Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 53/02
Urteil vom 27. Mai 2003
II. Kammer
Besetzung
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung; Gerichtsschreiberin Berger Götz
Parteien
C.________, 1968, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard, Werdstrasse 36, 8004 Zürich,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 10. Dezember 2001)
Sachverhalt:
A.
Die 1968 geborene C.________ ist am 22. Mai 1998 beim Segeln von einem Segelbaum am Kopf getroffen worden. Zunächst traten Schmerzen an der Aufschlagstelle, dann Nackenschmerzen auf und die Kopfschmerzen dehnten sich im ganzen Kopf aus. In der Permanence Z.________, welche C.________ wegen zunehmender Beschwerden an der Halswirbelsäule (HWS) aufsuchte, wurde am 24. Mai 1998 eine leichte skoliotische Schonhaltung der HWS bei paravertebraler und okzipitaler Druckdolenz festgestellt. Als Bezügerin von Taggeldern der Arbeitslosenversicherung war sie bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfällen versichert. Die SUVA anerkannte ihre Leistungspflicht für die Erstbehandlung vom 24. Mai 1998 in der Permanence; weitergehende Leistungen im Zusammenhang mit dem Unfallereignis vom 22. Mai 1998 lehnte sie ab (Verfügung vom 14. Januar 2000). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 25. April 2000 fest.
B.
C.________ liess dagegen beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde einreichen und beantragen, die SUVA sei zu verpflichten, die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Nach Eingang des von C.________ veranlassten Gutachtens des Dr. med. R._______, Spezialarzt für Neurologie FMH, vom 27. Februar 2001 und nach Durchführung eines zweiten Schriftenwechsels wies das kantonale Gericht die Beschwerde ab (Entscheid vom 10. Dezember 2001).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt C.________ das im kantonalen Gerichtsverfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern. Ferner lässt sie um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen. Der Eingabe liegen die Berichte des Dr. med. H.________, Spezialarzt FMH für Orthopädie und Sportmedizin, vom 26. März 2001 und des Dr. med. S.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 18. Januar 2002 bei.
Während die SUVA auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung. Die als Mitinteressierte zum Verfahren beigeladene PROVITA Gesundheitsversicherung führt aus, sie sehe von der Anfechtung des kantonalen Gerichtsentscheides ab, werde aber die Rückerstattung der von ihr erbrachten Leistungen geltend machen, falls die SUVA vom Eidgenössischen Versicherungsgericht zur Übernahme der Behandlungskosten verpflichtet werde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Rechtsprechung zum für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) zutreffend dargelegt (BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b). Entsprechendes gilt für die von der Judikatur entwickelten Grundsätze zum Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw. 3c), bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) und bei Folgen eines Unfalls mit Schleudertrauma der HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle im Besonderen (BGE 117 V 359). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides (hier: 25. April 2000) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
1.2 Bei der Beurteilung der adäquaten Kausalität von nicht auf organisch nachweisbare Funktionsausfälle zurückzuführenden Unfallfolgen ist nicht nur nach erlittenem Schleudertrauma der Halswirbelsäule, sondern auch nach schleudertraumaähnlichen Einwirkungen oder Schädel-Hirntraumata mit vergleichbaren Folgen (BGE 117 V 366 ff. Erw. 6, 382 ff. Erw. 4; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2) analog zur in BGE 115 V 138 Erw. 6 für psychische Störungen entwickelten Methode vorzugehen (für Schleudertraumata: BGE 117 V 365; RKUV 1997 Nr. U 272 S. 173; für schleudertraumaähnliche Einwirkungen: RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317; für Schädel-Hirntraumata: BGE 117 V 382 f.; RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317). Dabei ist im Rahmen der Prüfung der massgebenden unfallbezogenen Kriterien im Gegensatz zur Rechtslage bei psychischen Fehlentwicklungen auf eine Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten zu verzichten, weil nicht entscheidend ist, ob die Beschwerden medizinisch eher als organischer und/oder psychischer Natur bezeichnet werden (für Schleudertraumata: BGE 117 V 367; RKUV 1997 Nr. U 272 S. 174; für schleudertraumaähnliche Einwirkungen: RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317; für Schädel-Hirntraumata: BGE 117 V 382 f.; RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317).
2.
Auf Grund der medizinischen Akten steht fest, dass die Beschwerdeführerin unter einem rechtsseitigen Zervikalsyndrom mit einer begleitenden Zervikobrachialgie rechts sowie unter einer reaktiv depressiven Entwicklung leidet.
