Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
2C_551/2021
Urteil vom 24. Januar 2022
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin,
Bundesrichter Donzallaz,
Bundesrichterin Ryter,
Gerichtsschreiber Kocher.
Verfahrensbeteiligte
A.________ AG,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Tax Services & Solutions, lic. iur. Charles Tarcali,
gegen
Eidgenössische Steuerverwaltung,
Hauptabteilung Mehrwertsteuer,
Schwarztorstrasse 50, 3003 Bern.
Gegenstand
Mehrwertsteuer, Steuerperioden 2012-2016,
Beschwerde gegen das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung I, vom 8. Juni 2021 (A-1838/2021).
Sachverhalt:
A.
Die A.________ AG (nachfolgend: die Steuerpflichtige) hat statutarischen Sitz in U.________, Gemeinde V.________/SZ. In Bezug auf die Mehrwertsteuer der Steuerperioden 2012 bis 2016 hatte die Steuerpflichtige Einsprache an die Eidgenössische Steuerverwaltung (ESTV) erhoben. Mit Einspracheentscheid vom 4. März 2021 hiess die ESTV die Einsprache teilweise gut, nämlich im Betrag von Fr. 4'909.--. Die ESTV stellte fest, dass die Steuerpflichtige damit für die streitbetroffenen Steuerperiode, über die von ihr eingereichten Abrechnungen hinaus, Mehrwertsteuern in der Höhe von Fr. 51'829.-- schulde. Die ESTV versandte den Einspracheentscheid vom 4. März 2021 noch am selben Tag. Dabei verwendete sie das Verfahren "A-Post plus".
B.
B.a. Mit Eingabe vom 20. April 2021 gelangte die Steuerpflichtige an das Bundesverwaltungsgericht. Sie beantragte, in Aufhebung des Einspracheentscheids vom 4. März 2021 sei eine Korrektur von insgesamt Fr. 733.20 vorzunehmen und darüber hinaus festzustellen, dass sie für die streitbetroffenen Steuerperioden lediglich die deklarierte Mehrwertsteuer schulde.
B.b. Mit Verfügung vom 29. April 2021 forderte das Bundesverwaltungsgericht die Steuerpflichtige auf, sich zur Frage der Rechtzeitigkeit der Beschwerde Stellung zu äussern. Die Steuerpflichtige antwortete am 6. Mai 2021 dahingehend, dass ihr Rechtsvertreter am 6. März 2021 in den Besitz des Einspracheentscheids gelangt sei. Die Beschwerde sei somit innerhalb der gesetzlichen Frist erfolgt. Die ESTV beantragte in ihrer Stellungnahme vom 20. Mai 2021, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten. Das Bundesverwaltungsgericht hat - was nunmehr unbestritten ist - der Steuerpflichtigen dieses Schriftstück nicht zugestellt.
B.c. Mit Urteil A-1838/2021 vom 8. Juni 2021 trat das Bundesverwaltungsgericht auf die Beschwerde nicht ein. Die Begründung ging im Wesentlichen dahin, dass der Einspracheentscheid gemäss elektronischer Sendungsverfolgung "Track & Trace" der Post CH AG dem Rechtsvertreter der Steuerpflichtigen am Freitag, 5. März 2021 um 11.25 Uhr zugestellt worden sei. Daraus ergebe sich die natürliche Vermutung, dass die Zustellung tatsächlich am 5. März 2021 erfolgt sei. Gründe, aufgrund derer mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit davon auszugehen wäre, dass die Vermutung im konkreten Fall nicht zutreffe, seien nicht ersichtlich. Das allgemeine Vorbringen der Steuerpflichtigen, wonach der Post CH AG Fehler unterlaufen könnten und sie als Adressatin nicht wissen könne, ob die Zustellung tatsächlich am 5. März 2021 erfolgt sei, genüge nicht, um die Aussagekraft der Sendungsverfolgung hinreichend anzuzweifeln. Die Steuerpflichtige lege zwar dar, dass ihr Rechtsvertreter das Schreiben erst am 6. März 2021 in seinem Briefkasten vorgefunden habe, obwohl er seinen Briefkasten täglich leere. Weiter mache die Steuerpflichtige geltend, dass der Rechtsvertreter sich sehr genau an die fragliche Zustellung erinnere, weil die Geschäftsadresse mit seiner Wohnadresse übereinstimme und er an diesem Samstag vor einem Klientenbesuch den Briefkasten geleert und sich über die Sendung gewundert habe. Dieser allgemeine Einwand reiche aber, so das Bundesverwaltungsgericht, nicht aus, um die natürliche Vermutung zu zerstören.
C.
Mit Eingabe vom 7. Juli 2021 erhebt die Steuerpflichtige beim Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei festzustellen, dass sie die Beschwerdefrist im vorinstanzlichen Verfahren gewahrt habe. Die Vorinstanz sei anzuweisen, die Sache materiell an die Hand zu nehmen. Die Steuerpflichtige rügt insbesondere, dass das Bundesverwaltungsgericht ihr verfassungsmässiges Individualrecht auf rechtliches Gehör verletzt habe, indem es entschieden haben, ohne ihr die Vernehmlassung der ESTV vom 20. Mai 2021 zur Stellungnahme zuzustellen.
D.
Der seinerzeitige Abteilungspräsident als Instruktionsrichter (Art. 32 Abs. 1 BGG [SR 173.110]) hat einen Schriftenwechsel (Art. 102 Abs. 1 BGG) angeordnet. Das Bundesverwaltungsgericht bestätigt, dass der Steuerpflichtigen die Stellungnahme der ESTV vom 20. Mai 2021 nicht bekanntgegeben worden sei. Dies sei irrtümlicherweise unterlassen worden. Es werde dem Bundesgericht überlassen, über den weiteren Fortgang des Verfahrens zu befinden. Die ESTV beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf überhaupt einzutreten sei. Die Steuerpflichtige liess sich abschliessend vernehmen und bestätigte ihre gestellten Anträge.
E.
Mit Verfügung vom 13. September 2021 gewährte das damals tätige präsidierende Mitglied der Steuerpflichtigen die Möglichkeit der ratenweisen Bezahlung des Kostenvorschusses.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 lit. a, Art. 83 e contrario, Art. 86 Abs. 1 lit. a, Art. 89 Abs. 1, Art. 90 und Art. 100 Abs. 1 BGG ) sind gegeben.
1.2. Das Bundesgericht wendet das Bundesgesetzesrecht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG) und prüft es mit uneingeschränkter (voller) Kognition (Art. 95 lit. a BGG; BGE 147 II 300 E. 1).
1.3. Im Unterschied zum Bundesgesetzesrecht geht das Bundesgericht der Verletzung verfassungsmässiger Individualrechte (einschliesslich der Grundrechte) nur nach, falls und soweit eine solche Rüge in der Beschwerde überhaupt vorgebracht und ausreichend begründet worden ist (qualifizierte Rüge- und Begründungsobliegenheit gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 I 194 E. 3.4; 147 II 44 E. 1.2; 147 V 156 E. 7.2.3). Die beschwerdeführende Person hat daher klar und detailliert anhand der Erwägungen des angefochtenen Entscheids darzulegen, dass und inwiefern verfassungsmässige Individualrechte verletzt worden sein sollen (BGE 146 I 62 E. 3; 146 IV 114 E. 2.1).
1.4. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG; BGE 147 V 124 E. 1.1). Es stellt deshalb grundsätzlich auf die sachverhaltlichen Elemente im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids ab (BGE 147 II 49 E. 3.3).
2.
2.1. Formelle Rügen - wie namentlich Gehörsrügen - können ungeachtet der materiellen Begründetheit des Rechtsmittels zur Gutheissung der Beschwerde und zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids führen, weshalb sie vorab zu behandeln sind (Urteile 2C_788/2021 vom 27. Oktober 2021 E. 3.1; 2C_196/2017 vom 21. Februar 2019 E. 3, nicht publ. in: BGE 145 II 49; insbesondere zur formellen Natur des Gehörsanspruchs: BGE 144 I 11 E. 5.3; 144 IV 302 E. 3.1; 143 IV E. 1.4.1; 142 II 218 E. 2.8.1; 137 I 195 E. 2.2).
2.2. Dementsprechend ist zunächst der Frage nachzugehen, ob die Steuerpflichtige durch die vorinstanzliche Verfahrensführung in ihrem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt worden sei, wie die Steuerpflichtige dies im bundesgerichtlichen Verfahren geltend macht.
2.2.1. Gemäss Art. 29 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 BV haben die an einem Gerichtsverfahren beteiligten Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör und auf ein faires Gerichtsverfahren. Daraus ergibt sich auch das Recht einer Prozesspartei, von allen von den Gegenparteien bei Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können, unabhängig davon, ob diese Eingaben auch wirklich neue und/oder wesentliche Vorbringen enthalten. Es ist alleinige Sache der Parteien - und nicht des Gerichts - darüber zu befinden, ob eine Entgegnung erforderlich sei (BGE 146 III 97 E. 3.4.1; 142 III 48 E. 4.1.1; 139 I 189 E. 3.2; 138 I 484 E. 2.1; 137 I 195 E. 2; siehe auch BGE 146 IV 218 E. 3.1.1 zum Recht auf Akteneinsicht). Das
unbedingte Replikrecht, erstreckt sich auch auf Rechtsbereiche, die als solche nicht unter Art. 6 EMRK fallen (BGE 138 I 154 E. 2.3.3; 133 I 100 E. 4.5 und 4.6).
2.2.2. Der Wahrung des Gehörsanspruchs kommt indes kein Selbstzweck zu. Sofern nicht ersichtlich ist, dass und inwiefern die Gehörsverletzung sich auf das Verfahren hätte auswirken können, besteht keinerlei Anlass zur Aufhebung des gehörsverletzenden Entscheids (BGE 143 IV 380 E. 1.4.1; Urteil 4A_428/2020 vom 1. April 2021 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 147 III 419). Ist die erforderliche Kausalität aber gegeben, ist unter Umständen die Möglichkeit einer Heilung des verletzten Gehörsanspruchs durch die angerufene Oberinstanz zu prüfen. Die Heilung hat aber die Ausnahme zu bleiben. Was namentlich die (ausnahmsweise) Heilung im bundesgerichtlichen Verfahrens angeht, hängt diese insbesondere davon ab, ob das Bundesgericht im fraglichen Bereich über freie Kognition (Art. 106 Abs. 1 BGG; vorne E. 1.2) verfügt. Dies ist grundsätzlich nur der Fall, soweit sich Fragen aus dem Bereich des eidgenössischen Rechts stellen (BGE 146 III 97 E. 3.5.2; 142 III 48 E. 4.3 mit Hinweisen). Zudem darf es sich um keine besonders schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör handeln (BGE 144 III 394 E. 4.4; 133 I 201 E. 2.2).
2.2.3. Selbst im Fall einer besonders schwerwiegenden Beeinträchtigung des Gehörsanspruchs ist die Sache aber nicht in jedem Fall an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Sinne einer Gegenausnahme sieht das Bundesgericht mitunter von der Aufhebung des gehörsverletzenden Entscheids und der Rückweisung an die Vorinstanz ab, wenn dieses Vorgehen zu einem formalistischen Leerlauf ("
vaine formalité ") und damit zu einer unnötigen Verzögerung führen würde, die mit dem Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache unvereinbar wäre (Urteil 4D_76/2020 vom 2. Juni 2021 E. 4.2, nicht publ. in: BGE 147 III 440; BGE 147 IV 340 E. 4.11.3; 142 II 218 E. 2.8.1; 137 I 195 E. 2.3.2). Die Praxis ist aber nicht ganz einheitlich, indem das Bundesgericht mitunter auch in derartigen Fällen die Rückweisung an die Vorinstanz angeordnet hat (so etwa BGE 137 I 195 E. 2.7 a.E.).
2.3.
2.3.1. In sachverhaltlicher Hinsicht hat die Vorinstanz in ihrer Vernehmlassung vom 11. November 2021 bestätigt, dass sie die von der ESTV am 20. Mai 2021 eingereichte Stellungnahme an die Steuerpflichtige nicht weitergeleitet habe. Der angefochtene Entscheid ist damit ergangen, ohne dass die Steuerpflichtige Gelegenheit gehabt hätte, sich zur Sichtweise der ESTV zu äussern. Der Blick in das vorinstanzliche Dossier zeigt, dass die Vernehmlassung vom 20. Mai 2021 keineswegs kurz ausgefallen ist. Sie erstreckt sich über drei dicht beschriebene Seiten, wobei die ESTV mitunter sachverhaltliche Vermutungen äussert, die einer näheren Überprüfung bedürfen.
2.3.2. Es kann offenbleiben, ob überhaupt eine "besonders schwerwiegende Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör" im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung vorliegt. Entscheidend ist hier einzig, dass es nicht Sache des Bundesgerichts sein kann, den Sachverhalt abschliessend zu überprüfen, zumal ihm in diesem Bereich keine volle Kognition zusteht (Art. 105 Abs. 1 BGG; vorne E. 1.4 in Verbindung mit E. 1.3). Darüber hinaus ist auch keine zeitliche Notwendigkeit ersichtlich, die zu einem unmittelbaren höchstrichterlichen Entscheid zu führen hätte: Streitbetroffen sind die Steuerperioden 2012 bis 2016 (Sachverhalt, lit. A). Die Festsetzungsverjährung wird, gestaffelt, ab dem 1. Januar 2023 eintreten (Art. 42 Abs. 6 des Bundesgesetzes vom 12. Juni 2009 über die Mehrwertsteuer [MWSTG 2009; SR 641.20]). Mit Blick auf die zu klärenden Rechtsfragen sollte es möglich sein, dass die Vorinstanz - nach erfolgter vollständiger Gewährung des rechtlichen Gehörs - bald einen neuen Endentscheid treffen kann.
2.4. In diesem Sinne ist die Sache, in Aufhebung des angefochtenen Entscheids, an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Beschwerde erweist sich als begründet. Sie ist gutzuheissen.
3.
3.1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Kosten nach dem Unterliegerprinzip der ESTV aufzuerlegen, die in ihrer Eigenschaft als Abgabegläubigerin Vermögensinteressen im Sinne von Art. 66 Abs. 4 BGG verfolgt (Art. 65 in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG).
3.2. Die ESTV hat der Steuerpflichtigen, die sich durch ein Treuhandbüro vertreten lässt, eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 9 des Reglements des Bundesgerichts vom 31. März 2006 über die Parteientschädigung und die Entschädigung für die amtliche Vertretung im Verfahren vor dem Bundesgericht [SR 173.110.210.3]).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil A-1838/2021 des Bundesverwaltungsgerichts, Abteilung I, vom 8. Juni 2021 aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens von Fr. 3'000.-- werden der Eidgenössischen Steuerverwaltung auferlegt.
3.
Die Eidgenössische Steuerverwaltung hat der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- auszurichten.
4.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Bundesverwaltungsgericht, Abteilung I, mitgeteilt.
Lausanne, 24. Januar 2022
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin
Der Gerichtsschreiber: Kocher