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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 524/06 
 
Urteil vom 25. Mai 2007 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Parteien 
B.________, 1963, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwalt Eros Tomasini, Sagenmattweg 8, 6460 Altdorf, 
 
gegen 
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern 
vom 9. Mai 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1963 geborene B.________ meldete sich am 4. Juni 1999 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf medizinische und erwerbliche Abklärungen stellte die IV-Stelle Luzern fest, es bestehe keine Invalidität (mit Einspracheentscheid vom 21. Januar 2005 bestätigte Verfügung vom 18. November 2004). 
B. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wies die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 9. Mai 2006). 
C. 
B.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit den Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung von vorinstanzlichem und Einspracheentscheid, gestützt auf eine interdisziplinäre (gerichtliche) Expertise eine Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei die Sache zur entsprechenden Abklärung und neuen Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen. Schliesslich beantragt die Versicherte die unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
 
1. 
1.1 Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Bundesgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim (damaligen) Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich die bundesgerichtliche Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht. 
2. 
2.1 Die Beschwerdeführerin leidet im Wesentlichen an belastungsabhängigen Schmerzen am linken Rückfuss (nach einem früheren Unfall), an einem belastungsabhängigen Zervikothorakalsyndrom sowie an einer "psychoreaktiven Depression" (Berichte der Dres. C.________ vom 19. November 2003 und 23. September 2004 und M.________ vom 24. Juli 2002, 24. März 2003 und 24. September 2004). Das kantonale Gericht schützte den Entscheid der Verwaltung, wonach keine Invalidität vorliege, unter anderem mit der Begründung, in somatischer Hinsicht bestehe bezogen auf eine wechselbelastende Tätigkeit vollständige Arbeitsfähigkeit. Was den geltend gemachten psychischen Gesundheitsschaden angehe, setze dieser eine fachärztliche Diagnose nach einem anerkannten Klassifikationssystem voraus. Eine solche fehle hier. Der psychiatrische Befund einer psychoreaktiven Depression infolge persönlicher und beruflicher Probleme (kulturelle Entwurzelung, mangelnde soziale und berufliche Integration, Partnerschaftsproblematik) beziehe sich auf psychosoziale und soziokulturelle Umstände, denen kein Krankheitswert gegeben sei. Eine zusätzliche psychiatrische Abklärung oder eine umfassende Begutachtung durch eine Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) sei nicht angezeigt. 
2.2 
2.2.1 Die vom kantonalen Gericht genannten Vorgaben für die Annahme einer Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen, darunter namentlich die Bedeutung der klassifikatorisch verschlüsselten fachärztlichen Diagnose als zwar notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung (dazu BGE 130 V 396) sowie der gesetzliche Begriff des invalidisierenden Gesundheitsschadens, welcher sich nicht auf psychosoziale und soziokulturelle Schadensfaktoren erstreckt (vgl. BGE 127 V 294), treffen zu. Hingegen fragt sich im Rahmen der vollen Kognition (E. 1.2), ob Verwaltung und Vorinstanz die Beurteilungsgrundlage in tatsächlicher Hinsicht zutreffend feststellten und würdigten. 
2.2.2 Psychosoziale und soziokulturelle Faktoren fallen als solche nicht unter den Begriff des rechtserheblichen Gesundheitsschadens. Sie wirken sich aber mittelbar invaliditätsbegründend aus, wenn und soweit sie zu einer eigentlichen Beeinträchtigung der psychischen Integrität führen, welche ihrerseits eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bewirkt, wenn sie einen verselbständigten Gesundheitsschaden aufrechterhalten oder den Wirkungsgrad seiner - unabhängig von den invaliditätsfremden Elementen bestehenden - Folgen verschlimmern (vgl. BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; Urteil I 649/06 vom 13. März 2007, E. 3.3.1; Thomas Locher, Die invaliditätsfremden Faktoren in der rechtlichen Anerkennung von Arbeitsunfähigkeit und Invalidität, in: Schmerz und Arbeitsunfähigkeit, St. Gallen 2003, S. 253). 
Nach Sichtung der bisherigen Akten bleibt unklar, ob die betreffenden Elemente ausschliesslich als nicht versicherte direkte Ursache der funktionellen Einschränkung eine Rolle spielen, oder ob sie (auch) zur Entstehung eines eigentlichen Gesundheitsschadens beigetragen haben respektive einen solchen verstärken. Der Psychiater Dr. C.________ schilderte in zwei je nur kurzen und kaum begründeten Berichten vom 19. November 2003 und 23. September 2004 eine "psychoreaktive Depression infolge persönlicher und beruflicher Probleme"; die Versicherte sei "depressiv infolge ihrer beruflichen und psychosozialen Situation". Auf den psychischen Zustand bezogen fügte er (im neueren Bericht) einzig an, die Patientin sei "depressiv, negativ eingestellt, ängstlich, sie klagte über ständige Konzentrationsprobleme und chronische Schlafstörungen. Hie und da war sie verzweifelt". Hinsichtlich der (wegen körperlicher Unfallfolgen auf 50 Prozent geschätzten) Arbeitsfähigkeit führte der Arzt aus, aus psychiatrischer Sicht sei "die Arbeitsunfähigkeit nur bedingt durch ihre Situation". Diese Aussage deutet darauf hin, dass situative Gegebenheiten und nicht ein eigentlicher psychischer Gesundheitsschaden für die Leistungseinschränkung verantwortlich zeichneten. Angesichts der entscheidenden Bedeutung der Unterscheidung von direkter Verursachung durch nicht krankheitswertige Faktoren und indirekter Verursachung in dem Sinne, als diese Elemente bloss ätiologischer Ausgangspunkt für einen verselbständigten Gesundheitsschaden sind, ist die Stellungnahme in ihrem Aussagegehalt aber bei weitem zu unklar sowie zu wenig begründet und nachvollziehbar, als dass sie als ausreichende Entscheidungsgrundlage gelten dürfte. 
In diesem Zusammenhang fällt zudem ins Gewicht, dass die Angaben in der psychiatrischen Stellungnahme vom 23. September 2004 einer allfälligen Entwicklung des Gesundheitszustands bis zum Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens (vgl. BGE 121 V 362 E. 1b in fine S. 366) im Januar 2005 nicht mehr hinreichend Rechnung tragen. Schon bei Abgabe des Berichts im Herbst 2004 hatte der Psychiater die Beschwerdeführerin offenbar seit geraumer Zeit nicht mehr gesehen. Der Psychiater vermerkte damals, er habe die Versicherte bis März 2003 behandelt; in Widerspruch dazu hatte er am 19. November 2003 ausgeführt, sie stehe seit dem 10. März 2003 in seiner Behandlung. Der Hausarzt berichtete am 24. September 2004, die Patientin habe die Therapie abgebrochen, weil sie mit Dr. C.________ nicht zurecht gekommen sei; ein anderer spanisch sprechender Psychiater habe nicht gefunden werden können. 
2.2.3 Im Hinblick auf den Umfang der im Einzelfall zu tätigenden fachärztlichen Abklärungen ist das Gewicht der Stellungnahmen des behandelnden Allgemeinmediziners nicht zu unterschätzen. Auch wenn Hausärzte aufgrund ihrer auftragsrechtlichen Vertrauensstellung zum Patienten in Zweifelsfällen erfahrungsgemäss eher zu dessen Gunsten aussagen und ihren Berichten daher nicht der gleiche Beweiswert zukommt wie denjenigen der zur neutralen Expertise durch die Verwaltung beauftragten Ärzte (BGE 125 V 351 E. 3b/cc S. 353; SVR 2005 UV Nr. 16 S. 54 E. 2.2, U 192/03), ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass sie oft als einzige Mediziner die Entwicklung der gesundheitlichen Situation über einen längeren Beobachtungszeitraum hinweg überblicken. Dem kommt beweismässig namentlich dann eine gewisse Bedeutung zu, wenn die Verwaltung davon absieht, ein ärztliches Administrativgutachten einzuholen. 
Der Allgemeinmediziner Dr. M.________ beschreibt chronische belastungsabhängige Rückfussschmerzen, ein chronisches Zervikothorakalsyndrom sowie chronische Kopfschmerzen und übernimmt den psychiatrischen Befund eines psychoreaktiven depressiven Zustandsbilds bei Selbstwertproblematik. Auch hier wird nicht deutlich, wie die weitere Feststellung "psychosoziale chronifizierte Problemkonstellation" einzuordnen ist (Bericht vom 24. September 2004). Dennoch stehen die hausärztlichen Angaben insgesamt - und vor dem Hintergrund mangelnder Aussagekraft der psychiatrischen Kurzberichte - einer antizipierten Beweiswürdigung des Inhalts, ein Gutachten vermöge nichts zur Klärung des Tatbestands beizutragen, entgegen. 
2.3 Dementsprechend wird die IV-Stelle entweder ein eigentliches psychiatrisches Gutachten (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.2 S. 353) oder - mit Blick auf die organisch bedingten Einschränkungen, deren Bedeutung wohl nur im Kontext mit der psychiatrischen Beurteilung zu erschliessen ist - eine interdisziplinär ausgerichtete Expertise einer MEDAS einholen. Die Fragestellung wird insbesondere auf die oben umrissene Abgrenzungsproblematik abzustimmen sein. 
3. 
Es geht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen, weshalb von der Auferlegung von Gerichtskosten abzusehen ist (Art. 134 OG; vgl. vorn E. 1.2). Dem Prozessausgang entsprechend ist der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege, einschliesslich der unentgeltlichen Verbeiständung, ist damit gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 9. Mai 2006 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle Luzern vom 21. Januar 2005 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge. Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Hotela und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 25. Mai 2007 
 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: