatzeitraum von rund fünf Jahren, mindestens sechs Gesellschaften mit Standorten in fünf Kantonen, offenbar hunderte verdächtige Schadensfälle und eine Vielzahl möglicherweise involvierter Personen. Dem Beschwerdeführer und seinem Mitbeschuldigten H.________ werde ein planmässiges betrügerisches Vorgehen mit der C.B.________ GmbH und den später von ihnen offenbar nach einem Franchise-System mitgegründeten Gesellschaften der B.________-Gruppe vorgeworfen. Es werde zurzeit gegen mindestens sechs beschuldigte Personen ermittelt, wobei der Beschwerdeführer und sein Geschäftspartner H.________ aufgrund ihrer Stellung innerhalb der B.________-Gruppe als Hauptbeschuldigte dastünden. Zu den mutmasslich Geschädigten gehörten zahlreiche Versicherungen. Es seien bis zum "Urteilszeitpunkt" bereits diverse Auskunftspersonen, vor allem (ehemalige) Mitarbeitende sowie weitere potenzielle Mitwisser befragt worden. Dennoch würden laufend neue Einvernahmen angesetzt. Es stehe insbesondere der Verdacht im Raum, dass die betreffenden Fahrzeughalter und Versicherungsnehmer vom Vorgehen der B.________-Gruppe gewusst und selbst davon profitiert haben könnten. Es sei daher neben weiteren Einvernahmen mit (ehemaligen) Angestellten allenfalls auch mit Einvernahmen von Kunden der B.________-Gruppe zu rechnen.
Der Beschwerdeführer sei anlässlich der Hafteinvernahme vom 26. April 2023 sowie der Einvernahme vom 23. Mai 2023 noch nicht einlässlich zum Tatvorwurf vernommen worden. An der Einvernahme vom 23. Mai 2023 sei er mit den Aussagen einer Auskunftsperson konfrontiert worden, wonach in der D.B.________ AG zahlreiche Scheiben absichtlich kaputt gemacht worden seien. Weiter seien ihm zwei Videos zu zwei mutmasslich absichtlichen Beschädigungen bei der D.B.________ AG vorgespielt worden. Es seien ihm einzelne Bilder aus den Unterlagen der betroffenen Versicherungen gezeigt worden und er sei zu den Eigentumsverhältnissen an beschlagnahmten Fahrzeugen befragt worden. Er sei in allgemeiner Weise zu seinem Verhältnis zu seinen Mitbeschuldigten befragt worden: wie sie zu einander stünden und wie, wo und wann sie sich kennengelernt hätten und was er noch über sie erzählen könne. Es seien weitere Fragen allgemeiner Art zum Franchising-System der B.________-Gruppe, zur Gründung der C.B.________ GmbH und zur Rekrutierung von Arbeitnehmenden gestellt worden. 46 der vom Beschwerdeführer erwähnten 123 Fragen hätten lediglich seine Person (persönliches Umfeld, Jugend, Ausbildung, Freizeit, Krankenkasse usw.) betroffen, sechs Punkte den Protokollvermerk und die Rechtsmittelbelehrung. Damit sei die Ersteinvernahme im Sinne von Art. 101 Abs. 1 StPO noch nicht erfolgt.
Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten der Staatsanwaltschaft könne angesichts des komplexen und umfangreichen Untersuchungsverfahrens nicht festgestellt werden. Zudem werde die Akteneinsicht nicht vollständig verwehrt, sondern lediglich eingeschränkt.
3.3. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind nicht zu beanstanden:
3.3.1. Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, der angefochtene Beschluss lasse offen, welche wesentlichen Gesichtspunkte zum Zeitpunkt der Urteilsfällung für eine noch nicht erfolgte Ersteinvernahme oder zugunsten noch nicht genügend erhobener wichtiger Beweise sprechen würden, kann ihm nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz legt dar, inwiefern noch keine detaillierten und umfassenden Vorhalte zum umfangreichen Gegenstand der laufenden Strafuntersuchung erfolgt seien. Eine (weitere) Konfrontation des Beschwerdeführers mit den Tatvorwürfen - so die Vorinstanz - setze sorgfältige Abklärungen zu den mutmasslichen Delikten, den Strukturen innerhalb der B.________-Gruppe sowie den erfolgten Geldflüssen voraus. Dass die Vorinstanz bezüglich der Sachlage auf einen völlig veralteten Zeitpunkt und nicht auf den Zeitpunkt der "Urteilsfällung" abstellte, ist nicht ersichtlich. Sodann tut der Beschwerdeführer auch nicht dar, welche weiteren staatsanwaltschaftlichen Untersuchungshandlungen im Zeitraum zwischen Beschwerdeeinreichung und "Urteilfällung" die Vorinstanz ungeprüft gelassen hätte.
