Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
1C_263/2021
Urteil vom 27. Januar 2022
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kneubühler, Präsident,
Bundesrichter Haag,
nebenamtlicher Bundesrichter Weber,
Gerichtsschreiber Uebersax.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführer,
gegen
Bau- und Justizdepartement des Kantons Solothurn,
Werkhofstrasse 65, Rötihof, 4509 Solothurn,
vertreten durch die Motorfahrzeugkontrolle des Kantons
Solothurn, Abteilung Administrativmassnahmen,
Gurzelenstrasse 3, 4512 Bellach.
Gegenstand
Entzug des Führerausweises,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts
des Kantons Solothurn vom 12. April 2021
(VWBES.2020.447).
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 10. November 2020 entzog die Motorfahrzeugkontrolle namens des Bau- und Justizdepartements des Kantons Solothurn (nachfolgend: kantonales Amt) A.________ den Führerausweis wegen einer mittelschweren Verkehrswiderhandlung für die Dauer von vier Monaten. Begründet wurde die Massnahme mit einer Auffahrkollision wegen mangelnder Aufmerksamkeit. Der Beschwerdeführer habe zudem innerhalb der letzten zwei Jahre bereits einmal eine mittelschwere Verkehrswiderhandlung begangen. Die gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn am 12. April 2021 ab.
B.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 9. Mai 2021 an das Bundesgericht verlangt A.________ sinngemäss, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 12. April 2021 aufzuheben und eine Entzugsdauer von maximal einem Monat festzulegen. Das Verwaltungsgericht beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Das kantonale Amt und das Bundesamt für Strassen schliessen auf Abweisung der Beschwerde. A.________ äusserte sich am 9. Oktober 2021 nochmals zur Sache.
Erwägungen:
1.
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über einen Führerausweisentzug. Dagegen steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht offen (Art. 82 ff. BGG). Ein Ausnahmegrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor. Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist unter Vorbehalt der nachstehenden Erwägungen auf die Beschwerde einzutreten.
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 i.V.m. Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG ).
1.3. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen, und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254 mit Hinweisen). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
2.
2.1. Der Beschwerdeführer kollidierte mit seinem Lieferwagen Iveco 35-SUV Daily am 11. August 2020 um ca. 7.40 Uhr mit dem Fahrzeug Honda Jazz 1.2i, dessen Lenkerin ihr Fahrzeug vor einer auf rot stehenden Ampel auf der Bernstrasse zwischen Rubigen und Münsingen angehalten hatte. Der Beschwerdeführer gab bei seiner Befragung durch die Polizei an, dass sich auf der Fahrbahn eine Hebebühne befand. Bei der Hebebühne sei ein Arbeiter nahe der Fahrbahn gestanden. Er habe auf diesen geachtet. Als er danach wieder nach vorne geschaut habe, habe er das stehende Fahrzeug Honda Jazz 1.2i gesehen, auf dessen Heck er danach trotz Vollbremsung auffuhr.
2.2. Gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG muss der Führer das Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Der Fahrzeugführer muss seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwenden. (vgl. 3 Abs. 1 der Verkehrsregelnverordnung vom 13. November 1962, VRV; SR 741.11). Der Beschwerdeführer ist der Auffassung, dass er diese Vorschrift eingehalten habe. Er habe nicht damit rechnen müssen, dass sich der Arbeiter bei der Hebebühne plötzlich und "sehr energisch" Richtung Strasse bewege. Er habe daher die Aufmerksamkeit der auf die Richtung Strasse rennenden Person zuwenden müssen und habe sich erst danach wieder dem vorausfahrenden Verkehr zuwenden können.
2.3. Ein Fahrzeuglenker muss jederzeit in der Lage sein, sinnvoll auf die Umstände zu reagieren. In Gefahrensituationen und in allen Situationen, die eine schnelle Entscheidung erfordern, muss er mit kühlem Kopf und ohne Überschreitung der mit den Umständen vereinbaren Reaktionszeit reagieren. Entschuldbar ist jedoch, wer, überrascht durch das ungewöhnliche, unerwartete und gefährliche Manöver eines anderen Verkehrsteilnehmers oder durch das plötzliche Auftauchen eines Tieres, unter verschiedenen möglichen Reaktionen nicht diejenige gewählt hat, die im Nachhinein objektiv als die angemessenste erscheint (Urteile des Bundesgerichts 1C_361/2014 vom 26. Januar 2015, E. 3.1 und 1C_577/2018 vom 9. April 2019 E. 2.2). Es ist daher zu prüfen, ob eine solche Situation vor dem Unfallereignis gegeben war.
2.4. Gegenüber der Polizei gab der Beschwerdeführer an, er habe auf den Arbeiter bei der Hebebühne neben der Fahrbahn geachtet. Erst als er wieder nach vorne geschaut habe, habe er das andere Fahrzeug stehen sehen. In seinen späteren Eingaben stellte er sich auf den Standpunkt, der Arbeiter habe sich Richtung Fahrbahn bewegt und sei um die Hebebühne herumgelaufen respektive die Person sei Richtung Strasse gerannt. Die Vorinstanz hat dies im Rahmen ihrer Sachverhaltsfeststellung als Schutzbehauptung beurteilt und wie das kantonale Amt auf das Polizeiprotokoll abgestellt. Wenn die Vorinstanz auf die tatnächsten Aussagen des Beschwerdeführers abgestellt hat, stellt dies nicht als eine offensichtlich unrichtige Feststellung des Sachverhalts gemäss Art. 97 Abs. 1 BGG dar (Urteil des Bundesgerichts 1C_364/2019 vom 4. Februar 2020 E. 4.2). Somit kann nicht davon ausgegangen werden, die Kollision mit dem vor der auf rot stehenden Ampel wartenden Fahrzeug sei wegen einem plötzlichen, unvorhersehbaren Ereignis als entschuldbar zu qualifizieren. Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte dafür, dass die Lenkerin des Fahrzeugs Honda Jazz abrupt vor der auf rot stehenden Ampel abgebremst hätte, da gemäss den Angaben im Unfallaufnahmeprotokoll bereits weitere Fahrzeuge vor der auf rot stehenden Ampel warteten. Mit seinem Verhalten als Lenker des Lieferwagens IVECO, das zur Kollision mit dem Fahrzeug Honda Jazz führte, verstiess der Beschwerdeführer daher gegen Art. 31 Abs. 1 SVG, womit gemäss Art. 90 Abs. 1 SVG eine einfache Verkehrsregelverletzung vorliegt.
3.
3.1. Das Gesetz unterscheidet zwischen der leichten, mittelschweren und schweren Widerhandlung ( Art. 16a-c SVG ). Gemäss Art. 16a SVG begeht eine leichte Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft (Abs. 1 lit. a). Die fehlbare Person wird verwarnt, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis nicht entzogen war und keine andere Administrativmassnahme verfügt wurde (Abs. 3). Gemäss Art. 16b SVG begeht eine mittelschwere Widerhandlung, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Abs. 1 lit. a). Nach einer mittelschweren Widerhandlung wird der Führerausweis für mindestens einen Monat entzogen (Abs. 2 lit. a). Leichte und mittelschwere Widerhandlungen werden von Art. 90 Abs. 1 SVG als einfache Verkehrsregelverletzungen erfasst (BGE 135 II 138 E. 2.4).
3.2. Die mittelschwere Widerhandlung stellt nach Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c Abs. 1 lit. a SVG gegeben sind (BGE 135 II 138 E. 2.2.2). Die Annahme einer leichten Widerhandlung setzt voraus, dass der Lenker durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorgerufen hat und ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung müssen eine geringe Gefahr und ein leichtes Verschulden kumulativ gegeben sein (BGE 135 II 138 E. 2.2.3 S. 141 mit Hinweisen sowie Urteil 1C_156/2010 vom 26. Juli 2010 E. 4).
3.3. Bei Auffahrunfällen besteht die ernsthafte Gefahr, dass die durch den Stoss auf das Heck bewirkte hohe Rückwärtsbeschleunigung auf die Halswirbelsäule der Betroffenen (selbst bei blossem Zurückprallen des Hinterkopfes und Nackens auf die Kopfstütze) zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden (insbes. zu einem sog. "Schleudertrauma") führen kann (BGE 135 II 138 Erw. 2.3; Urteile des Bundesgerichts 1C_156/2010 vom 26. Juli 2010 E. 5 und 1C_366/2011 vom 20. Juli 2012 E. 3.3). Im vorliegenden Fall kam es nicht nur zu einem erheblichen Sachschaden, nachdem das Fahrzeug Honda Jazz, auf das der Beschwerdeführer mit seinem Auto aufgefahren war, nach dem Unfall nicht mehr fahrbar war. Vielmehr musste die Lenkerin des Fahrzeugs Honda Jazz nach dem Unfall in Spitalpflege verbracht werden. Nicht zu entlasten vermag den Beschwerdeführer, dass er gemäss seinen eigenen Angaben mit seinem 3'500 kg schweren Lieferwagen mit einem viel leichteren Fahrzeug kollidierte. Im Gegenteil verlangt die Lenkung eines schwereren Fahrzeuges gerade auch entsprechend zusätzliche Vorsicht und Anpassung der Geschwindigkeit, um trotz des höheren Gewichts rechtzeitig anhalten zu können. Die Vorinstanz ist daher zutreffend von einer mittelschweren Verkehrswiderhandlung ausgegangen, da aufgrund der Auffahrkollision zumindest nicht von einer geringen Gefahr für die Sicherheit anderer auszugehen ist, sodass die Frage, ob ein geringes Verschulden vorliegt, offen gelassen werden kann.
4.
4.1. Nach Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG wird der Führerausweis nach einer mittelschweren Widerhandlung für mindestens vier Monate entzogen, wenn in den vorangegangenen zwei Jahren der Ausweis einmal wegen einer schweren oder mittelschweren Widerhandlung entzogen war. Diese Voraussetzung ist beim Beschwerdeführer erfüllt, da ihm am 10. Februar 2020 bereits einmal wegen einer mittelschweren Verkehrswiderhandlung der Führerausweis entzogen worden war.
4.2. Der Beschwerdeführer verlangt die Reduktion des Führerausweisentzuges auf einen Monat. Eine solche Unterschreitung der gesetzlichen Mindestentzugsdauer gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG ist jedoch aufgrund der Bestimmung von Art. 16 Abs. 3 SVG ausgeschlossen. (Urteil des Bundesgerichts 1C_102/2016 vom 20. Dezember 2016 E. 2).
5.
Die Beschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang wird der unterliegende Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 3 lit. a und Art. 66 Abs. 1 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Bau- und Justizdepartement des Kantons Solothurn, dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 27. Januar 2022
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kneubühler
Der Gerichtsschreiber: Uebersax