Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
6B_368/2021
Urteil vom 25. Februar 2022
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari, Präsidentin,
Bundesrichter Muschietti, Hurni,
Gerichtsschreiber Bittel.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
Spisergasse 15, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Einsprache gegen Strafbefehl; Rückzug der Einsprache
(Ungehorsam gegen amtliche Verfügung),
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer
des Kantons St. Gallen, vom 18. Februar 2021
(AK.2020.531-AK).
Sachverhalt:
A.
Mit Strafbefehl vom 22. Oktober 2019 belegte das Untersuchungsamt Altstätten A.________ wegen mehrfachen Ungehorsams gegen amtliche Verfügungen gemäss Art. 292 StGB mit einer Busse von Fr. 1'000.-- bei einer Ersatzfreiheitsstrafe von 10 Tagen.
Am 25. Oktober 2019 erhob der damalige Rechtsverteter des Beschuldigten Einsprache, worauf die Staatsanwaltschaft am Strafbefehl festhielt und die Akten am 4. Februar 2020 dem Kreisgericht Rheintal zur Durchführung des Hauptverfahrens überwies.
Am 17. November 2020 schickte der Einzelrichter des Kreisgerichts dem Beschuldigten selbst sowie dessen Rechtsvertreter eine Vorladung mit folgendem Wortlaut:
"Sie werden aufgefordert, am Freitag, 11. Dezember 2020, 09:00 Uhr vor dem Einzelrichter, Rabengasse 2a, 9450 Altstätten, Parterre, zur Hauptverhandlung in Sachen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen (...) und (...) gegen A.________ (...) betreffend mehrfacher Ungehorsam gegen amtliche Verfügungen zu erscheinen. An der Hauptverhandlung werden folgende Beweise abgenommen: Zeugeneinvernahme von B.________"
Auf die Unterschrift des Einzelrichters folgte kleingedruckt der folgende Text:
"Die Einsprache erhebende Person hat persönlich zu erscheinen oder sich vertreten zu lassen. Bleibt die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 365 Abs. 4 StPO)."
Zur Hauptverhandlung vom 11. Dezember 2020 erschien nur der Rechtsvertreter, nicht aber der Beschuldigte selbst. Der Rechtsvertreter gab Folgendes zu Protokoll:
"Ich habe den Beschuldigten darauf aufmerksam gemacht, dass er hier sein muss. Er hat die Vorladung direkt von Ihnen erhalten. Er hat mich gestern Abend - sodass ich nichts mehr unternehmen konnte - und auch heute Morgen angerufen und mitgeteilt, er habe noch eine Vorladung im Scheidungsprozess gegen seine Frau, wenn ich mich richtig erinnere. Ich habe ihm gesagt, er müsse hier erscheinen. Ich versuchte ihn nochmals telefonisch zu erreichen, was mir nicht gelungen ist."
Auf die Frage, ob die Vorladung im anderen Prozess belegt sei, antwortete der Rechtsvertreter:
"Er wurde schon vorgeladen. Ich bin nicht der Rechtsvertreter im Scheidungsprozess."
Der Einzelrichter schrieb das Verfahren in der Folge als erledigt ab. Er kam zum Schluss, dass der Beschuldigte unentschuldigt der Hauptverhandlung ferngeblieben sei, womit die Einsprache gegen den Strafbefehl nach Art. 356 Abs. 4 StPO als zurückgezogen gelte.
B.
Dagegen erhob A.________ Beschwerde an die Anklagekammer des Kantons St. Gallen. Er behauptete darin u.a. neu, er sei am 24. November 2020 vom Kantonalen Untersuchungsamt zur Einvernahme seiner geschiedenen Ehefrau auf den 11. Dezember 2020 vorgeladen worden und habe sich entschieden, an dieser Einvernahme - anstatt der Hauptverhandlung vor dem Kreisgericht - teilzunehmen.
Mit Entscheid vom 18. Februar 2021 wies die Anklagekammer die Beschwerde ab, soweit sie darauf eintrat.
C.
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A.________ dem Bundesgericht sinngemäss, der Entscheid der Anklagekammer sei aufzuheben und die Angelegenheit sei an den Einzelrichter zur Beurteilung in der Sache zurückzuweisen.
Es wurden die Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer rügt, die Vorinstanz habe die Annahme des Einzelrichters, es liege eine Rückzugsfiktion nach Art. 356 Abs. 4 StPO vor, zu Unrecht geschützt.
1.1. Bleibt die Einsprache erhebende Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fern und lässt sich auch nicht vertreten, so gilt ihre Einsprache als zurückgezogen (Art. 356 Abs. 4 StPO).