2.1 Die Vorinstanz hat festgestellt, als Ursache dieser Gesundheitseinschränkungen falle ein Schleudertrauma ausser Betracht, da der von der Versicherten angegebene Mechanismus im Zusammenhang mit dem Schlag des Segelbaumes an ihren Kopf ein ganz anderer gewesen sei, als derjenige, der zu einem Schleudertrauma der HWS führe. Auch ein schleudertraumaähnlicher Vorfall sei zu verneinen, weil keine mit einer Geschwindigkeitsänderung verbundene körperliche Reaktion vorliege. Auf Grund der gegensätzlichen ärztlichen Beurteilungen könne das Bestehen struktureller Veränderungen an der HWS trotz etlicher, insbesondere radiologischer Untersuchungen weder eindeutig bejaht noch eindeutig ausgeschlossen werden. Da es bloss möglich, nicht aber überwiegend wahrscheinlich sei, dass der Schlag des Segelbaumes an den Kopf zu einer Schädigung der HWS und damit zu den festgestellten Beschwerden geführt habe, liege Beweislosigkeit vor, deren Folgen die Beschwerdeführerin zu tragen habe.
2.2 Der SUVA-Kreisarzt Dr. med. O.________ hat in seiner Beurteilung vom 12. Oktober 1999 angegeben, der Kopf der Versicherten sei anlässlich des Unfallereignisses vom 22. Mai 1998 "unter Verdrehung in der Halswirbelsäule nach rechts geschlagen"; die Ursache der Beschwerden sehe er nicht im Unfallereignis, sondern in einem physiologischen Treppenphänomen. Dr. med. F.________, Allgemeinpraktiker, hat am 26. August 1999 eine Distorsion/Luxation der HWS diagnostiziert, während Dr. med. H.________ von einem Status nach schwerem HWS-Schleudertrauma mit radiologisch eindeutig nachweisbarer Instabilität C3/4, etwas weniger C4/5, ausgegangen ist (Bericht vom 16. September 1999). Auf Veranlassung des Kreisarztes hat PD Dr. med. B.________, Leitender Arzt, Orthopädische Klinik U.________, die Röntgenbilder am 4. November 1999 analysiert und dabei keine Anhaltspunkte für eine Hypermobilität oder Instabilität auf dem Niveau L3/4 gefunden; die untere HWS habe eine Streckhaltung, auf dem Niveau C3/4 finde sich eine normale Beweglichkeit und auch das Segment C4/5 zeige keine Hinweise auf eine segmentale Instabilität. Frau Dr. med. V.________, Fachärztin FMH für Neurologie, stellte gemäss Bericht vom 15. Dezember 1999 ein ausgeprägtes rechtsseitiges Zervikalsyndrom mit begleitender Zervikobrachialgie rechts und eine wahrscheinlich reaktiv depressive Entwicklung fest; eigentliche fokalneurologische Ausfallsymptome seien nicht objektiviert, so dass kein Hinweis für eine zusätzliche Läsion zerebral oder im Bereich des Halsmarkes bestehe, was im Übrigen durch das normale MRI der HWS bestätigt werde. Gestützt auf die Stellungnahmen des PD Dr. med. B.________ und der Frau Dr. med. V.________ hat der Kreisarzt am 30. Dezember 1999 ergänzt, die Versicherte sei von grazilem Habitus und weise konstitutionell eine lockere ligamentäre Führung der Gelenke auf. Dies prädisponiere zur Entwicklung von muskulären Verspannungszuständen im Bereich des Achsenskelettes. Die gewaltsame Torsion der HWS vom 22. Mai 1998 habe für diese Entwicklung fast ein Jahr später keine Bedeutung, da keine morphologischen Veränderungen eingetreten seien. Dr. med. R.________ hat in seinem Gutachten vom 27. Februar 2001 angegeben, die Wucht des Segelbaumaufpralles habe zu einer forcierten Kopfreklination mit gleichzeitigem Abdrehen des Kopfes geführt. Zervikozephale Schmerzen seien eine typische Folge der passiven Überdehnung der HWS. Aus den Unfallschilderungen sei bekannt, dass die Überdehnung nach hinten, mit gleichzeitiger Drehung des Kopfes erfolgt sei. Derartige Mechanismen würden recht häufig zu langwierigen Heilverläufen führen, so dass sich die Entwicklung bei der Versicherten zwanglos erklären liesse. Die Instabilität C3/4 deute zudem auf eine durchgemachte Bandläsion hin.
