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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
2C_612/2023  
 
 
Urteil vom 24. Juli 2024  
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Aubry Girardin, Präsidentin, 
Bundesrichterin Hänni, 
Bundesrichter Kradolfer, 
Gerichtsschreiber Hongler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatssekretariat für Migration, 
Quellenweg 6, 3003 Bern, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
A.________, 
Beschwerdegegnerin, vertreten durch 
Rechtsanwalt Dr. Marc Spescha, 
 
Migrationsamt des Kantons Schaffhausen, Mühlentalstrasse 105, 8200 Schaffhausen, 
Regierungsrat des Kantons Schaffhausen, Beckenstube 7, 8200 Schaffhausen. 
 
Gegenstand 
Sistierung des Familiennachzugsverfahrens, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 10. Oktober 2023 (60/2023/4). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
A.________ (geb. 1985) ist nordmazedonische Staatsangehörige und kam im Alter von fünf Jahren im Familiennachzug in die Schweiz. Sie verfügt über eine Niederlassungsbewilligung. Im Juni 2016, Mai 2018 sowie Februar 2021 ersuchte B.________ (geb. 1994), ebenfalls nordmazedonischer Staatsangehöriger, um Erteilung eines Visums zur Vorbereitung der Ehe mit A.________. Am 5. Juni 2021 fand die Eheschliessung des Paares in Schaffhausen statt. Das Ehepaar hat zwei gemeinsame Kinder (geb. 2020 und 2021). 
Mit Verfügung vom 12. August 2014 sprach das Migrationsamt des Kantons Schaffhausen gegenüber A.________ aufgrund zahlreicher Strafbefehle und einer hohen Verschuldung eine formelle Verwarnung aus. 
Mit Verfügung vom 5. November 2020 wurde A.________ erneut formell verwarnt und es wurde ihr der Widerruf der Niederlassungsbewilligung bzw. die Rückstufung auf eine Aufenthaltsbewilligung angedroht, sollte sie weiterhin zu Klagen Anlass geben. 
 
B.  
 
B.a. Am 7. Juni 2021 ersuchte A.________ um Bewilligung des Familiennachzugs für ihren Ehemann B.________.  
 
B.b. Am 10. Dezember 2021 erhob die Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen gegen A.________ Anklage wegen mehrfachen gewerbsmässigen Betrugs, mehrfachen Betrugs, mehrfachen versuchten Betrugs, Diebstahl, Sachentziehung, Erpressung, mehrfacher Nötigung sowie Zechprellerei (begangen zwischen 2013 und 2020); neben einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten beantragte die Staatsanwaltschaft einen Landesverweis von A.________ für die Dauer von neun Jahren. Die Anklageschrift ging beim Migrationsamt Schaffhausen am 2. März 2022 ein (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
B.c. Am 22. Dezember 2021 leitete das Migrationsamt ein Verfahren betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung von A.________ bzw. Rückstufung auf eine Aufenthaltsbewilligung ein. Gleichzeitig sistierte das Migrationsamt das Familiennachzugsverfahren bis zum Abschluss des Widerrufs- bzw. Rückstufungsverfahrens.  
 
 
B.d. Am 4. März 2022 teilte das Migrationsamt A.________ mit, dass aufgrund des laufenden Strafverfahrens auch das Widerrufs- bzw. Rückstufungsverfahren sistiert werde.  
 
B.e. Am 22. März 2022 erklärte A.________, sie habe gegen die Sistierung des Widerrufs- und Rückstufungsverfahrens keine Einwände, sei jedoch mit der Sistierung des Familiennachzugsverfahrens nicht einverstanden.  
 
B.f. Mit Verfügung vom 14. April 2022 sistierte das Migrationsamt das Familiennachzugsverfahren bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils in der Strafsache.  
Den gegen diese Verfügung am 6. Mai 2022 erhobenen Rekurs wies der Regierungsrat des Kantons Schaffhausen mit Verfügung vom 17. Januar 2023 ab. 
Die hiergegen erhobene Beschwerde vom 6. Februar 2023 hiess das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 10. Oktober 2023 gut, hob den Beschluss des Regierungsrats vom 17. Januar 2023 auf, und wies das Migrationsamt an, das Familiennachzugsverfahren umgehend fortzusetzen. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 31. Oktober 2023 erhebt das Staatssekretariat für Migration SEM vor Bundesgericht Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Das SEM beantragt, der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen 60/2023/4 vom 10. Oktober 2023 sei aufzuheben und es sei die Verfügung des Migrationsamts des Kantons Schaffhausen zu bestätigen. 
Der Regierungsrat und das Migrationsamt des Kantons Schaffhausen beantragen die vollumfängliche Gutheissung der Beschwerde; es sei der Beschluss des Regierungsrates (Nr. 2/25) vom 17. Januar 2023 vollumfänglich zu bestätigen. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten des Beschwerdeführers. In verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt sie die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege und die Bestellung von Rechtsanwalt Dr. Marc Spescha als unentgeltlicher Rechtsbeistand. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 149 II 476 E. 1; 149 II 462 E. 1.1).  
 
1.2. Das vorliegende Verfahren betrifft einen Entscheid des Obergerichts Schaffhausen, mit welchem dieses den Beschluss des Regierungsrats des Kantons Schaffhausen, das Familiennachzugsverfahren der Beschwerdeführerin bis zur Rechtskraft des Strafverfahrens zu sistieren, aufgehoben hat.  
Fraglich ist, ob dieser Entscheid vor Bundesgericht angefochten werden kann; insbesondere ist zu beurteilen, ob es sich dabei um ein zulässiges Anfechtungsobjekt (Art. 90-93 BGG) handelt. 
 
1.3. Endentscheide (Art. 90 BGG) und Teilentscheide (Art. 91 BGG) sind ohne weiteres zulässige Anfechtungsobjekte im bundesgerichtlichen Verfahren (vgl. das Urteil 2C_179/2023 vom 4. Juni 2024 E. 1.1.1, zur Publikation bestimmt, mit zahlreichen Hinweisen).  
Demgegenüber ist ein Entscheid, der das Verfahren nicht abschliesst, sondern lediglich einen Schritt auf dem Weg zum Endentscheid darstellt, in der Systematik des Bundesgerichtsgesetzes ein Vor- und Zwischenentscheid (Art. 92 f. BGG; BGE 147 III 451 E. 1.2; 139 V 42 E. 2.3; 133 V 477 E. 4.1.3; Urteil 2C_179/2023 vom 4. Juni 2024 E. 1.1.2; zur Publikation bestimmt). Betrifft der Zwischenentscheid weder Zuständigkeit noch Ausstand (Art. 92 Abs. 1 BGG), ist er einzig nach Massgabe von Art. 93 BGG an das Bundesgericht weiterziehbar. Die Anfechtbarkeit hängt davon ab, dass der Zwischenentscheid entweder einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur bewirkt (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; BGE 147 III 159 E. 4.1; 147 IV 188 E. 1.3.2; 142 III 798 E. 2.2; Urteil 2C_179/2023 vom 4. Juni 2024 E. 1.1.2, zur Publikation bestimmt), oder dass das Bundesgericht durch Gutheissung der Beschwerde einen Endentscheid herbeiführen könnte und damit ein bedeutender Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren vermieden würde (Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG; BGE 134 III 426 E. 1.3.2; Urteil 2C_179/2023 vom 4. Juni 2024 E. 1.1.2, zur Publikation bestimmt). 
Die selbständige Anfechtbarkeit von Zwischenentscheiden bildet aus prozessökonomischen Gründen eine Ausnahme vom Grundsatz, dass sich das Bundesgericht mit jeder Angelegenheit nur einmal befassen soll (BGE 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2; 141 III 80 E. 1.2). Die Ausnahme ist restriktiv zu handhaben (BGE 144 III 475 E. 1.2; 138 III 94 E. 2.2; BGE 134 III 188). Dass im konkreten Fall ein nicht wieder gutzumachender Nachteil droht, ist in der Beschwerdebegründung aufzuzeigen, soweit ein solcher nicht ohne Weiteres ins Auge springt. Andernfalls ist auf die Beschwerde nicht einzutreten (BGE 144 III 475 E. 1.2; 142 III 798 E. 2.2; 141 III 80 E. 1.2; Urteil 2C_708/2022 vom 26. September 2022 E. 2.2). 
 
1.4. Entscheide betreffend Sistierung - das heisst der Entscheid der ersten oder der Rechtsmittelinstanz, das Verfahren vorübergehend zu unterbrechen und erst zu einem späteren Zeitpunkt (z.B. in Abhängigkeit vom Ausgang eines anderen Verfahrens) fortzusetzen, oder aber der Entscheid, ein Verfahren nicht zu sistieren - stellen praxisgemäss Zwischenentscheide i.S.v. Art. 93 BGG dar (BGE 138 IV 258 E. 1.1; 138 III 190 E. 6; 122 II 11 E. 1c; Urteil 2C_910/2022 vom 8. Januar 2024 E. 1.2.3; vgl. auch GRÉGORY BOVEY, Commentaire de la LTF, 3. Aufl. 2022, N. 14 und 17 [S. 1493] zu Art. 93 BGG; NICOLAS VON WERDT, Bundesgerichtsgesetz BGG, 2. Aufl. 2015, N. 9 zu Art. 93 BGG).  
 
1.5. Das Staatssekretariat für Migration, das davon auszugehen scheint, dass es sich beim angefochtenen Entscheid um einen Endentscheid i.S.v. Art. 90 BGG handelt, zeigt in der Beschwerde mit keinem Wort auf, inwiefern ihm durch die Aufhebung der Sistierung durch das Obergericht ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen würde (vorne E. 1.3).  
Zudem springt ein solcher vorliegend auch nicht ohne Weiteres ins Auge. Das Obergericht Schaffhausen hat im Rahmen des angefochtenen Zwischenentscheids inhaltlich keinerlei Anweisungen betreffend die materielle Beurteilung des Familiennachzugsgesuchs erteilt. Sodann ist insbesondere nicht ersichtlich, dass die geltend gemachte Verletzung der Kollisionsbestimmungen von Art. 62 Abs. 2 respektive Art. 63 Abs. 3 AIG sowie die Frage der Koordination von Straf- und Verwaltungsverfahren nicht auch im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid in der Hauptsache aufgeworfen und beurteilt werden könnten. Das Staatssekretariat für Migration ist gemäss Art. 111 Abs. 2 BGG i.V.m. Art. 14 Abs. 2 der Organisationsverordnung für das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (OV-EJPD; SR 172.213.1) in den Bereichen des Ausländer- und Bürgerrechts zur Beschwerde vor den kantonalen Instanzen legitimiert (vgl. BGE 141 II 169 E. 4.3.1; Urteile 2C_144/2021 vom 3. September 2021 E. 1.5.2; 2C_798/2019 vom 29. Januar 2020 E. 1.5.4). Es steht dem Staatssekretariat zudem frei, von den kantonalen Behörden zu verlangen, dass ihm die entsprechende Verfügung mitgeteilt wird (vgl. auch das Urteil 2C_798/2019 vom 29. Januar 2020 E. 1.5.4). 
Die Aufhebung der Sistierung durch das Obergericht des Kantons Schaffhausen und die damit verbundene Aufforderung an das kantonale Migrationsamt, das Familiennachzugsverfahren umgehend fortzusetzen, führt gerade dazu, dass in absehbarer Zeit ein (anfechtbarer) Endentscheid betreffend den Familiennachzug ergehen wird, gegen den das SEM den kantonalen Rechtsmittelweg bis ans Bundesgericht beschreiten kann. In diesem Kontext steht es dem Staatssekretariat denn auch frei, geltend zu machen, dass der Entscheid über den Familiennachzug das von ihr angerufene Koordinationsgebot verletze (vgl. auch Art. 93 Abs. 3 BGG). 
 
1.6. Unter diesen Umständen ist nicht ersichtlich, inwiefern das Staatssekretariat für Migration durch den angefochtenen Entscheid des Obergerichts Schaffhausen vom 10. Oktober 2023 betreffend Aufhebung der Sistierung einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG erleidet; dieser kann deshalb vor Bundesgericht nicht angefochten werden.  
Schliesslich ist ebenfalls weder dargetan noch ersichtlich, dass die Gutheissung der Beschwerde vorliegend sofort einen Endentscheid i.S.v. Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG herbeiführen würde; im Gegenteil würde die Sache an die kantonale Instanz zurückgewiesen und bis auf weiteres und mit ungewissem Ausgang sistiert (vgl. zum Erfordernis des sofortigen Endentscheids auch GRÉGORY BOVEY, Commentaire de la LTF, 3. Aufl. 2022, N. 24-33 zu Art. 93 BGG mit Hinweisen auf die Rechtsprechung; FELIX UHLMANN, Basler Kommentar Bundesgerichtsgesetz, 3. Aufl. 2018, N. 21 zu Art. 93 BGG; NICOLAS VON WERDT, Bundesgerichtsgesetz BGG, 2. Aufl. 2015, N. 33 zu Art. 93 BGG).  
 
2.  
 
2.1. Die Beschwerde erweist sich als unzulässig und es ist darauf nicht einzutreten.  
 
2.2. Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Das SEM hat der Beschwerdegegnerin eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege im bundesgerichtlichen Verfahren wird damit gegenstandslos.  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Das Staatssekretariat für Migration hat dem Rechtsvertreter der Beschwerdegegnerin, Rechtsanwalt Dr. Marc Spescha, eine Parteientschädigung von Fr. 2'500.-- zu bezahlen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. Juli 2024 
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: F. Aubry Girardin 
 
Der Gerichtsschreiber: D. Hongler