Hat die Verfahrensleitung die beschuldigte Person zum persönlichen Erscheinen verpflichtet, gilt die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO nach der Rechtsprechung entgegen dem Wortlaut von Art. 356 Abs. 4 StPO aber auch, wenn die Einsprache erhebende beschuldigte Person der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleibt und lediglich ihr Rechtsanwalt zur Verhandlung erscheint (Urteile 6B_1201/2018 vom 15. Oktober 2019 E. 4.3.1 und 4.4.2, publ. in: Pra 2020 S. 98; 6B_1298/2018 vom 21. März 2019 E. 3.1, nicht publ. in: BGE 145 I 201; 6B_7/2017 vom 5. Mai 2017 E. 1.4 f.; je mit Hinweisen). Verlangt wird, dass die beschuldigte Person effektiv Kenntnis von der Verhandlung und der Pflicht zum persönlichen Erscheinen hat und dass sie hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens in einer ihr verständlichen Weise belehrt wurde. Die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO kommt nur zum Tragen, wenn aus dem unentschuldigten Fernbleiben nach dem Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO) auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Strafverfahrens geschlossen werden kann (BGE 146 IV 286 E. 2.2, 146 IV 30 E. 1.1.1; 142 IV 158 E. 3.1 und E. 3.3; 140 IV 82 E. 2.3 und E. 2.5).
Erscheint nur der Rechtsanwalt zur Verhandlung, darf dieser an der Verhandlung dennoch teilnehmen und insbesondere darlegen, weshalb die Rückzugsfiktion von Art. 356 Abs. 4 StPO trotz der Abwesenheit seines Klienten nicht zum Tragen kommen soll (BGE 145 I 201 E. 4.1). Der Rechtsanwalt ist an der Verhandlung daher insbesondere zu den Gründen für die Abwesenheit der beschuldigten Person anzuhören, wobei er ein entschuldigtes Fernbleiben derselben geltend machen und begründen kann (Urteil 6B_144/2020 vom 3. Februar 2021 E. 1.2.3).
1.2. Die Vorinstanz erwog, dass der Beschwerdeführer mit der u.a. an ihn persönlich zugestellten Vorladung des Einzelrichters des Kreisgerichts Rheintal zum persönlichen Erscheinen verpflichtet worden sei. Diesen Umstand habe ihm sein Rechtsvertreter denn auch ausdrücklich so erklärt und ihm gesagt, er müsse persönlich anwesend sein. Aufgrund der Belehrung in der Vorladung sowie des Hinweises seines Rechtsvertreters hätten ihm die Konsequenzen eines unentschuldigten Fernbleibens von der Hauptverhandlung bekannt sein müssen. Er habe jedoch im Wissen um seine Anwesenheitspflicht entschieden, an der Verhandlung nicht teilzunehmen, und damit sein Desinteresse am Verfahren deutlich zum Ausdruck gebracht. Entschuldigungsgründe habe er zudem zu spät vorgebracht und diese seien von seinem Rechtsvertreter anlässlich der Hauptverhandlung auch nicht belegt worden.
1.3. Was der Beschwerdeführer gegen die vorinstanzlichen Erwägungen vorbringt, ist unbehelflich: Gemäss den verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid (Art. 105 Abs. 1 BGG) wurde er von seinem Rechtsvertreter darüber informiert, dass ihn die Vorladung trotz ihres diesbezüglich nicht gänzlich klaren Wortlauts zum persönlichen Erscheinen verpflichtet hat und seine unentschuldigte Abwesenheit eine Rückzugsfiktion nach Art. 356 Abs. 4 StPO nach sich ziehen würde. Nachdem sein Rechtsvertreter anlässlich der Hauptverhandlung einen möglichen Entschuldigungsgrund zwar geltend gemacht hat, diesen aber nicht belegen konnte, verletzt die vorinstanzliche Beurteilung Art. 356 Abs. 4 StPO nicht. Der Beschwerdeführer hat es denn auch seiner eigenen Nachlässigkeit zuzuschreiben, dass der Strafbefehl aufgrund der Rückzugsfiktion nunmehr rechtskräftig geworden ist: Nachdem er offenbar schon mehr als zwei Wochen vor der kreisgerichtlichen Hauptverhandung um die Terminkollision gewusst hatte, wäre es ihm nämlich ein Leichtes gewesen, eine entsprechende Dispensation rechtzeitig in die Wege zu leiten. Indem er dies nicht getan hat und seinen Rechtsvertreter offenbar erst am Vorabend der Hauptverhandlung überhaupt über sein Fernbleiben informiert hatte, zeigte er ein deutliches Desinteresse am entsprechenden Verfahren, das den Einzelrichter zu Recht zu dessen Abschreibung veranlasste.
2.
Die Beschwerde ist abzuweisen, womit der Beschwerdeführer ausgangsgemäss kostenpflichtig wird (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. Februar 2022
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Jacquemoud-Rossari
Der Gerichtsschreiber: Bittel