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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_302/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 25. September 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber, 
Gerichtsschreiber Traub. 
 
Verfahrensbeteiligte 
S.________, 
vertreten durch Fürsprecher Ubald Bisegger, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,  
Beschwerdegegnerin, 
 
Basler Leben AG, Aeschengraben 21, 4051 Basel.  
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 28. Februar 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1959 geborene S.________ ist gelernte Krankenschwester und war später in einem halben Pensum als Sekretärin erwerbstätig. Am 14. November 2008 meldete sie sich unter Hinweis darauf, schon bei kleinster körperlicher Belastung träten schnelle Erschöpfung und Dyspnoe (Atemnot) ein, bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hob die Verfügung der IV-Stelle Aargau vom 31. Mai 2010, in welchem das Leistungsbegehren mangels eines ausgewiesenen invalidisierenden Gesundheitsschadens abgelehnt worden war, auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung an die Verwaltung zurück. Das kantonale Gericht hielt fest, nach umfassender somatischer Abklärung zeige sich, dass die Versicherte überwiegend wahrscheinlich weder an Fibromyalgie noch an einer entzündlichen oder degenerativen Muskelerkrankung leide. Hingegen bestehe psychiatrischer Abklärungsbedarf (Entscheid vom 26. Mai 2011). 
Die IV-Stelle holte ein psychiatrisch-rheumatologisches Gutachten der Dres. med. H.________ und L.________, vom 5./12. Dezember 2011 ein. Die Sachverständigen kamen zum Schluss, die Leistungsfähigkeit der Versicherten in den bisher ausgeübten Tätigkeiten sei (bis auf eine vorübergehende Einschränkung um 25 Prozent im Zeitraum von März bis Juli 2011) nicht beeinträchtigt. Mit Verfügung vom 15. Mai 2012 stellte die IV-Stelle wiederum fest, die Arbeitsfähigkeit sei nicht eingeschränkt, weshalb keine anspruchsbegründende Invalidität bestehe. 
 
B.   
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 28. Februar 2013). 
 
C.   
S.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid und die strittige Verfügung seien aufzuheben; es sei ihr mit Wirkung ab Juni 2009 mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen. Eventuell sei die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
Erwägungen: 
 
 
1.   
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). 
Dem vorinstanzlichen Sachgericht steht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein, wenn die Vorinstanz diesen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211; zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5; Urteil 9C_1019/2012 vom 23. August 2013 E. 1.2.3). 
 