3.3.2. Im Weiteren zeigt die Vorinstanz nachvollziehbar auf, dass es sich um ein ausgesprochen komplexes Verfahren mit äusserst umfangreichen Beweiserhebungen handle. Entgegen dem Beschwerdeführer könne ihr zufolge nicht davon ausgegangen werden, dass inzwischen nur noch wenig relevante Beweise erhoben würden beziehungsweise die erste Einvernahme bereits am 23. Mai 2023 hätte abgeschlossen werden können. Mit diesen Feststellungen setzt sich der Beschwerdeführer nicht hinlänglich auseinander. Ausserdem übersieht er, dass zur Erhebung "der wichtigsten Beweise" im Sinne von Art. 101 Abs. 1 StPO auch
weitere Einvernahmen der beschuldigten Person zu neuen Beweismitteln gehören können. Je nach Anzahl und Umfang neuer Beweismittel sowie des Zeitaufwandes für deren Produktion kann die Befragung der beschuldigten Person durchaus längere Zeit in Anspruch nehmen oder erst zu einem späten Zeitpunkt während der Untersuchung erfolgen (HANS/WIPRÄCHTIGER/SCHMUTZ, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N. 15 zu Art. 101 StPO). Dass die Staatsanwaltschaft die erste Einvernahme sowie weitere Einvernahmetermine des Beschwerdeführers hinausgezögert hätte beziehungsweise hinauszögerte, ist weder näher dargetan noch erkennbar. Es verletzt nicht Bundesrecht, wenn dem Beschwerdeführer im hier zu beurteilenden Verfahrenszeitpunkt die vollständige Akteneinsicht verwehrt wird.
4.
Der Beschwerdeführer rügt schliesslich, die Vorinstanz habe ihm entgegen den Art. 130 ff. StPO für das (kantonale) Beschwerdeverfahren die amtliche Verteidigung nicht gewährt.
4.1. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts erstreckt sich die notwendige Verteidigung grundsätzlich nicht auf Beschwerdeverfahren. In solchen Verfahren fällt - jedenfalls wenn die beschuldigte Person Beschwerde führt - einzig die amtliche Verteidigung nach den allgemeinen Regeln der unentgeltlichen Rechtspflege in Betracht. Die Gewährung einer amtlichen Verteidigung wegen Bedürftigkeit setzt sodann den Nachweis der Mittellosigkeit voraus. Dabei obliegt es der Antrag stellenden Partei, ihre aktuellen Einkommens- und Vermögensverhältnisse aufzuzeigen und ihre finanziellen Verpflichtungen zu belegen. Kommt sie dieser Obliegenheit nicht nach, ist der Antrag abzuweisen (zum Ganzen: Urteil 7B_485/2023 vom 11. September 2023 E. 4.3 mit Hinweisen).
4.2. Die Vorinstanz hält fest, angesichts des ausgesprochen umfangreichen Untersuchungsverfahrens und der noch nicht abgeschlossenen Ersteinvernahme erwiesen sich die gestellten Rechtsbegehren als aussichtslos. Im Übrigen äussere sich der Beschwerdeführer in seiner Beschwerde mit keinem Wort zu seinen finanziellen Verhältnissen. Die Voraussetzungen für die amtliche Verbeiständigung im Beschwerdeverfahren seien damit nicht gegeben.
Unter den gegebenen Umständen ist es bundesrechtskonform, wenn die Vorinstanz die kantonale Beschwerde als aussichtslos beurteilt. Wie es sich mit der Bedürftigkeit des Beschwerdeführers verhält, braucht damit nicht behandelt zu werden.
5.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der Beschwerdeführer wird ausgangsgemäss kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war (siehe Art. 64 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist durch eine reduzierte Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern Abteilung 5 Wirtschaftsdelikte und dem Kantonsgericht Luzern, 1. Abteilung, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 23. Dezember 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Koch
Der Gerichtsschreiber: Stadler