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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1B_313/2009 
 
Urteil vom 26. November 2009 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Féraud, Präsident, 
Bundesrichter Raselli, Eusebio, 
Gerichtsschreiber Härri. 
 
Parteien 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Heinz Heller, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich, 
Zweierstrasse 25, Postfach 9780, 8036 Zürich, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Sicherheitshaft; vorzeitiger Massnahmeantritt, 
 
Beschwerde gegen die Verfügung vom 22. Oktober 2009 des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter. 
Sachverhalt: 
 
A. 
Die Staatsanwaltschaft I des Kantons Zürich führt ein Strafverfahren gegen den türkischen Staatsangehörigen X.________. Sie wirft ihm insbesondere vor, teilweise zusammen mit seinem Bruder 500-600 Autos aufgebrochen und daraus Gegenstände behändigt zu haben. Zudem habe er mehrfach ein Fahrrad zum Gebrauch entwendet und Betäubungsmittel konsumiert. X.________ ist geständig. 
Am 21. August 2008 wurde er festgenommen. Seither befindet er sich in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft. 
 
B. 
Am 15. September 2009 erhob die Staatsanwaltschaft beim Bezirksgericht Zürich Anklage. Sie beantragt, X.________ sei schuldig zu sprechen des banden- und gewerbsmässigen Diebstahls, der mehrfachen Sachbeschädigung, des mehrfachen Hausfriedensbruchs, der mehrfachen Entwendung eines Fahrrads zum Gebrauch und der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes. Dafür sei ihm eine Freiheitsstrafe von 5 Jahren und eine Busse von Fr. 5'000.-- aufzuerlegen. Es sei eine ambulante Massnahme nach Art. 63 StGB während des Vollzugs der Freiheitsstrafe anzuordnen. 
Das Bezirksgericht hat die Hauptverhandlung auf den 3. März 2010 angesetzt. 
 
C. 
Am 28. September 2009 erstattete Dr. Y.________ ein psychiatrisches Gutachten über X.________. 
Der Sachverständige führt (S. 13 ff.) aus, es könne kein vernünftiger Zweifel bestehen, dass bei X.________ während der Zeit der ihm zur Last gelegten Taten eine recht ausgeprägte Abhängigkeit von Kokain bestanden habe. Den Ausführungen von X.________ zufolge habe er vor allem die Diebstähle aus Autos fast ausschliesslich zur Befriedigung seiner Kokainabhängigkeit begangen. Er zeige Einfühlungsvermögen und sei bereit, sich mit seinen Taten auseinanderzusetzen. Günstig sei, dass für die bei ihm vorhandene psychische Störung gut wirksame Behandlungsmethoden bekannt seien und es dürfte sich auch relativ schnell eine Institution finden lassen, welche bereit sei, ihn aufzunehmen, und den nötigen Rahmen für eine erfolgreiche Therapie biete. X.________ sei bereit, Unterstützung anzunehmen und habe realistische Zukunftspläne mit angemessenen Erwartungen. Zusammenfassend legt der Gutachter (S. 16) dar, bei Weiterbestehen der Kokainabhängigkeit müsse von einer recht düsteren Prognose ausgegangen werden, d.h. dass X.________ zur Beschaffung der nötigen finanziellen Mittel wohl recht schnell wieder Eigentumsdelikte begehen würde. Daher sollte zuerst sein Suchtleiden einer adäquaten Behandlung zugeführt werden. Seine Massnahmefähigkeit sei ausgewiesen. Er sei auch massnahmewillig. Mit einer ambulanten Massnahme auf freiem Fuss würde man ihn wohl hoffnungslos überfordern, wäre er doch so weiterhin den Verlockungen des Kokains, nach welchem man in Zürich nicht lange zu suchen brauche, schutzlos ausgesetzt. Daher bleibe eigentlich nur noch die Empfehlung einer mehrmonatigen, wenn nicht mehrjährigen stationären Massnahme in einer geeigneten Institution, wonach eine recht engmaschige ambulante Nachbetreuung anschliessen sollte. In Frage käme auch eine ambulante Massnahme während der Verbüssung einer allfälligen Freiheitsstrafe, wobei aus ärztlicher Sicht der stationären Massnahme in einer geeigneten Institution der Vorzug zu geben sei. 
 
D. 
Am 15. Oktober 2009 ersuchte X.________ unter Hinweis auf das Gutachten darum, es sei ihm nach Art. 58 Abs. 1 StGB der vorzeitige Massnahmeantritt (stationäre therapeutische Massnahme) zu bewilligen. 
Mit Verfügung vom 22. Oktober 2009 wies der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich das Gesuch ab. Zur Begründung führte er aus, aufgrund des Gutachtens und des Antrags der Staatsanwaltschaft in der Anklageschrift sei offen, ob die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme oder eine ambulante Massnahme bei gleichzeitiger Verbüssung einer Freiheitsstrafe durch das Sachgericht zu erwarten sei, so dass mit der Bewilligung eines vorzeitigen Massnahmeantritts der Entscheid des Sachgerichts in nicht zu rechtfertigender Weise präjudiziert würde. 
 
E. 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung des Haftrichters sei aufzuheben und dem Beschwerdeführer der vorzeitige stationäre Massnahmeantritt zu gewähren; eventualiter sei dem Beschwerdeführer der vorzeitige ambulante Massnahmeantritt zu gewähren; subeventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an den Haftrichter zurückzuweisen. 
 
F. 
Der Haftrichter hat auf Gegenbemerkungen verzichtet. 
Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht vernehmen lassen. 
 
Erwägungen: 
 
1. 
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. 
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung (vgl. § 71a Abs. 3 Satz 2 der Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 des Kantons Zürich [StPO/ZH; LS 321]). Die Beschwerde ist damit nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig. 
Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. 
Der angefochtene Entscheid schliesst das Strafverfahren nicht ab. Es handelt sich um einen Zwischenentscheid nach Art. 93 BGG. Bliebe es dabei, müsste der Beschwerdeführer seine Zeit weiterhin in Untersuchungshaft verbringen und könnte die von ihm gewünschte Massnahme nicht antreten. Der sich für den Beschwerdeführer daraus ergebende Nachteil könnte auch mit einem für ihn günstigen Endentscheid - d.h. der späteren Anordnung einer Massnahme durch das Sachgericht - nicht mehr behoben werden. Der nicht wieder gutzumachende Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG kann daher bejaht werden, weshalb die Beschwerde auch insoweit zulässig ist. 
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2. 
2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, der angefochtene Entscheid verletze Art. 58 Abs. 1 StGB und das Willkürverbot nach Art. 9 BV
 
2.2 Gemäss Art. 58 Abs. 1 StGB kann dem Täter gestattet werden, den Vollzug vorzeitig anzutreten, wenn die Anordnung einer Massnahme nach den Artikeln 59-61 oder Artikel 63 zu erwarten ist. 
Diese Bestimmung wurde mit dem neuen Allgemeinen Teil des Strafgesetzbuches, in Kraft seit 1. Januar 2007, eingeführt. Der vorzeitige Massnahmevollzug gehört an sich in das kantonale Prozessrecht. Doch ist von allen Instanzen, die mit Drogenproblemen befasst sind, gefordert worden, den vorzeitigen Vollzug in der ganzen Schweiz einheitlich zu ermöglichen, damit die Zeit der Untersuchung sinnvoll genutzt werden kann, die Therapiebereitschaft nicht durch eine längere Untersuchungshaft zerstört wird und im Zeitpunkt der Urteilsfällung schon konkrete Erfahrungen mit einer bestimmten Therapie vorliegen (Botschaft vom 21. September 1998 zur Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches, BBl 1999 2073). 
Aufgrund von Art. 58 Abs. 1 StGB besteht die grundsätzliche Möglichkeit des vorzeitigen Antritts einer therapeutischen Massnahme ungeachtet einer entsprechenden Bestimmung im kantonalen Strafprozessrecht. Das kantonale Recht kann aber den Sachbereich näher regeln und dabei den vorzeitigen Vollzug von bestimmten weiteren Voraussetzungen abhängig machen (Urteile 1B_74/2009 vom 30. März 2009 E. 4.2; 1B_307/2008 vom 23. Dezember 2008 E. 2.1; je mit Hinweisen). 
Gemäss § 71a Abs. 3 StPO/ZH wird die Bewilligung zum vorzeitigen Massnahmeantritt erteilt, wenn die Anordnung einer freiheitsentziehenden Massnahme zu erwarten ist und der Zweck des Strafverfahrens nicht gefährdet wird. Dabei setzt § 22 Abs. 1 der kantonalen Justizvollzugsverordnung (JVV/ZH; LS 331.1) voraus, dass ein Gutachten oder ein gutachterlicher Bericht eine Massnahme empfiehlt. 
Nach der Rechtsprechung steht der zuständigen Behörde beim Entscheid über die Bewilligung des vorzeitigen Massnahmeantritts ein Ermessensspielraum zu (Urteile 1B_74/2009 vom 30. März 2009 E. 4.3; 1B_307/2008 vom 23. Dezember 2008 E. 2.3; je mit Hinweisen). 
Die Möglichkeit des vorzeitigen Massnahmeantritts sieht auch Art. 236 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 vor (BBl 2007 7046 f.). Mit deren Inkrafttreten - voraussichtlich im Jahr 2011 - wird Art. 58 Abs. 1 StGB aufgehoben (Anhang 1 Ziff. II/8; BBl 2007 7118). 
 
2.3 Wird der vorzeitige Massnahmeantritt bewilligt, bindet das den Sachrichter in rechtlicher Hinsicht nicht. Er bleibt frei, die vorzeitig angetretene Massnahme definitiv oder eine andere Massnahme anzuordnen oder auf eine solche gänzlich zu verzichten. Der vorzeitige Massnahmeantritt bindet den Sachrichter auch faktisch nicht so, dass er die vorzeitig angetretene Massnahme nur noch bestätigen könnte. Der vorzeitige Massnahmeantritt stellt für den Sachrichter vielmehr eine Entscheidungshilfe dar. Hat sich die vorzeitig angetretene Massnahme bewährt, wird er diese in der Regel definitiv anordnen. Hat sie sich dagegen nicht bewährt, wird er von ihrer Anordnung regelmässig absehen. In jedem Falle kann der Sachrichter seinen Entscheid auf eine gesichertere Grundlage stellen. Er ist nicht auf die Würdigung des Gutachtens beschränkt, sondern kann Erfahrungen, die im vorzeitigen Massnahmevollzug gesammelt werden konnten, berücksichtigen (BGE 126 I 172 E. 3a S. 174). Darin liegt ein wesentlicher Vorteil dieses Rechtsinstituts. Namentlich mit Blick darauf sieht es das Gesetz, wie dargelegt (E. 2.2), vor. Die Vorinstanz lässt dies ausser Acht. Sie geht in der Sache davon aus, der vorzeitige Massnahmeantritt schränke die Freiheit des Sachrichters ein und behindere dessen Entscheid, was nach dem Gesagten nicht zutrifft. 
Zu berücksichtigen ist überdies Folgendes: Bliebe es beim angefochtenen Entscheid, müsste der Beschwerdeführer bis zur Hauptverhandlung gut drei weitere Monate untätig in Sicherheitshaft verbringen, wo seine Suchtproblematik nicht angemessen behandelt werden kann (vgl. Marianne Heer, in: Basler Kommentar, Strafrecht I, 2. Aufl. 2007, N. 1 zu Art. 58 StGB). Diese Zeit könnte für die Massnahme nicht genutzt werden, obwohl diese der Gutachter als notwendig erachtet und der Beschwerdeführer massnahmefähig und -willig ist. Aufgrund des Gutachtens ist davon auszugehen, dass sich die Aussichten auf eine Legalbewährung mit der Behandlung des Beschwerdeführers deutlich verbessern werden. Damit liegt es nicht nur in dessen privatem Interesse, dass er in Verkürzung der Sicherheitshaft mit der Massnahme möglichst früh beginnen kann, sondern besteht daran auch ein öffentliches Interesse. 
Überzeugt die von der Vorinstanz für die Ablehnung des vorzeitigen Massnahmeantritts gegebene Begründung demnach nicht und sprechen sachliche Gesichtspunkte für dessen Bewilligung, hat die Vorinstanz mit ihrem Entscheid von ihrem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht. Sie hätte dem Beschwerdeführer die Möglichkeit geben müssen, mit der Massnahme zu beginnen. 
 
2.4 Wie gesagt, empfiehlt der Gutachter eine stationäre Behandlung in einer geeigneten Institution. Er erachtet aber auch eine ambulante Behandlung während des Strafvollzugs als möglich. Eine solche ambulante Behandlung beantragt die Staatsanwaltschaft. Welcher der beiden Varianten der Vorzug zu geben ist, ist Ermessenssache. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, dieses Ermessen wahrzunehmen. Die Angelegenheit wird deshalb in Gutheissung des Subeventualantrags an die Vorinstanz zurückgewiesen. Diese wird sich dazu auszusprechen haben, ob eine vorzeitige stationäre Massnahme oder der vorzeitige Strafvollzug unter gleichzeitiger Durchführung einer ambulanten Massnahme anzuordnen sei. 
 
3. 
Der Beschwerdeführer beantragt die Korrektur des vorinstanzlichen Kostenentscheids. Darauf kann nicht eingetreten werden, weil der Beschwerdeführer den Antrag nicht begründet (Art. 42 Abs. 2 BGG). 
 
4. 
Kosten werden keine erhoben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Vertreter des Beschwerdeführers eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist damit gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
1. 
Die Beschwerde wird, soweit darauf einzutreten ist, gutgeheissen, die Verfügung des Haftrichters des Bezirksgerichts Zürich vom 22. Oktober 2009 aufgehoben und die Sache zum neuen Entscheid an diesen zurückgewiesen. 
 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3. 
Der Kanton Zürich hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Dr. Heinz Heller, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen. 
 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt. 
 
Lausanne, 26. November 2009 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: 
 
Féraud Härri