Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
8C_563/2022  
 
 
Urteil vom 26. April 2023  
 
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Wirthlin, Präsident, 
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Abrecht, 
Gerichtsschreiber Hochuli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Eveline Eggenschwiler, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle Luzern, 
Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente, Sistierung), 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 13. August 2022 (5V 22 38). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. A.________, geboren 1965, bezog ab 1. Juli 1994 aufgrund einer narzisstischen Störung mit depressiver Symptomatik eine ganze Invalidenrente (Verfügung vom 11. September 1996). Das Amt für Straf- und Massnahmenvollzug informierte die IV-Stelle Luzern (fortan: IV-Stelle oder Beschwerdegegnerin) am 6. Juli 1999 über den stationären Vollzug einer strafrechtlich angeordneten Massnahme und beantragte die Übernahme des geplanten zweijährigen Aufenthalts in der Lernstatt B.________ als berufliche Massnahme. Daraufhin sistierte die IV-Stelle die Rente per 1. September 1999 (Verfügung vom 26. Juli 1999) und sprach A.________ die Anlehre als Gartenarbeiter vom 2. August 1999 bis 1. August 2001 im Sinne einer beruflichen Massnahme (Umschulung) mit dem entsprechenden Taggeld zu. Nach Abschluss der Anlehre fand er über eine Personalvermittlungsfirma verschiedene Temporäranstellungen im Bereich Gartenbau. Die am 24. Mai 2004 zugesprochene Arbeitsvermittlung schloss die IV-Stelle per 5. April 2005 - ohne weitere Ansprüche auf Leistungen der Invalidenversicherung - ab (unangefochten in Rechtskraft erwachsene Verfügung vom 17. Juni 2005). Ab 1. Mai 2005 arbeitete A.________ als Fachberater Gartenbaustoffe in der C.________ AG. Diese löste das Arbeitsverhältnis mit ihm aufgrund seines Verhaltens per 31. Mai 2017 auf. Nach einem anschliessenden kurzfristigen Arbeitseinsatz bezog er laut Auszug aus dem Individuellen Konto (fortan: IK-Auszug) per 15. Oktober 2021 von Oktober 2017 bis Februar 2019 Arbeitslosenentschädigung.  
 
A.b. Bei anhaltender Arbeitsunfähigkeit ab 18. Juni 2019 wegen Rückenbeschwerden meldete sich A.________ am 1. Juli 2019 bei der Invalidenversicherung zur Früherfassung und am 22. Juli 2019 erneut zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle leitete in der Folge umfangreiche erwerbliche und medizinische Abklärungen ein. Erstmals mit Eingabe vom 2. Dezember 2021 machte der Versicherte geltend, seit Beendigung des Strafmassnahmenvollzuges (2001) wieder Anspruch auf eine ganze Invalidenrente zu haben. Mit Verfügung vom 17. Dezember 2021 verneinte die IV-Stelle rückblickend für die Dauer der rentenausschliessenden Eingliederung während der 100%-igen Zumutbarkeit einer angepassten Tätigkeit zwischen dem Abschluss der Umschulung (Anlehre als Gartenarbeiter) und der Neuanmeldung vom 22. Juli 2019 einen Rentenanspruch.  
 
B.  
Die hiergegen erhobene Beschwerde des A.________ wies das Kantonsgericht Luzern ab (Urteil vom 13. August 2022). 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, das kantonale Urteil sei aufzuheben. Die am 26. Juli 1999 verfügte Rentensistierung sei auf das Datum der Beendigung des Massnahmenvollzuges ebenfalls aufzuheben und die ganze Invalidenrente sei rückwirkend ab dem 1. Januar 2019 - unter Anrechnung allfälliger in dieser Zeit bezogener Taggelder oder vom Beschwerdeführer erzielter Einkommen - weiterhin auszurichten. Eventualiter sei die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur Neubeurteilung an die Vorinstanz respektive an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Zudem ersucht A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung. 
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG; zum Ganzen: BGE 145 V 57 E. 4; Urteil 8C_503/2022 vom 8. Februar 2023 E. 1.1 mit Hinweis). 
 
