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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_78/2007 /fun 
 
Urteil vom 25. Mai 2007 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Reeb, Eusebio, 
Gerichtsschreiberin Schoder. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Isabelle Brunner Schwander, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland, 
Hermann Götz-Strasse 24, Postfach, 8401 Winterthur, 
Bezirksgericht Bülach, Haftrichterin, Spitalstrasse 13, 8180 Bülach. 
 
Gegenstand 
Haftentlassung, 
 
Beschwerde in Strafsachen gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Bülach, Haftrichterin, vom 3. April 2007. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ befindet sich seit dem 17. Januar 2007 in Untersuchungshaft im Gefängnis Winterthur. Es werden ihm folgende Straftaten zur Last gelegt: 
- Gefährdung des Lebens (Art. 129 StGB) durch das Werfen eines Gartenstuhls von der Überführung der Kasernenstrasse in Bülach auf ein sich auf der A51 mit rund 100 km/h nahendes Fahrzeug am 14. Januar 2007, 
- Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 1 Abs. 1 StGB) durch das Errichten einer Strassenbarrikade aus einem Tisch und Gartenstühlen und das Schleudern eines Gartenstuhles gegen ein nahendes Fahrzeug am 14. Januar 2007, 
- mehrfache Sachbeschädigung (Art. 144 Abs. 1 StGB, teilweise i.V.m. Art. 172ter Abs. 1 StGB) durch das Beschädigen von 16 Fahrzeugen im Zeitraum vom 9. bis 12. Dezember 2006, 
- geringfügiger Diebstahl (Art. 139 Ziff. 1 StGB i.V.m. Art. 172ter Abs. 1 StGB) durch das Entwenden eines MP3-Players aus einem zuvor aufgebrochenen Personenwagen am 29. April 2006. 
Am 29. März 2007 wurde die Schlusseinvernahme durchgeführt. Am 13. April 2007 ordnete der Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens an. 
 
Auf Antrag des Staatsanwalts verlängerte die Haftrichterin des Bezirksgerichts Bülach am 3. April 2007 die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr. 
B. 
X.________ hat gegen die Verfügung der Haftrichterin vom 3. April 2007 Beschwerde in Strafsachen erhoben. Er beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben, und er sei aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung und zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner ersucht der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. 
C. 
Die Haftrichterin verzichtet auf Vernehmlassung. Der Staatsanwalt beantragt Beschwerdeabweisung. Der Beschwerdeführer hat repliziert. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) in Kraft getreten. Der angefochtene Entscheid erging später. Gemäss Art. 132 Abs. 1 BGG ist daher das Bundesgerichtsgesetz anwendbar. 
1.2 Gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden gegen Entscheide in Strafsachen. Der Begriff "Entscheide in Strafsachen" umfasst sämtliche Entscheidungen, denen materielles Strafrecht oder Strafprozessrecht zu Grunde liegt. Mit anderen Worten kann grundsätzlich jeder Entscheid, der die Verfolgung oder die Beurteilung einer Straftat betrifft und sich auf Bundesrecht oder auf kantonales Recht stützt, mit der Beschwerde in Strafsachen angefochten werden (Botschaft vom 28. Februar 2001 zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4313). Die Beschwerde in Strafsachen ist hier somit gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel gegen den angefochtenen Entscheid steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten. 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Grundrechts auf persönliche Freiheit. Er bestreitet die ihm zur Last gelegten Taten nicht, macht aber geltend, der Haftgrund der Wiederholungsgefahr sei nicht gegeben. 
2.2 Gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 3 des Gesetzes des Kantons Zürich betreffend den Strafprozess vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH) ist die Anordnung und Fortdauer der Untersuchungshaft zulässig, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und ausserdem ernsthaft befürchtet werden muss, er werde, nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen. Die Untersuchungshaft ist durch mildere Massnahmen zu ersetzen, sofern sich der Haftzweck auch auf diese Weise erreichen lässt (§ 58 Abs. 4 i.V.m. § 72 f. StPO/ZH). 
2.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Grundrecht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK) ist die Anordnung von Untersuchungsgefahr wegen Wiederholungsgefahr verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind. Dabei ist auch dem psychischen Zustand der verdächtigen Person bzw. ihrer Unberechenbarkeit oder Aggressivität Rechnung zu tragen (BGE 123 I 268 E. 2e S. 271 ff.). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62, mit Hinweisen). 
2.4 Dem Strafregisterauszug vom 16. Januar 2007 ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer in der Zeitspanne vom 23. März 2000 bis zum 25. August 2006 bereits zahlreich delinquierte. Im vorliegenden Strafverfahren stehen wiederum ein Verbrechen und mehrere Vergehen (allerdings teilweise von geringfügiger Natur, Art. 172ter Abs. 1 StGB) zur Diskussion. Die Voraussetzung nach § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH, wonach ein Täter zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen begangen haben muss, damit der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gegeben ist, ist somit erfüllt. 
 
Gemäss der haftrichterlichen Verfügung leidet der Beschwerdeführer unter erheblichen psychischen Defiziten. Ein im September 2003 erstelltes psychiatrisches Gutachten habe ergeben, dass die Einsichts- und Steuerungsfähigkeit des Beschwerdeführers infolge eines Intelligenzmangels herabgesetzt sei. Als Grund seiner ihm im vorliegenden Strafverfahren zur Last gelegten Taten habe der Beschwerdeführer Wut, Alkoholkonsum und Freude beim Delinquieren angegeben. Aufgrund dieser vom Beschwerdeführer nicht in Abrede gestellten Umstände ist nicht zu beanstanden, dass die Haftrichterin von einer negativen Rückfallprognose ausgeht. 
 
Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers trifft nicht zu, dass die zu befürchtenden Delikte als geringfügig einzustufen sind. Der Beschwerdeführer wurde rechtskräftig wegen Raubes verurteilt. Im vorliegenden Strafverfahren wird ihm unter anderem der Straftatbestand der Gefährdung des Lebens zur Last gelegt, der mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder Gefängnis geahndet wird (vgl. Art. 129 StGB). Der Standpunkt des Beschwerdeführers, die Wiederholungsgefahr könne sich nur auf solche Delikte beziehen, für die bereits eine rechtskräftige Verurteilung vorliege, findet in Gesetz und Rechtsprechung keine Grundlage. Auch ist nicht ersichtlich, inwiefern die Haftrichterin in diesem Zusammenhang Art. 9 und Art. 29 BV verletzt haben soll. 
Aufgrund der negativen Rückfallprognose und der Befürchtung, dass der Beschwerdeführer auch in Zukunft Delikte von schwerer Natur begehen könnte, ist der Haftgrund der Wiederholungsgefahr somit zu bejahen. 
 
Ob eine mildere Massnahme die Wiederholungsgefahr wirksam bannen könnte, ist im jetzigen Zeitpunkt fraglich. Der Beschwerdeführer ist bevormundet. Die Betreuung durch seinen Vormund hat ihn dennoch nicht vom Delinquieren abgehalten. Die Anordnung, sich regelmässig bei einer Amtsstelle zu melden (vgl. § 72 Abs. 2 Satz 2 StPO/ZH), erscheint in seinem Fall daher als zum vornherein unwirksam. Zur Abklärung des psychischen Zustands des Beschwerdeführers hat die Staatsanwaltschaft die Einholung eines aktuellen psychiatrischen Gutachtens angeordnet. Der Gutachter hat sich darin unter anderem zur Gemeingefährlichkeit des Beschwerdeführers und zur Erforderlichkeit der Verwahrung auszusprechen. Ob eine ambulante ärztliche Behandlung zur Verhinderung weiteren Delinquierens ausreichend wäre (vgl. § 72 Abs. 2 Satz 2 StPO/ZH), kann erst bei Vorliegen des Gutachtens beurteilt werden. 
 
Im jetzigen Zeitpunkt sind mildere Massnahmen nicht ersichtlich, so dass die Fortsetzung der Untersuchungshaft zumindest bis zum Vorliegen des psychiatrischen Gutachtens als verhältnismässig betrachtet werden kann. Aufgrund des Gesagten ist das Grundrecht der persönlichen Freiheit nicht verletzt. 
3. 
3.1 Des Weitern rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung des Beschleunigungsgebots. Er bringt vor, dem Experten sei zur Erstellung des Gutachtens eine erstreckbare Frist von vier Monaten eingeräumt worden. Es sei nicht vor Ende Jahr mit einem Urteil zu rechnen, weshalb das Beschleunigungsgebot verletzt und der Beschwerdeführer auch aus diesem Grund aus der Untersuchungshaft zu entlassen sei. 
3.2 Gemäss Art. 31 Abs. 3 BV und Art. 5 Ziff. 3 EMRK hat eine in strafprozessualer Haft gehaltene Person Anspruch darauf, innerhalb einer angemessenen Frist richterlich beurteilt oder während des Strafverfahrens aus der Haft entlassen zu werden. Nach der Rechtsprechung ist im Haftprüfungsverfahren die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung geführt, indessen nur soweit zu beurteilen, als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen. Dies ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und zudem die Strafverfolgungsbehörden, z.B. durch eine schleppende Ansetzung der Termine für die anstehenden Untersuchungshandlungen, erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen. 
 
Ist die gerügte Verzögerung des Verfahrens weniger gravierend, kann offen bleiben, ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliegt. Es genügt diesfalls, die zuständige Behörde zur besonders beförderlichen Weiterführung des Verfahrens anzuhalten und die Haft gegebenenfalls allein unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Fristen zu bestätigen (BGE 128 I 149 E. 2.2 S. 151 f.). 
3.3 Vorliegend bestehen keine Anhaltspunkte, dass das Verfahren nicht mit der gebotenen Beschleunigung vorangetrieben worden wäre. Die Ansetzung einer viermonatigen Frist zur Erstellung eines psychiatrischen Gutachtens liegt noch im normalen Zeitrahmen. Die Behörden haben auch nicht auf andere Weise erkennen lassen, dass sie nicht fähig oder unwillig wären, das Verfahren rasch zum Abschluss zu bringen. In Anbetracht der Anzahl und Schwere der Straftaten und der zahlreichen Vorstrafen des Beschwerdeführers ist im jetzigen Zeitpunkt auch nicht mit einer Überhaft zu rechnen, so dass die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft nicht in Frage gestellt ist. Eine Verletzung des Beschleunigungsgebots liegt damit ebenfalls nicht vor. 
4. 
Somit ergibt sich, dass die Beschwerde unbegründet und demzufolge abzuweisen ist. Der Beschwerdeführer hat um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren ersucht. Diesem Antrag kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege erteilt: 
2.1 Es werden keine Kosten erhoben. 
2.2 Rechtsanwältin Isabelle Brunner Schwander wird zur unentgeltlichen Rechtsbeiständin ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit einem Honorar von Fr. 1'500.-- entschädigt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland und dem Bezirksgericht Bülach, Haftrichterin, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 25. Mai 2007 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: