Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_4/2024
Urteil vom 27. November 2024
IV. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichterinnen Heine, Viscione,
Gerichtsschreiberin Berger Götz.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen das Urteil des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 7. November 2023 (VBE.2023.251).
Sachverhalt:
A.
A.a. Die 1978 geborene A.________ meldete sich im Juli 2008 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau holte unter anderem eine interdisziplinäre internistisch-rheumatologische und psychiatrisch-konsiliarisch-medizinische Standortbestimmung der Academy of Swiss Insurance Medicine, Universitätsspital Basel (asim), vom 29. März 2009 ein. Mit Verfügung vom 11. November 2009 verneinte sie einen Rentenanspruch.
A.b. Im März 2021 meldete sich A.________ ein weiteres Mal bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen in medizinischer und beruflicher Hinsicht, Rückfrage bei Dr. med. B.________, Fachärztin Innere Medizin FMH, Regionaler Ärztlicher Dienst (RAD), und Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 21. April 2023 erneut ab.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die dagegen erhobene Beschwerde ab (Urteil vom 7. November 2023).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, in Aufhebung des angefochtenen Urteils seien ihr die gesetzlich geschuldeten Leistungen, insbesondere eine Rente der Invalidenversicherung, zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zur ordnungsgemässen Abklärung des Sachverhalts an das kantonale Gericht bzw. die IV-Stelle zurückzuweisen. Ferner wird um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ersucht.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) und das kantonale Gericht, dieses unter Hinweis auf die Begründung im angefochtenen Urteil, verzichten auf eine Vernehmlassung. Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 mit Hinweisen). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ; zum Ganzen: BGE 145 V 57 E. 4; Urteil 8C_385/2023 vom 30. November 2023 E. 1.1).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich bestätigte Verneinung eines Rentenanspruchs der Invalidenversicherung Bundesrecht verletzt.
3.
3.1. Der Anspruch auf Leistungen der Invalidenversicherung setzt unter anderem voraus, dass die versicherte Person invalid oder von Invalidität unmittelbar bedroht ist. Invalidität ist gemäss Art. 8 Abs. 1 ATSG die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit ist der durch Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit verursachte und nach zumutbarer Behandlung und Eingliederung verbleibende ganze oder teilweise Verlust der Erwerbsmöglichkeiten auf dem in Betracht kommenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 7 Abs. 1 ATSG).
3.2. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Den von Versicherungsträgern im Verfahren nach Art. 44 ATSG eingeholten, den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechenden Gutachten externer Spezialärztinnen und Spezialärzte darf das Gericht rechtsprechungsgemäss grundsätzlich vollen Beweiswert zuerkennen, solange nicht konkrete Indizien gegen die Zuverlässigkeit der Expertise sprechen (BGE 137 V 210 E. 1.3.4; 135 V 465 E. 4.4). Auf das Ergebnis versicherungsinterner ärztlicher Abklärungen - zu denen die Berichte des RAD gehören - kann hingegen ohne Einholung eines externen Gutachtens nicht abgestellt werden, wenn auch nur geringe Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit bestehen (BGE 145 V 97 E. 8.5 mit Hinweis).
3.3. Die Grundsätze zur Rentenrevision (vgl. Art. 17 Abs. 1 ATSG) finden bei einer Neuanmeldung zum Leistungsbezug, wie sie hier vorliegt, analog Anwendung ( Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV ; BGE 130 V 71 E. 3.2.3). Daher ist zunächst eine anspruchsrelevante Veränderung des Sachverhalts erforderlich; erst in einem zweiten Schritt ist der (Renten-) Anspruch in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht umfassend zu prüfen (BGE 141 V 9; Urteil 9C_587/2023 vom 8. April 2024 E. 2.3.1).
3.4. Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sowie die konkrete Beweiswürdigung sind für das Bundesgericht, da sie Tatfragen betreffen, grundsätzlich verbindlich (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2). Um frei überprüfbare Rechtsfragen geht es hingegen, soweit die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen, die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln (Art. 61 lit. c ATSG) beanstandet werden.
4.
Die Vorinstanz geht davon aus, dass hier der für eine erhebliche Sachverhaltsveränderung (im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG) massgebliche Referenzzeitpunkt auf den Erlass der ersten anspruchsverneinenden Verfügung vom 11. November 2009 falle (vgl. dazu BGE 133 V 108 E. 5.4), was letztinstanzlich unbestritten geblieben ist. Sie hält fest, Dr. med. B.________ habe sich in ihrer Stellungnahme vom 21. September 2022 zwar nicht explizit dazu geäussert, ob sich der Gesundheitszustand im Vergleich zum Zeitpunkt der Verfügung vom 11. November 2009 in relevanter Weise verändert habe. Deshalb könne die Frage nach dem Vorliegen einer neuanmeldungsrechtlich relevanten Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht zuverlässig beantwortet werden. Die von der RAD-Ärztin angegebene 80%ige Arbeitsfähigkeit (auch) in der angestammten Tätigkeit (zuletzt im Entlastungsdienst zur Betreuung von Personen mit Einschränkungen) sei angesichts des von den asim-Fachpersonen im Jahr 2009 definierten Zumutbarkeitsprofils, das diverse Einschränkungen beinhalte, nicht ohne Weiteres nachvollziehbar. Auf ihre Einschätzung könne aber jedenfalls insoweit abgestellt werden, als sie (aktuell) in einer angepassten Beschäftigung eine 80%ige Arbeitsfähigkeit attestiert habe. Bei einer Invaliditätsbemessung anhand der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs und nach Gegenüberstellung der auf der Basis von Tabellenlöhnen ermittelten Vergleichseinkommen resultiere ein rentenausschliessender Invaliditätsgrad von 27 %. Da sich somit auch unter Annahme einer lediglich in einer angepassten Erwerbstätigkeit noch vorhandenen 80%igen Arbeitsfähigkeit kein rentenbegründender Invaliditätsgrad ergebe, könne offen bleiben, wie es sich mit der gesundheitlichen Entwicklung seit dem Jahr 2009 verhalte. Im Ergebnis habe die Verwaltung einen Rentenanspruch folglich zu Recht verneint.
5.
5.1. Die Beschwerdeführerin rügt, das angefochtene Urteil verletze Bundesrecht, namentlich den Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 und Art. 61 lit. c ATSG ). Das kantonale Gericht (resp. die IV-Stelle) wäre gehalten gewesen, weitere Sachverhaltsabklärungen vorzunehmen, da an der Einschätzung der Dr. med. B.________ relevante - zumindest jedoch geringe - Zweifel bestehen würden. Die Vorinstanz gestehe selber ein, dass die Frage, ob seit dem Jahr 2009 eine relevante Veränderung des Gesundheitszustandes eingetreten sei, von der RAD-Ärztin nicht zuverlässig beantwortet worden sei. Wäre der Sachverhalt ordnungsgemäss abgeklärt worden, so hätte sich gezeigt, dass Anspruch auf eine Invalidenrente bestehe.
5.2.
5.2.1. Es ist der Beschwerdeführerin im Grundsatz beizupflichten, dass zunächst abschliessend abzuklären gewesen wäre, ob seit der letzten abschlägigen Verfügung vom 11. November 2009 eine anspruchsrelevante Veränderung des Sachverhalts stattgefunden hat (vgl. E. 3.3 hiervor). Aufgrund der von Dr. med. B.________ nachvollziehbar (vgl. E. 5.2.2 f. hiernach) als geringfügig eingestuften aktuellen Einschränkungen in der Arbeitsfähigkeit bezogen auf eine leidensangepasste Beschäftigung und der auf dieser Basis vorgenommenen Invaliditätsbemessung zeigt sich allerdings klar, dass kein rentenbegründender Invaliditätsgrad von mindestens 40 % erreicht wird. Selbst wenn somit zusätzliche Erhebungen eine veränderte Gesundheitssituation im Vergleich zum Zustand im November 2009 ergeben würden, bliebe es bei einer Verneinung des Rentenanspruchs im vorliegenden Neuanmeldungsverfahren. Verwaltung und Vorinstanz konnten deshalb auf weitere medizinische Abklärungen zur gesundheitlichen Entwicklung seit dem 11. November 2009 verzichten.
5.2.2. Entgegen dem weiteren Vorbringen der Beschwerdeführerin hat sich Dr. med. B.________ mit den geklagten Leiden befasst und angegeben, aus welchen Gründen die Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit das von den asim-Fachärzten am 29. März 2009 mit 20 % angegebene Ausmass auch aktuell nicht überschreitet. Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, es sei nicht beachtet worden, dass der behandelnde Psychiater Dr. med. C.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, eine "Depression" attestiert und ein Gutachten zur Abklärung des medizinischen Zustandes als notwendig erachtet habe, kann daraus nichts zu ihren Gunsten abgeleitet werden. Schon das kantonale Gericht hat dazu willkürfrei festgestellt, dass Dr. med. C.________ für die psychiatrische Diagnose keine objektiven Befunde nennt. Bei seinem Attest einer 100%igen Arbeitsunfähigkeit verweist er auf die "Zeugnisse durch Hausarzt" und auch seine übrigen Angaben stützen sich vorwiegend fachfremd auf die seinerseits nicht näher bekannte somatische Verfassung. Bei der Beurteilung der Hausärztin Dr. med. D.________, Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin, fällt sodann auf, dass sie für die von ihr attestierte vollständige Arbeitsunfähigkeit keine stichhaltigen Gründe zu nennen vermag, auch wenn sie die Beschwerdeführerin seit über 20 Jahren behandelt. Ihr pauschaler Hinweis darauf, dass die "Summe der verschiedenen Krankheiten" neben dem physischen Schaden, den sie auf eine lange Immobilisation durch körperliche Einschränkung, einen damit einhergehenden Trainingsmangel und eine chronische Schmerzsymptomatik zurückführt, auch einen beträchtlichen psychischen Schaden in Form einer depressiven Entwicklung verursacht habe, der eine 80%ige Arbeitsfähigkeit als utopisch erscheinen lasse, reicht nicht aus, um der RAD-Stellungahme die Beweiskraft abzusprechen.
5.2.3. Die Vorinstanz hat den Berichten der behandelnden Fachpersonen somit nicht ungeprüft die Beweiskraft abgesprochen, sondern ist im Einzelnen auf diese eingegangen und hat aufgezeigt, weshalb in Bezug auf die Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit auf die Beurteilung der Dr. med. B.________ vom 21. September 2022 abgestellt werden kann. Dass das kantonale Gericht die Aussagekraft der Berichte aufgrund der auftragsrechtlichen Vertrauensstellung der behandelnden Fachpersonen relativiert hat, entspricht der bundesgerichtlichen Rechtsprechung (BGE 135 V 465 E. 4.5) und ist nicht zu beanstanden. Ein willkürliches Vorgehen ist nicht ersichtlich.
6.
Da die Einwände der Beschwerdeführerin keine auch nur geringen Zweifel am entsprechenden Attest der RAD-Ärztin zu wecken vermögen, hat das kantonale Gericht im Rahmen des Einkommensvergleichs zu Recht eine Arbeitsfähigkeit von 80 % in angepasster Tätigkeit berücksichtigt und in Anbetracht des daraus resultierenden 27%igen Invaliditätsgrades einen Rentenanspruch verneint. Weil von weiteren medizinischen Abklärungen nach willkürfreier vorinstanzlicher Einschätzung keine entscheidrelevanten Resultate zu erwarten waren, durfte das kantonale Gericht davon absehen. Dies verstösst weder gegen den Untersuchungsgrundsatz noch gegen die Ansprüche auf freie Beweiswürdigung sowie Beweisabnahme (Art. 61 lit. c ATSG) und rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV; antizipierende Beweiswürdigung; BGE 144 V 361 E. 6.5; Urteil 8C_674/2022 vom 15. Mai 2023 E. 8). Deshalb hat es bei der Verneinung eines Rentenanspruchs sein Bewenden.
7.
Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Art. 64 BGG) kann jedoch entsprochen werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt Markus Zimmermann wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 27. November 2024
Im Namen der IV. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Die Gerichtsschreiberin: Berger Götz