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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8C_364/2012 
 
Urteil vom 24. August 2012 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard, 
Gerichtsschreiberin Berger Götz. 
 
Verfahrensbeteiligte 
U.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Laube, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich, Brunngasse 6, 8400 Winterthur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Arbeitslosenversicherung (Insolvenzentschädigung), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversiche-rungsgerichts des Kantons Zürich vom 20. März 2012. 
 
Sachverhalt: 
 
A. 
Der 1986 geborene U.________ war ab 1. Dezember 2008 als Chauffeur für die X.________ GmbH tätig. Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis mit Schreiben vom 25. November 2009 per 31. Dezember 2009. Am 12. April 2010 wurde über die Gesellschaft der Konkurs eröffnet. U.________ machte daraufhin am 28. Juni 2010 im Konkurs eine Forderung im Betrag von Fr. 16'092.86 für während der Monate Oktober bis Dezember 2009 unbezahlt gebliebenen Lohn sowie eine Vergütung für zehn nicht bezogene Ferientage geltend und stellte am 5. Juli 2010 bei der Arbeitslosenkasse des Kantons Zürich Antrag auf Insolvenzentschädigung in der gleichen Höhe. Mit Verfügung vom 24. August 2010 lehnte die Arbeitslosenkasse ihre Leistungspflicht mit der Begründung ab, der Versicherte sei seiner Schadenminderungspflicht nicht nachgekommen. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest (Einspracheentscheid vom 9. November 2010). 
 
B. 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 20. März 2012). 
 
C. 
U.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihm eine Insolvenzentschädigung von Fr. 16'092.86 zuzüglich Zins zu 5 %, spätestens ab 31. Dezember 2011, auszurichten. 
 
Die Arbeitslosenkasse beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, während das Staatssekretariat für Wirtschaft auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2. 
2.1 Im angefochtenen Gerichtsentscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze zum Anspruch auf Insolvenzentschädigung (Art. 51 Abs. 1 und Art. 58 AVIG; vgl. auch BGE 134 V 88) sowie zu den Pflichten des Arbeitnehmers im Konkurs- oder Pfändungsverfahren (Art. 55 Abs. 1 AVIG; BGE 114 V 56 E. 3d S. 59; ARV 2002 Nr. 8 S. 62, C 91/01, und Nr. 30 S. 190, C 367/01; ARV 1999 Nr. 24 S. 140, C 183/97) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. 
 
2.2 Die Bestimmung von Art. 55 Abs. 1 AVIG, wonach der Arbeitnehmer im Konkurs- oder Pfändungsverfahren alles unternehmen muss, um seine Ansprüche gegenüber dem Arbeitgeber zu wahren, bezieht sich dem Wortlaut nach auf das Konkurs- und Pfändungsverfahren. Sie bildet jedoch Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht, welche auch dann Platz greift, wenn das Arbeitsverhältnis vor der Konkurseröffnung aufgelöst wird (BGE 114 V 56 E. 4 S. 60; ARV 1999 Nr. 24 S. 140, C 183/97). Eine ursprüngliche Leistungsverweigerung infolge Verletzung der Schadenminderungspflicht im Sinne der zu Art. 55 Abs. 1 AVIG ergangenen Rechtsprechung (E. 2.1 hiervor) setzt voraus, dass dem Versicherten ein schweres Verschulden, also vorsätzliches oder grobfahrlässiges Handeln oder Unterlassen vorgeworfen werden kann (vgl. URS BURGHERR, Die Insolvenzentschädigung, S. 166). Das Ausmass der geforderten Schadenminderungspflicht richtet sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalls. 
 
3. 
Das kantonale Gericht hat in pflichtgemässer Würdigung der gesamten Aktenlage mit nachvollziehbarer Begründung erkannt, der Versicherte habe keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung, weil er seine Lohnforderung mit seinen - zwar zahlreichen aber lediglich mündlich erfolgten - Mahnungen nicht mit dem erforderlichen und der Situation angepassten Nachdruck geltend gemacht habe. Wohl habe seine gegenüber dem Geschäftsführer der X.________ GmbH ausgesprochene, aus rechtlicher Sicht fragwürdige Drohung, er würde zu ihm nach Hause kommen, an Nachdruck nichts vermissen lassen, indessen verstehe es sich von selbst, dass diese sich nicht zu den ernsthaften rechtlichen Schritten zählen lasse. Aus dem Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich AL.2009.00090 vom 25. November 2010 lasse sich entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers nicht ableiten, für das Schriftformerfordernis einer Mahnung würden ausschliesslich beweisrechtliche Gründe bestehen. Vielmehr diene die Schriftlichkeit nebst beweisrechtlichen Gründen auch der Eindeutigkeit und Unmissverständlichkeit der Geltendmachung der Forderung. Mit der Anerkennung von schriftlichen Mahnungen als "genügende rechtliche Schritte" seien die Anforderungen an die Lohneinforderung im Vergleich mit dem Erfordernis einer Klage oder Betreibung im Übrigen bereits tief angesetzt. Die Eingabe im Konkurs sei angesichts der Konkurseröffnung nach Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine zwar erforderliche, aber nicht hinreichende Massnahme gewesen. Der Beschwerdeführer sei der ihm obliegenden Schadenminderungspflicht nur in ungenügendem Mass nachgekommen, weshalb kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung bestehe. 
 
4. 
4.1 Der Beschwerdeführer lässt geltend machen, er habe den Lohn sicherlich eindrücklicher gemahnt als jemand, der nur eine eingeschriebene Mahnung verschicke, denn er habe die Arbeitgeberin ungezählte Male angerufen und zum Ausdruck gebracht, dass er sehr ungehalten sei. Er habe sogar gedroht, dass er den Geschäftsführer der Arbeitgeberin zuhause aufsuchen werde. Diese Bemühungen seien wohl wirksamer als eine schriftliche Mahnung. Eine solche hätte im Übrigen auch deshalb keinen Effekt haben können, weil die ehemalige Arbeitgeberin Solvenzprobleme gehabt habe. 
 
Es ist dem Beschwerdeführer zwar zuzustimmen, dass eine Verpflichtung zu schriftlichem Vorgehen bei Lohnausständen vom Gesetz nicht statuiert wird. Allerdings musste ihm mit zunehmender Dauer des Lohnausstands rasch bewusst werden, dass seine mündlichen Mahnungen keinen Erfolg zeitigen würden, da die Arbeitgeberin bereits seit Oktober 2009 keinerlei Bereitschaft mehr zeigte, die Geldschuld, allenfalls auch in Raten, zu begleichen. Unter insolvenzentschädigungsrechtlichen Gesichtspunkten kann es nicht Sache der versicherten Person sein, darüber zu entscheiden, ob weitere Vorkehren zur Realisierung der Lohnansprüche erfolgsversprechend sind oder nicht (BGE 131 V 196 E. 4.1.2 S. 198). In diesem Zusammenhang ist auf die offenkundige Tatsache hinzuweisen, dass Schuldner oftmals erst unter dem Druck einer schriftlichen Aufforderung, oder auch erst einer unmittelbar bevorstehenden Konkurseröffnung, ihren Zahlungspflichten nachkommen. Entschiedeneres Handeln - gemeint ist damit unter den vorliegenden Umständen namentlich die unverzügliche Anhandnahme betreibungsrechtlicher Schritte - wäre somit in Nachachtung der Schadenminderungspflicht bei dieser Entwicklung praxisgemäss notwendig gewesen, weil die Wahrscheinlichkeit eines Lohnverlustes mit dem Zeitablauf stetig zunahm (vgl. Urteil 8C_66/2011 vom 29. August 2011). Es lässt sich nämlich nicht ausschliessen, dass die Arbeitgeberin zu Beginn der Lohnausstände und vielleicht auch kurz vor der Konkurseröffnung noch über finanzielle Mittel verfügte, welche sie aber dann zur Begleichung anderer Forderungen verwendete. Dies ist in casu nicht bekannt und kann auch offenbleiben. Die Vorinstanz konnte auf eine zusätzliche Befragung des Geschäftsführers der X.________ GmbH verzichten (antizipierte Beweiswürdigung; BGE 136 I 229 E. 5.3 S. 236; 134 I 140 E. 5.3 S. 148; 124 V 90 E. 4b S. 94). Selbst wenn dieser seine schriftliche Aussage vom 23. November 2010, wonach der Lohn beglichen worden wäre, wenn er die finanziellen Möglichkeiten gehabt hätte, mündlich vor Gericht wiederholt hätte, liesse sich daraus nichts zu Gunsten des Beschwerdeführers ableiten. Denn dies würde nicht ausschliessen, dass die Gesellschaft zur Zeit der Entstehung des Lohnausstandes (Oktober bis Dezember 2009) noch über liquide Mittel verfügte, welche sie aber prioritär für andere Zwecke verwendete. Für diese Annahme spricht jedenfalls die erst am 12. April 2010 erfolgte Eröffnung des Konkurses über die Gesellschaft. Soweit sich schon gegen Ende 2009 finanzielle Schwierigkeiten abzeichneten, war dies immerhin ein zusätzlicher Hinweis darauf, dass der Lohnanspruch in höchstem Mass gefährdet war und weiter reichende Schritte notwendig wurden, nachdem die Arbeitgeberin durch standhafte Nichtbegleichung des Salärs unter Verweis auf finanzielle Schwierigkeiten signalisiert hatte, dass sie zu weiteren Zahlungen nicht bereit sei. Der Beschwerdeführer hatte demgemäss nach Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die Arbeitgeberin vom 25. November 2009 per Ende Dezember 2009 umso mehr Anlass, seine offenen Lohnforderungen unverzüglich und konsequent auf dem Betreibungsweg und notwendigenfalls auch durch Einleitung von gerichtlichen Schritten durchzusetzen. Selbst wenn die Überschuldung des Arbeitgebers oder der Arbeitgeberin offensichtlich erscheint, ist mit anderen Worten keineswegs ausgeschlossen, dass die Lohnforderungen von Arbeitnehmern kurz vor der Konkurseröffnung oder der Pfändung doch noch beglichen werden (BGE 131 V 196 E. 4.1.2 S. 198). Bezüglich der vom Beschwerdeführer geltend gemachten, von ihm ausgesprochenen Drohung versteht es sich von selbst, dass er sich nicht auf diese allenfalls strafrechtlich relevante Handlung berufen kann. 
 