2.   
Das kantonale Gericht hielt im Wesentlichen fest, die Erschöpfbarkeit der Beschwerdeführerin sei kardiologisch, neurologisch und pneumologisch umfassend abgeklärt worden. Anhand dieser Untersuchungen sei keine Erklärung für die Beschwerden gefunden worden. Im Übrigen stellte die Vorinstanz auf das interdisziplinäre Administrativgutachten der Dres. med. H.________ und L.________ ab. Nach dem psychiatrischen Teilgutachten des Dr. H.________ vom 5. Dezember 2011 bestehe eine Neurasthenie und ein Status nach längerer depressiver Reaktion (März bis Juli 2011). Die anlässlich eines Aufenthalts in der Klinik X.________ (Austrittsbericht vom 30. März 2010) diagnostizierte rezidivierende depressive Störung könne indes nicht bestätigt werden. Die Neurasthenie sei zwar chronifiziert und progredient, die Arbeitsfähigkeit dadurch aber nicht eingeschränkt. Nach dem rheumatologischen Teilgutachten des Dr. L.________ vom 12. Dezember 2011 bestehe ein chronisches Beschwerdebild, das sich unter anderem aus Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Muskelschwäche, Müdigkeit, Atembeschwerden, Schwindel, Herzklopfen, Ohrgeräuschen und Schlaflosigkeit zusammensetze. Jedoch sei auch aus rheumatologischer Sicht weder im bisherigen Beruf der Sekretärin noch für die Haushalttätigkeit eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit erkennbar. 
Das kantonale Gericht setzte sich mit dem Einwand auseinander, die Diagnose einer Neurasthenie sei falsch; die Ergebnisse aus zweifach durchgeführter Spiroergometrie zeigten eine signifikante Störung der Stoffwechselfunktion an. Die Vorinstanz würdigte den Bericht des Untersuchers, des Pneumologen Dr. G.________, Spital Y.________, vom 13. Juni 2012 und schloss, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin erklärten dort beschriebene Auffälligkeiten der Stoffwechselfunktionen die geklagten Beschwerden nicht. Das Administrativgutachten werde dadurch nicht in Frage gestellt. Hieran ändere der Umstand nichts, dass Dr. G.________ festgestellt habe, die geforderten Kriterien zur Diagnose eines Chronic fatigue syndrome (CFS) seien, wenn auch nur grenzwertig, erfüllt. Denn sowohl die Neurasthenie wie auch das CFS unterstünden der Rechtsprechung zu unklaren syndromalen Beschwerdebildern (BGE 137 V 64 E. 4.2 S. 68). Mit Blick auf die aktenkundigen umfassenden medizinischen Untersuchungen erübrigten sich weitere Abklärungen. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hält dagegen, die Entwicklung der Beschwerden seit dem Jahr 2007 und die Ergebnisse der Spiroergometrie zeigten, dass einzig die Diagnose CFS/ME (myalgische Enzephalomyelitis) schlüssig erscheine. An der Diagnose Neurasthenie festzuhalten, sei unter diesen Umständen offensichtlich tatsachenwidrig. So verhält es sich indes nicht. Auffällige Ergebnisse der spiroergometrischen Untersuchungen bringt Dr. G.________ mit metabolischen Veränderungen (nicht mit dem CFS) in Verbindung (Bericht vom 13. Juni 2012). Auch zu dieser Aussage gelangt er indes nur im Ausschlussverfahren: Der Befund könne weder mit einer ungenügenden Kooperation, der belastungsabhängigen Hyperventilation, einer psychosomatischen Komponente noch mit einer respiratorischen oder kardialen Einschränkung erklärt werden. Die Vorinstanz durfte unter diesen Umständen, ohne in Willkür zu verfallen (vgl. oben E. 1), davon ausgehen, die geklagten Beschwerden seien nicht hinreichend zuverlässig den beschriebenen Auffälligkeiten im Stoffwechsel zuzuordnen. Zudem liess der Pneumologe ausdrücklich offen, ob der Befund pathologischen Charakter hat. Die Beschwerdeführerin macht geltend, der Pneumologe vermöge diese Frage nach eigenem Bekunden nicht abschliessend zu beurteilen. Da die ausserhalb seines Fachbereichs liegenden weiteren möglichen Ursachen der geklagten Symptomatik umfassend abgeklärt worden waren, kann daraus nicht abgeleitet werden, es drängten sich weiterführende medizinische Abklärungen nach Art. 43 und 61 lit. c ATSG auf. 
 
4.   
 
4.1. Sowohl die Neurasthenie (ICD-10: F48.0) wie das CFS (G93.3) gehören zu den Krankheitsbildern, die dadurch gekennzeichnet sind, dass ihre funktionellen Auswirkungen qualitativ und quantitativ ungewiss sind. Bei dieser Ausgangslage bedarf es einer besonderen Prüfung, ob die Einschränkung in der Leistungsfähigkeit in dem von Gesetzes wegen (Art. 6 ff. ATSG, Art. 4 Abs. 1 IVG) erforderlichen kausalen Zusammenhang mit den in Frage stehenden Gesundheitsschäden steht. Dabei geht es zunächst um die (auf medizinischem Fundament beruhenden) Tatfragen, ob ein solcher Gesundheitsschaden hinreichend erstellt ist (vgl. BGE 130 V 396) und wie weit ein solcher für die funktionellen Ausfälle verantwortlich ist, sowie anschliessend um die Rechtsfrage, ob die Folgen des festgestellten Leidens eine invalidisierende Wirkung haben (BGE 137 V 64 E. 1.2 in fine S. 66; 131 V 49).  
 
4.2. Im vorliegenden Fall gibt das medizinische Dossier nichts her, was die Schlussfolgerung des psychiatrischen Administrativgutachters in Frage stellen könnte, es sei keine eigenständige psychische Störung gegeben. Der Gutachter anerkennt zwar mit Blick auf die somatisch nicht erklärbare Schwäche eine - chronifizierte und progrediente - Neurasthenie; er vermag trotzdem keine Befunde zu erheben, aufgrund derer die Arbeitsfähigkeit dauerhaft und erheblich eingeschränkt sein könnte; namentlich findet er keine Anzeichen für eine (andauernde) Depression (vgl. S. 7 f. des psychiatrischen Teilgutachtens vom 5. Dezember 2011). Insoweit ist das vorinstanzliche Erkenntnis, dass ein versicherter Gesundheitsschaden nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt ist, jedenfalls nicht offensichtlich unrichtig. Ebensowenig willkürlich ist die antizipierte Beweiswürdigung der Vorinstanz, wonach weitere Abklärungen an diesem Schluss nichts ändern würden.  
 
4.3. Das CFS wird im pneumologischen Bericht des Dr. G.________ vom 13. Juni 2012 als Hypothese behandelt, was auch in der Darstellung als  Differentialdiagnose zum Ausdruck kommt. Zudem relativiert Dr. G.________ die Feststellung, die diagnostischen Kriterien seien, wenn auch "grenzwertig", erfüllt; der Sachverständige fügt an, das Krankheitsbild CFS entziehe sich bisher einer objektivierbaren Diagnostik. Diese Bemerkung ist Ausdruck des Umstandes, dass in der medizinischen Forschung bislang kein Konsens über die Ätiopathogenese des CFS und über die Zuordnung möglicher funktioneller Folgen gefunden wurde (dazu das Urteil 9C_662/2009 vom 17. August 2010E. 2.3 = SVR 2011 IV Nr. 26 S. 73; vgl. auch BGE 137 V 64). Das kantonale Gericht hat nicht Bundesrecht verletzt, wenn es das - zudem nicht sicher diagnostizierte - CFS ebenfalls nicht als massgebende Ursache der geltend gemachten funktionellen Einschränkungen anerkannt hat. Im Übrigen beziehen sich die fachärztlichen Darlegungen über die auffälligen Ergebnisse der Spiroergometrie (oben E. 3) nicht auf die Diskussion eines CFS.  
 
4.4. Ergab sich bereits aus dem fehlenden Beweis einer Gesundheitsschädigung, dass eine rentenbegründende Invalidität fehlt, bestand für das kantonale Gericht kein Anlass, das sowohl für Neurasthenie wie auch für CFS einschlägige Prüfungsprogramm abzuwickeln (erwähntes Urteil 9C_662/2009 E. 2.3 [CFS] resp. Urteil 9C_98/2010 vom 28. April 2010 E. 2.2.2 = SVR 2011 IV Nr. 17 S. 44 [Neurasthenie]; anders beim tumorassoziierten Fatigue: zur Publikation bestimmtes Urteil 8C_32/2013 vom 19. Juni 2013 E. 3.4).  
Damit muss auch nicht mehr auf die Rüge eingegangen werden, die Rechtsprechung behandle versicherte Personen mit Krankheitsbildern wie dem CFS pauschal schlechter als organisch Erkrankte, was dem Gleichbehandlungsgrundsatz resp. dem Diskriminierungsverbot und der Garantie eines fairen Verfahrens zuwiderlaufe. Das Gleiche gilt hinsichtlich der (auf das Rechtsgutachten "zur Rechtslage betreffend Zusprache von IV-Renten in Fällen andauernder somatoformer Schmerzstörungen und ähnlicher Krankheiten unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichts bis Herbst 2012 und der Bundesgesetzgebung im Rahmen der 5. und 6. IV-Revision" von Prof. Dr. iur. Jörg Paul Müller und Dr. iur. Matthias Kradolfer vom 20. November 2012 gestützten) Vorbringen betreffend Vereinbarkeit der kritisierten Rechtsprechung mit den allgemeinen Beweislastregeln sowie betreffend Natur und Aktualität des dabei angewandten Anforderungsprofils (vgl. zum letzteren Punkt das Urteil 9C_776/2010 vom 20. Dezember 2011 E. 2.4 = SVR 2012 IV Nr. 32 S. 127). 
 
5.   
Zusammengefasst verletzt der angefochtene Entscheid, wonach der Beschwerdeführerin keine Invalidenrente zusteht, Bundesrecht nicht. 
 
6.   
Dem Verfahrensausgang entsprechend trägt die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, der Basler Leben AG, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 25. September 2013 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Traub