2.  
Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie die von der IV-Stelle am 17. Dezember 2021 verfügte Feststellung eines fehlenden Rentenanspruchs seit dem unbestrittenen Umschulungsabschluss mit rentenausschliessender Eingliederung ab 1. Mai 2005 bis zum Zeitpunkt der Neuanmeldung vom 22. Juli 2019 bestätigte. Vor Bundesgericht fordert der Beschwerdeführer - unter Anrechnung allfälliger in dieser Zeit bezogener Taggelder oder erzielter Einkommen - nur noch die Ausrichtung einer ganzen Invalidenrente ab 1. Januar 2019. 
 
3.  
Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Urteil zugrunde liegende Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar (BGE 148 V 174 E. 4.1). 
 
4.  
Das kantonale Gericht legte die massgebliche gesetzliche Bestimmung und die Rechtsprechung zur Sistierung der Leistungsausrichtung bei Straf- oder Massnahmenvollzug zutreffend dar (Art. 21 Abs. 5 ATSG; BGE 137 V 154 E. 3.3; 133 V 1 E. 4.2.4.1). Gleiches gilt für die Meldepflicht des Leistungsbezügers bei veränderten Verhältnissen (Art. 31 Abs. 1 ATSG, Art. 77 IVV), die zeitliche Wirkung der Korrektur von Verfügungen bei unrechtmässigem Leistungsbezug nach Meldepflichtverletzungen im Sinne von Art. 88 bis Abs. 2 lit. b IVV und die Frist von zehn Jahren für die Vollstreckungsverwirkung bei rechtskräftig festgesetzten Leistungen (BGE 146 V 1). Darauf wird verwiesen.  
 
5.  
 
5.1. Eine sachgerechte Anfechtung des vorinstanzlichen Urteils war möglich; soweit der Beschwerdeführer die Verletzung der Begründungspflicht resp. des Anspruchs auf rechtliches Gehör rügt, kann ihm nicht gefolgt werden (vgl. BGE 142 III 433 E. 4.3.2 mit Hinweisen; Urteil 9C_505/2020 vom 21. Dezember 2020 E. 5). Aus dem aktenkundigen IK-Auszug per 15. Oktober 2021 ist ohne Weiteres zu schliessen, dass der Beschwerdeführer präzisierend zum angefochtenen Urteil über den 31. Dezember 2018 hinaus bis Februar 2019 Arbeitslosenentschädigung bezog (vgl. auch Sachverhalt lit. A.a).  
 
5.2. Nach dem Gesagten vermochte der Beschwerdeführer nicht nur vom 1. Mai 2005 bis zum 31. Mai 2017 ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen zu erwirtschaften. Vielmehr erzielte er darüber hinaus und in Ergänzung zum vorinstanzlich festgestellten Sachverhalt (vgl. Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch BGE 136 V 362 E. 4.1 mit Hinweisen) - ohne anhaltende medizinische Einschränkungen - bis Ende Februar 2019 unter Anrechnung der Arbeitslosenentschädigung auch ein rentenausschliessendes Ersatzeinkommen. Da der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung die Vermittlungsfähigkeit voraussetzt (Art. 8 Abs. 1 lit. f und Art. 15 Abs. 3 AVIG), ist grundsätzlich von der vollen Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers auszugehen. Mit keinem Wort macht er den Eintritt einer dauerhaften Verschlechterung seines Gesundheitszustandes vor Mitte Juni 2019 geltend.  
 
6.  
 
6.1. Nach der erfolgreichen Umschulung zum angelernten Gartenarbeiter war der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Tätigkeit voll arbeitsfähig. Bei Abschluss der Eingliederungsmassnahmen mit unangefochten in Rechtskraft erwachsener Verfügung vom 17. Juni 2005 und gleichzeitiger Aufnahme einer anspruchsausschliessenden Erwerbstätigkeit ab 1. Mai 2005 standen keine anderen Leistungen der Invalidenversicherung zur Debatte. Die Parteien waren sich einig, dass weder die Voraussetzungen für den Bezug von Invalidenversicherungsleistungen noch für den Fortbestand des mit Verfügung vom 11. September 1996 zugesprochenen Rentenanspruchs erfüllt waren. Vielmehr teilten sie stillschweigend die Auffassung, der ursprüngliche Rentenanspruch sei unter den gegebenen Umständen erloschen. Dementsprechend erfolgten ab 2005 nach unbestrittener vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellung während rund vierzehn Jahren keine Kontakte mehr zwischen dem Beschwerdeführer und der IV-Stelle.  
 
6.2. Dieser übereinstimmenden Überzeugung hinsichtlich der erfolgreichen Eingliederung ohne anderweitigen Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung entspricht das Verhalten des Beschwerdeführers. Weder nach dem invaliditätsfremden Stellenverlust per 31. Mai 2017 noch nach dem Ende des Bezuges von Arbeitslosenversicherungsleistungen ab Februar 2019 machte er bei der Invalidenversicherung geltend, infolge seiner ursprünglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen (narzisstische Störung mit depressiver Symptomatik) einen Anspruch auf fortgesetzte Ausrichtung seiner angeblich weiter bestehenden, seit 1. Juli 1994 bezogenen Invalidenrente zu haben. Laut Sachverhaltsfeststellung gemäss angefochtenem Urteil wandte er sich vielmehr erst am 1. Juli 2019 (Posteingang) zwecks Früherfassung an die IV-Stelle, indem er wegen Rückenschmerzen als Spätfolge einer Rückenoperation von 2009 ab 18. Juni 2019 auf eine volle Arbeitsunfähigkeit verwies. Anhaltspunkte dafür, dass er bereits vor dem 18. Juni 2019 arbeitsunfähig war, legt der Beschwerdeführer nicht dar und sind nicht ersichtlich.  
 
6.3. Bestand somit nach übereinstimmender Auffassung der Parteien seit der rentenauschliessenden Eingliederung ab 2005 kein Rentenanspruch mehr und steht in tatsächlicher Hinsicht fest, dass der mit Anmeldung zur Früherfassung und Neuanmeldungsgesuch ab Mitte Juni 2019 geltend gemachte Gesundheitsschaden in keinem ersichtlichen Zusammenhang zum ursprünglich anspruchsbegründenden Leiden bezüglich der ab 1. Juli 1994 bezogenen Invalidenrente stand, ist das mit angefochtenem Urteil bestätigte Vorgehen der Beschwerdegegnerin betreffend umfassender und eingehender Prüfung des Neuanmeldungsgesuches vom 22. Juli 2019 im Ergebnis nicht als bundesrechtswidrig zu beanstanden.  
 
6.4. Die Beschwerdegegnerin hat in der Verfügung vom 17. Dezember 2021 ausdrücklich angekündigt, nach Prüfung der Voraussetzungen über den Rentenanspruch ab dem Zeitpunkt des Neuanmeldungsgesuchs vom 22. Juli 2019 separat zu verfügen. Wenn und soweit keine Verfügung ergangen ist, fehlt es an einem Anfechtungsgegenstand und somit an einer Sachurteilsvoraussetzung (BGE 144 I 11 E. 4.3; 134 V 418 E. 5.2.1; 131 V 164 E. 2.1). Mit der Vorinstanz bildet der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung ab dem Zeitpunkt der Neuanmeldung nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens.  
 
6.5. Bei dieser Ausgangslage ist nicht ersichtlich und zeigt der Beschwerdeführer jedenfalls nicht rechtsgenüglich auf, inwiefern das angefochtene Urteil im Ergebnis Bundesrecht verletzen soll. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde unbegründet und folglich abzuweisen.  
 
 
7.  
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das letztinstanzliche Verfahren ist indessen stattzugeben, da die gesetzlichen Voraussetzungen (Art. 64 Abs. 1 BGG) erfüllt sind. Der Beschwerdeführer wird jedoch auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen. Danach hat er der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwältin Eveline Eggenschwiler wird als unentgeltliche Anwältin bestellt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Der Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet. 
 
5.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. April 2023 
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Wirthlin 
 
Der Gerichtsschreiber: Hochuli