4.2 Dem Beschwerdeführer kann insoweit beigepflichtet werden, als er behauptet, auch mündliche Mahnungen würden Rechtswirkungen entfalten und der beweisrechtliche Aspekt schriftlicher Mahnungen komme vorliegend nicht zum Tragen, weil die zahlreichen und eindringlichen mündlichen Mahnungen unbestritten seien. Daraus kann er allerdings nichts zu seinen Gunsten ableiten. Die rechtlichen Wirkungen seiner mündlichen Mahnungen werden von keiner Seite bestritten. Ausschlaggebend ist, dass es dem Versicherten im Zusammenhang mit dem vorliegend allein zur Debatte stehenden Insolvenzentschädigungsanspruch mit zunehmendem Zeitablauf rasch klar werden musste, dass die wiederholten mündlichen Mahnungen nicht zielführend waren. Aus dem Vorbringen, er sei ein "einfache(r) Chauffeur mit Migranten-Hintergrund" ergibt sich nichts anderes, da niemand Vorteile aus seiner eigenen Rechtsunkenntnis ableiten kann (BGE 126 V 308 E. 2b S. 313 mit Hinweisen). 
 
4.3 Den in der Beschwerde angeführten Urteilen des ehemaligen Eidgenössischen Versicherungsgerichts und des Bundesgerichts liegen allesamt nicht vergleichbare Sachverhalte zugrunde. Im Fall C 270/05 vom 6. Februar 2006 musste die versicherte Person sich zunächst bemühen, eine Schuldanerkennung erhältlich zu machen, während vorliegend die ausstehende Lohnforderung zu keiner Zeit bestritten war und der Beschwerdeführer von Anbeginn an wusste, dass die Arbeitgeberin den Lohn nicht mehr bezahlen wollte oder konnte. Das Urteil C 163/06 vom 19. Oktober 2006 befasst sich mit einem Versicherten, welcher neben dem Lohn auch noch die Rückzahlung eines der Arbeitgeberin gewährten zinslosen Darlehens erwartete, was auch nach der Kündigung des Arbeitsverhältnisses ein gewisses Abhängigkeitsverhältnis bewirkte. Im Urteil C 144/06 vom 19. Oktober 2006 ging es um ein sehr kurzes Arbeitsverhältnis (Antritt: 1. Mai 2004) und die Kündigung aus wirtschaftlichen Gründen war am 30. Juni 2004 auf Ende August 2004 erfolgt, wobei die Konkurseröffnung bereits vom 11. August 2004 datierte; es waren nach jeweils mündlichen Mahnungen Teilzahlungen erfolgt und bei Konkurseröffnung war weniger als ein ganzer Monatslohn offen. Soweit sich der Beschwerdeführer schliesslich auf das Urteil 8C_462/2009 vom 3. August 2009 beruft und daraus ableitet, von den zwei darin genannten Verwaltungsräten einer Aktiengesellschaft könnten natürlich höhere Anforderungen, insbesondere in Bezug auf die Abfassung einer schriftlichen Mahnung, gestellt werden als an einen Chauffeur mit Migranten-Hintergrund, kann ihm nicht gefolgt werden. Eine schriftliche Mahnung muss nicht fehlerfrei abgefasst sein, es genügt, wenn daraus der Wille hervorgeht, den ausstehenden Lohn einzufordern. Demnach zielt auch das Argument des Beschwerdeführers, der bereits erwähnte Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich AL.2009.00090 vom 25. November 2010 betreffe eine kaufmännische Angestellte, welcher eine schriftliche Mahnung eher zuzumuten sei, ins Leere. 
 
5. 
Es bleibt dabei, dass bei einem während mehreren Monaten dauernden Ausstand ein - abgesehen von erfolglosen mündlichen Mahnungen (und im Rahmen der Schadenminderungspflicht von vornherein unbeachtlichem strafrechtlich relevantem Handeln) - tatenloses Zuwarten nicht mehr als objektiv verständlich zu werten ist. Zusammenfassend hat das kantonale Gericht deshalb in pflichtgemässer Würdigung der gesamten Aktenlage zutreffend erkannt, dass der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf Insolvenzentschädigung hat. 
 
6. 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten vom Beschwerdeführer als unterliegender Partei zu tragen (Art. 65 Abs. 4 lit. a und Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Staatssekretariat für Wirtschaft schriftlich mitgeteilt. 
 
Luzern, 24. August 2012 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Ursprung 
 
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz