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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_135/2021  
 
 
Urteil vom 27. April 2021  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Stadelmann, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, 
Gerichtsschreiberin Dormann. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Stadelmann, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Januar 2021 (VV.2020.48/E). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
Die 1963 geborene A.________ meldete sich im Juli 2013 erstmals bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau verneinte - gestützt auf das psychiatrische Gutachten des Dr. med. B.________ vom 24. September 2014 - einen Leistungsanspruch mangels eines invalidisierenden Gesundheitsschadens (Verfügung vom 10. Dezember 2014). 
 
Im Mai 2017 ersuchte A.________ wiederum um Invalidenleistungen. Im Verlauf der Abklärungen ordnete die IV-Stelle insbesondere eine erneute psychiatrische Begutachtung durch Dr. med. B.________ an (Verfügung vom 26. Oktober 2017). Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 21. Februar 2018 mangels rechtzeitiger Leistung des Kostenvorschusses nicht ein. Nach Eingang des psychiatrischen Verlaufsgutachtens des Dr. med. B.________ vom 16. September 2019 und Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 30. Januar 2020 abermals einen Leistungsanspruch mit der Begründung, ein Gesundheitsschaden im invalidenversicherungsrechtlichen Sinn sei nicht ausgewiesen. 
 
B.   
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 13. Januar 2021 ab. 
 
C.   
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 13. Januar 2021 sei ihr eine ganze Invalidenrente ab Oktober 2017 (6 Monate nach Neuanmeldung) zuzusprechen; eventualiter sei die Angelegenheit zu weiteren Abklärungen an das kantonale Gericht resp. an die IV-Stelle zurückzuweisen. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
 
2.1. Bei einer Neuanmeldung zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung finden die Grundsätze zur Rentenrevision analog Anwendung (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV [SR 831.201]; BGE 130 V 71 E. 3.2.3).  
 
Ändert sich der Invaliditätsgrad eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen seit Zusprechung der Rente, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Anspruch zu beeinflussen. Insbesondere ist die Rente bei einer wesentlichen Änderung des Gesundheitszustandes revidierbar. Weiter sind, auch bei an sich gleich gebliebenem Gesundheitszustand, veränderte Auswirkungen auf den Erwerbs- oder Aufgabenbereich von Bedeutung. Hingegen ist die lediglich unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Sachverhalts im revisionsrechtlichen Kontext unbeachtlich (BGE 141 V 9 E. 2.3 mit Hinweisen). Weder eine im Vergleich zu früheren ärztlichen Einschätzungen ungleich attestierte Arbeitsunfähigkeit noch eine unterschiedliche diagnostische Einordnung des geltend gemachten Leidens genügt somit per se, um auf einen verbesserten oder verschlechterten Gesundheitszustand zu schliessen; notwendig ist in diesem Zusammenhang vielmehr eine veränderte Befundlage (SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81, 9C_418/2010 E. 4.2; Urteil 9C_346/2019 vom 6. September 2019 E. 2.1.1 mit weiteren Hinweisen). Liegt in diesem Sinne ein Revisionsgrund vor, ist - in einem zweiten Schritt - der Rentenanspruch in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht umfassend ("allseitig") zu prüfen, wobei keine Bindung an frühere Beurteilungen besteht (BGE 141 V 9 E. 2.3; Urteil 9C_626/2019 vom 26. November 2019 E. 2). 
 
2.2. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 140 V 193 E. 3.2; 134 V 231 E. 5.1; 125 V 351 E. 3a mit Hinweis).  
 
2.3. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit handelt es sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2). Ebenso stellt die konkrete Beweiswürdigung eine Tatfrage dar. Dagegen sind die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Anforderungen an die Beweiskraft ärztlicher Berichte und Gutachten Rechtsfragen (Urteile 8C_673/2016 vom 10. Januar 2017 E. 3.2 und 9C_899/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1).  
 
3.  
 
3.1. Die Vorinstanz hat festgestellt, dass sich laut Verlaufsgutachten des Dr. med. B.________ keine zuverlässigen Hinweise auf eine Veränderung seit der Vorbegutachtung gefunden hätten. Die behandelnden Ärzte hätten verschiedene neue Diagnosen gestellt, die der Gutachter aber nicht bestätigt habe. Sodann hat sie dem Verlaufsgutachten des Dr. med. B.________, worin (wie bereits im Vorgutachten vom 24. September 2014) keine Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt wurde, Beweiskraft beigemessen und folglich einen Rentenanspruch verneint.  
 
3.2. Mit diesem Ergebnis hat das kantonale Gericht - wenn auch erst nach Würdigung des Verlaufsgutachtens - eine anspruchsrelevante Veränderung des Sachverhalts seit Erlass der anspruchsverneinenden Verfügung vom 10. Dezember 2014 zwar implizit, aber unmissverständlich verneint. Die dazu im Widerspruch stehende Feststellung in E. 3.2 des angefochtenen Entscheids, wonach sich die Frage nach einer wesentlichen Verschlechterung des Gesundheitszustandes gestützt auf die Aktenlage nicht abschliessend beurteilen lasse, ist unhaltbar (vgl. vorangehende E. 1). Vorbehalten bleibt, dass dem Verlaufsgutachten hinsichtlich der für einen Rentenanspruch erforderlichen Sachverhaltsveränderung (vgl. vorangehende E. 2.1) Beweiskraft zukommt, was im Folgenden zu prüfen ist.  
 
3.3.  
 
3.3.1. Die Beschwerdeführerin behauptet zunächst eine wirtschaftliche Abhängigkeit des Dr. med. B.________ von der IV-Stelle, weshalb Zweifel an dessen Unabhängigkeit "wohl berechtigt" seien. Dazu habe sich die Vorinstanz aber nicht geäussert, sondern sich hinter dem Nichteintretensentscheid vom 21. Februar 2018 "versteckt".  
 
3.3.2. Die Beschwerdeführerin hatte Gelegenheit, Ausstandsgründe hinsichtlich Dr. med. B.________ mit der Beschwerde gegen die Zwischenverfügung vom 26. Oktober 2017 geltend zu machen, was sie aber nicht rechtsgültig getan hat (vgl. Sachverhalt lit. A). Die Vorinstanz hatte daher keinen Anlass, im angefochtenen Entscheid auf entsprechende Vorbringen der Versicherten einzugehen (vgl. BGE 143 V 66 E. 4.3). Davon abgesehen können unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Abhängigkeit der regelmässige Beizug eines Gutachters durch den Versicherungsträger, die Anzahl der beim selben Arzt in Auftrag gegebenen Gutachten und Berichte sowie das daraus resultierende Honorarvolumen für sich allein genommen ohnehin nicht zum Ausstand führen (BGE 137 V 210 E. 1.3.3; Urteil 8C_447/2020 vom 7. Oktober 2020 E. 3).  
 
3.4.  
 
3.4.1. Sodann macht die Beschwerdeführerin im Wesentlichen geltend, Dr. med. B.________ habe schon bei der ersten Expertise die früheren Arztberichte ungenügend gewürdigt. Ihre eigenen Angaben anlässlich der Begutachtung seien Grund genug, Zweifel am Gutachten des Dr. med. B.________ zu wecken. Im Vordergrund stünden eine dissoziative Störung, eine Depression und eine (allenfalls komplexe) posttraumatische Belastungsstörung, was von den behandelnden Medizinern erkannt worden sei. Damit habe sich der Experte nicht ausreichend auseinandergesetzt. Ausserdem seien keine Berichte über die (gescheiterte) Eingliederung eingeholt worden, und der Gutachter habe diesbezüglich keine Abklärungen getroffen. Sie habe lange Zeit vieles verdrängt und einfach funktioniert, bis der Zusammenbruch gekommen sei. Es greife zu kurz, einfach auf die frühere Erwerbstätigkeit zu verweisen, da diese gerade infolge gesundheitlicher Veränderungen nicht mehr möglich sei. Der von Dr. med. B.________ beigezogene Neuropsychologe habe kognitive Funktionsstörungen festgestellt, die mit der früheren Tätigkeit nicht mehr vereinbar seien. Damit weise das Gutachten zahlreiche (materielle) Mängel auf.  
 
3.4.2. Im hier interessierenden Zusammenhang ist nicht von Belang, ob die (früheren oder aktuellen) diagnostischen Einordnungen des Dr. med. B.________ zutreffen. Ebensowenig ist ausschlaggebend, dass die Beschwerdeführerin vom 5. Mai bis zum 11. Juni 2015 in stationärer und vom 15. Juni bis zum 26. November 2015 in tageskli nischer Behandlung stand. Entscheidend ist in concreto einzig, ob im massgeblichen Zeitraum (Neua nmeldung im Mai 2017; Erlass der an gefochtenen Verfügung am 30. Januar 2020) eine erhebliche (und anhaltende; vgl. Art. 88a Abs. 2 IVV) Veränderung der Befundlage im Vergleich zu jener im Dezember 2014 eintrat (vgl. vorangehende E. 2.1).  
 
Eine solche verneinten sowohl Dr. med. B.________ als auch der beigezogene Neuropsychologe nachvollziehbar. Auch die behandelnden Ärzte (vgl. Berichte der C.________ AG vom 11. Juni 2015 und 21. Januar 2016, der Dr. med. D.________ vom 23. Mai 2018 und des Dr. med. E.________ vom 3. Dezember 2018) scheinen von einer im Wesentlichen unveränderten Situation seit dem Ende der Erwerbstätigkeit im Jahr 2013 auszugehen. Soweit die Beschwerdeführerin überhaupt gesundheitliche Veränderungen anspricht, legt sie auch nicht ansatzweise dar, dass diese im massgeblichen Zeitraum eingetreten sein sollen. Ihre weitere Kritik am Verlaufsgutachten des Dr. med. B.________ zielt ins Leere; diesbezügliche Weiterungen erübrigen sich. 
 
3.5. Nach dem Gesagten genügt das Verlaufsgutachten des Dr. med. B.________ in Bezug auf den entscheidenden Punkt den Anforderungen an die Beweiskraft. Die darauf beruhende vorinstanzliche Feststellung betreffend die (fehlende) anspruchsrelevante Veränderung des Sachverhalts (vgl. vorangehende E. 3.2) ist auch nicht offensichtlich unrichtig (unhaltbar, willkürlich: BGE 135 II 145 E. 8.1; Urteil 9C_607/2012 vom 17. April 2013 E. 5.2). Sie bleibt daher für das Bundesgericht verbindlich (vgl. vorangehende E. 1). Die Beschwerde ist unbegründet.  
 
 
4.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 27. April 2021 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Dormann