2.3 Gestützt auf die medizinischen Akten ist die Vorinstanz - insbesondere mit Blick darauf, dass die MRI-Aufnahmen keine morphologischen Veränderungen der HWS zeigen - zu Recht davon ausgegangen, dass ein organisches Substrat für die Leiden der Versicherten nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgewiesen ist. Entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts kann allerdings ein natürlicher Kausalzusammenhang zwischen einem Schleudertrauma der HWS, einer schleudertraumaähnlichen Einwirkung oder einem Schädel-Hirntrauma mit vergleichbaren Folgen und den eingetretenen Gesundheitsschädigungen auch ohne organisch nachweisbare Beschwerden vorliegen (Erw. 1.2 hiervor). Im zu beurteilenden Fall ist nach dem Unfallhergang (Aufprall des Grosssegels an der linken Stirnseite, dadurch forcierte Kopfreklination mit gleichzeitigem Abdrehen des Kopfes) ein Schleudertrauma zu verneinen. Wie den ärztlichen Stellungnahmen zu entnehmen ist, hat die Versicherte am 22. Mai 1998 aber ein Distorsionstrauma, eine schleudertraumaähnliche Einwirkung erlitten. Die dafür typischen Nackenbeschwerden sind innert der Latenzzeit von 24 bis 72 Stunden aufgetreten (RKUV 2000 Nr. U 359 S. 29). Die Versicherte klagt ausserdem über Kopfschmerzen, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen sowie rasche Ermüdbarkeit und es liegt eine depressive Entwicklung vor (zum typischen Beschwerdebild nach einem Schleudertrauma, nach schleudertraumaähnlichen Einwirkungen oder nach einem Schädel-Hirntrauma: BGE 117 V 360 Erw. 4b). Seit dem Ereignis vom 22. Mai 1998 bestand keine Zeit der Beschwerdefreiheit. Wie die Versicherte glaubhaft angibt, hat sie zunächst versucht, mit alternativen Heilmethoden, insbesondere mit Akupressur (Behandlungen vom 1. Juni, 8. Juli und 2. September 1998, durchgeführt von T.________) eine Besserung zu erreichen, bevor sie sich am 17. September 1998 wieder in ärztliche Behandlung begab. Prädisposition allein (das "Treppenphänomen" gemäss der Beurteilung des Kreisarztes) kann bei dieser Entwicklung für den Gesundheitszustand der Versicherten, welche vor dem 22. Mai 1998 keine Beschwerden im Nacken- oder Kopfbereich hatte, nicht verantwortlich sein. Mit Blick auf die medizinischen Unterlagen ist davon auszugehen, dass das Distorsionstrauma der HWS vom 22. Mai 1998 zumindest eine Teilursache der geltend gemachten Leiden ist, was für die Bejahung des natürlichen Kausalzusammenhangs praxisgemäss genügt (BGE 121 V 329 Erw. 2a mit Hinweisen; RKUV 2001 Nr. U 412 S. 79).
3. Nach dem Gesagten ist der natürliche Kausalzusammenhang zwischen den geklagten Beschwerden und dem Unfallereignis vom 22. Mai 1998 zu bejahen. Die Sache geht deshalb zur Durchführung der Adäquanzprüfung und anschliessenden neuen Entscheidung über die Versicherungsleistungen an das kantonale Gericht zurück. Mit Blick darauf, dass die Versicherte eine schleudertraumaähnliche Einwirkung auf die HWS erlitten hat und über Beeinträchtigungen klagt, die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS gehören, die psychische Problematik aber nicht im Vordergrund steht, hat die Beurteilung nach den in BGE 117 V 369 ff. festgelegten Grundsätzen zu erfolgen. Dabei wird die Vorinstanz zu beachten haben, dass der Unfall vom 22. Mai 1998 auf Grund des augenfälligen Geschehensablaufs und der Verletzungen, die sich die Beschwerdeführerin dabei zuzog, weder als leicht noch als schwer qualifiziert werden kann. Vielmehr ist er dem dazwischen liegenden mittleren Bereich zuzuordnen.
4.
Für das letztinstanzliche Verfahren werden auf Grund von Art. 134 OG keine Gerichtskosten erhoben. Dem Prozessausgang entsprechend steht der Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Dezember 2001 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen wird, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über den Leistungsanspruch der Beschwerdeführerin neu entscheide.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung und der PROVITA Gesundheitsversicherung zugestellt.
Luzern, 27. Mai 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der II. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: