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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
4P.10/2003 /rnd 
 
Sitzung vom 24. Juni 2003 
I. Zivilabteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Corboz, Präsident, 
Bundesrichter Walter, Bundesrichterinnen Klett, Rottenberg Liatowitsch, Bundesrichter Nyffeler. 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________ AG, 
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Rahel Bächtold, Grüngasse 31, Postfach 1138, 
8026 Zürich, 
 
gegen 
 
A.________, 
Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ulrich Würgler, Merkurstrasse 25, 8400 Winterthur, 
Obergericht des Kantons Thurgau, 
 
Gegenstand 
Art. 9 und 29 Abs. 2 BV (Zivilprozess; Beweiswürdigung; rechtliches Gehör), 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. August 2002. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
A.________ (nachfolgend: der Beschwerdegegner) war in der Zeitspanne vom 15. Oktober 1992 bis 31. März 2000 bei der X.________ AG (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) tätig. Zu seinen Aufgaben gehörte die Mitarbeit bei der technischen Entwicklung von Produkten. So war der Beschwerdegegner an der im Februar 1996 lancierten Entwicklung des Projekts "Y.________" beteiligt. Es handelte sich dabei um die Entwicklung einer neuen Strassenkappe und um die Herstellung eines Drehwerkzeuges, mit welchem die Strassenkappe bewegt werden kann. Ende 1999 liess die Beschwerdeführerin eine Serie von 110 Drehwerkzeugen anfertigen. 
 
Anlässlich der Auflösung des Arbeitsverhältnisses per Ende März 2000 schlossen die Parteien am 28. März 2000 eine Vereinbarung, wonach die Beschwerdeführerin die Kosten für eine vom Beschwerdegegner zu bezahlende Reparatur des Geschäftsautos übernahm und der Beschwerdegegner im Gegenzug auf den pro-rata-Bonus für das Jahr 2000 verzichtete. Zudem vereinbarten die Parteien, dass sämtliche Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis mit Vollzug der Vereinbarung per Saldo ausgeglichen seien. 
 
Gemäss den Behauptungen der Beschwerdeführerin soll es im Herbst 2000 zu Reklamationen wegen der Verformung von Drehwerkzeugen gekommen sein. Ein Test soll ergeben haben, dass die Kraft zweier Männer bei genügend Drehwiderstand ausreiche, um die Teleskop-Rohre der Drehwerkzeuge zu verbiegen. Diesen Mangel führte die Beschwerdeführerin darauf zurück, dass der Beschwerdegegner bei der Erstellung der Werkstattzeichnungen für die Rohre der Drehwerkzeuge von den Berechnungen des Ingenieurs eigenmächtig abgewichen sei. In der Folge verlangte die Beschwerdeführerin vom Beschwerdegegner Schadenersatz. 
B. 
Mit Klage vom 21. April 2001 beantragte die Beschwerdeführerin beim Bezirksgericht Weinfelden, der Beschwerdegegner sei zu verpflichten, ihr Fr. 27'522.-- nebst Zins zu bezahlen. Mit Urteil vom 9./28. Februar 2002 wies die bezirksgerichtliche Kommission des Bezirksgerichts Weinfelden die Klage ab. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung, welche das Obergericht des Kantons Thurgau mit Urteil vom 15. August 2002 abwies. 
C. 
Die Beschwerdeführerin ficht das Urteil des Obergerichts sowohl mit staatsrechtlicher Beschwerde als auch mit Berufung an. Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt sie die Aufhebung des Urteils des Obergerichts. Der Beschwerdegegner schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf eingetreten wird. Das Obergericht beantragt ebenfalls die Abweisung der Beschwerde. 
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Nach Art. 57 Abs. 5 OG wird in der Regel die Entscheidung über die Berufung bis zur Erledigung einer staatsrechtlichen Beschwerde ausgesetzt, wenn beide Rechtsmittel ergriffen worden sind. Nach der neueren bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird aber dann von diesem Grundsatz abgewichen, wenn der Entscheid über die staats- rechtliche Beschwerde keinen Einfluss auf die Behandlung der Beru- fung hat, weil diese selbst auf der Grundlage der mit der staatsrechtlichen Beschwerde kritisierten tatsächlichen Feststellungen gutzuheissen ist (BGE 122 I 81 E. 1 S. 82f; 120 Ia 377 E. 1 S. 378f.). 
 
Der prinzipielle Vorrang der staatsrechtlichen Beschwerde rechtfertigt sich aus der Erwägung, dass die Berufung reformatorisch wirkt, der Entscheid des Bundesgerichts somit an die Stelle des angefochtenen Urteils tritt und eine allfällige Verfassungswidrigkeit in der Sachverhaltsfeststellung gar nicht mehr korrigiert werden könnte, wenn die Berufung vorweg entschieden würde. Dies ist insbesondere dann zu befürchten, wenn auf der Grundlage des verbindlichen Sachverhalts die Berufung gutgeheissen und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen wird. In diesem Fall sind sämtliche späteren Entscheide - sowohl der kantonalen Instanz wie des Bun- desgerichts bei der neuerlichen Berufung - auf der Grundlage des verbindlichen Sachverhalts zu fällen. Richtet sich die staatsrechtliche Beschwerde in diesem Fall gegen eine Tatsache, die zwar für die Gutheissung der Berufung nicht direkt massgebend, aber dennoch in anderem Zusammenhang rechtserheblich ist, so wird der neue Entscheid unter Umständen auf einer willkürlichen Tatsachenfeststellung erlassen. Eine Vorwegbehandlung der Berufung würde sich daher nur und ausschliesslich rechtfertigen, wenn sämtliche als verfassungswidrig gerügten Tatsachen rechtlich unerheblich sind. 
 
 
Vorliegend ist von der gesetzlichen Regel nicht abzuweichen. Das angefochtene Urteil beruht auf zwei selbständigen Begründungen, deren beide je mit dem richtigen Rechtsmittel angefochten werden müssen (BGE 115 II 300 E. 2a S. 302). Zur Aufrechterhaltung des Entscheids reicht es aus, wenn eine der beiden Begründungen das Urteil zu stützen vermag. Gemäss Art. 57 Abs. 5 OG ist zunächst die Beschwerde zu behandeln. Wenn eine der selbständigen Begründungen verfassungsmässige Rechte verletzt, die andere nicht, so ist die Beschwerde ihrerseits auszusetzen und in der Berufung zu beurteilen, ob der angefochtene Entscheid mit der anderen selbständigen Begründung gestützt werden kann (BGE 86 I 224 S. 226; 85 II 580 E. 3 S. 586 und E. 5 S. 592). 
2. 
2.1 In der Hauptbegründung vertritt das Obergericht die Auffassung, dass die in die Vereinbarung der Parteien vom 28. März 2000 aufgenommene Saldoklausel sich nicht nur auf den pro-rata-Bonus und die Autoreparaturkosten, sondern auch auf Schadenersatzansprüche aus dem Arbeitsverhältnis bezieht. Die Beschwerdeführerin rügt, das Obergericht habe ihren Gehörsanspruch verletzt, indem es die Zeugenaussagen und die Aussagen der Gegenpartei zum tatsächlichen Parteiwillen in Bezug auf die Saldoquittung nicht gewürdigt habe. 
2.2 Der in Art. 29 Abs. 2 BV verankerte Anspruch auf rechtliches Gehör gibt dem Betroffenen das Recht, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zu äussern, erhebliche Be- weise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56, mit Hinweisen). Dem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörde, die Argumente und Verfahrensanträge der Partei entgegenzunehmen und zu prüfen sowie die ihr rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweismittel abzunehmen, es sei denn, diese beträfen eine nicht erhebliche Tatsache oder seien offensichtlich untauglich, über die streitige Tatsache Beweis zu erbringen (BGE 124 I 241 E. 2 S. 242, mit Hinweisen). 
2.3 Ist der Inhalt einer Vereinbarung strittig und vermag eine der Parteien einen tatsächlichen übereinstimmenden Parteiwillen nachzuweisen, geht dieser dem mutmasslichen, nach dem Vertrauensprinzip ermittelten Parteiwillen vor (Art. 18 Abs. 1 OR; BGE 129 III 118 E. 2.5 S. 122). Im vorliegenden Fall weist die Beschwerdeführerin nach, bereits im kantonalen Verfahren prozesskonform behauptet zu haben, die Parteien hätten die Saldoklausel übereinstimmend in dem Sinne verstanden, dass die streitige Schadenersatzforderung nicht erfasst sei. Auch belegt die Beschwerdeführerin, im kantonalen Verfahren prozesskonform Beweise dafür angeboten zu haben. Das Obergericht setzte sich mit den rechtserheblichen Behauptungen der Beschwerdeführerin nicht auseinander und unterliess es insbesondere, die in den Akten liegenden Aussagen zu würdigen. Die staatsrechtliche Beschwerde ist daher insoweit begründet. 
3. 
Alle weiteren Rügen der Beschwerdeführerin sowohl bezüglich der Haupt- als auch der Nebenbegründung des angefochtenen Entscheids betreffen Fragen des Bundeszivilrechts. Die Rüge falscher Anwendung von Bundeszivilrecht ist in berufungsfähigen Streitsachen mit Berufung vorzubringen (Art. 43 OG), so dass die staatsrechtliche Beschwerde insofern verschlossen bleibt (Art. 84 Abs. 2 OG). Vorliegend steht eine vermögensrechtliche Streitsache zur Beurteilung, deren Streitwert über Fr. 8'000.-- liegt. Berufungsfähigkeit ist somit gegeben (Art. 46 OG). Auf die staatsrechtliche Beschwerde ist insoweit nicht einzutreten. 
4. 
Die Beschwerdeführerin ficht das Urteil des Obergerichts in Bezug auf die Nebenbegründung auch mit Berufung an. Hält das angefochtene Urteil vor Bundesrecht stand, so fehlt der Beschwerdeführerin ein aktuelles, praktisches Interesse an der Beschwerdeführung und ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Wie es sich damit verhält, kann die mit beiden Rechtsmitteln befasste Zivilabteilung in der Weise klären, dass sie das Beschwerdeverfahren aussetzt und im Berufungsverfahren beurteilt, ob der angefochtene Entscheid mit der anderen selbständigen Begründung gestützt werden kann (BGE 86 II 224 S. 226). Trifft dies nicht zu, ist die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. 
 
Diese Sachlage ist nach dem Verlauf der heutigen Beratung im Berufungsverfahren in der Tat gegeben (Urteil des Bundesgerichts 4C.16/2003 vom 24. Juni 2003). 
5. 
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die staatsrechtliche Beschwerde gutzuheissen und das angefochtene Urteil aufzuheben ist, da die Hauptbegründung vor der Verfassung nicht standhält und die Nebenbegründung bundesrechtswidrig ist. Da es sich um eine arbeitsrechtliche Streitigkeit handelt und der Streitwert unter Fr. 30'000.-- liegt, sind gemäss Art. 343 Abs. 3 OR keine Gerichtsgebühren zu erheben. Hingegen hat der Beschwerdegegner die anwaltlich vertretene Beschwerdeführerin zu entschädigen (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die staatsrechtliche Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 15. August 2002 aufgehoben. 
2. 
Es wird keine Gerichtsgebühr erhoben. 
3. 
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, den 24. Juni 2003 
Im Namen der I. Zivilabteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: