Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
7B_935/2023
Urteil vom 28. August 2024
II. strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Abrecht, Präsident,
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Kölz,
Gerichtsschreiber Stadler.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Roy Darius Maybud,
Beschwerdeführer,
gegen
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau,
Seetalplatz, Bahnhofstrasse 4, 5600 Lenzburg 1.
Gegenstand
Strafverfahren; amtliche Verteidigung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 9. Oktober 2023 (SBK.2023.141).
Sachverhalt:
A.
Am 14. Dezember 2022 stellte die Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau einen Strafbefehl gegen A.________ aus, mit dem sie letzterem wegen rechtswidriger Einreise in die Schweiz (Art. 115 Abs. 1 lit. a in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 AIG [SR 142.20]), rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz (Art. 115 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 10 Abs. 1 AIG) sowie mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz (Art. 19 Abs. 1 lit. c und d sowie Art. 19a Ziff. 1 BetmG [SR 812.121]) eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen à Fr. 30.-- sowie eine Busse von Fr. 1'400.-- auferlegte. Dagegen erhob A.________ am 23. Dezember 2022 Einsprache, woraufhin die Staatsanwaltschaft am 13. März 2023 den Strafbefehl samt Akten dem Bezirksgericht Aarau zur Durchführung des Hauptverfahrens überwies.
B.
Am 3. April 2023 stellte A.________ ein Gesuch um amtliche Verteidigung. Mit Verfügung vom 11. April 2023 wies der Präsident des Bezirksgerichts das Gesuch ab. Dagegen erhob A.________ Beschwerde beim Obergericht des Kantons Aargau mit folgenden Anträgen: "1. Die Verfügung des Bezirksgerichts Aarau, Präsidium des Strafgerichts, vom 11. April 2023 sei aufzuheben; 2. Der Unterzeichnende, Rechtsanwalt Kenad Melunovic Marini, sei für das Strafverfahren ST.2023.48 (STA1 ST.2021.5089), rückwirkend per 10. August 2022, als amtlicher Verteidiger des Beschuldigten einzusetzen". Mit Entscheid vom 9. Oktober 2023 wies das Obergericht die Beschwerde ab.
C.
A.________ gelangt mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht und beantragt, es sei der Entscheid des Obergerichts vom 9. Oktober 2023 aufzuheben und für ihn per 10. August 2022 im Strafverfahren ST.2023 eine notwendige amtliche Verteidigung im Sinne von Art. 130 lit. c, eventualiter Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO anzuordnen. Eventualiter sei das Obergericht anzuweisen, für ihn per 10. August 2022 eine amtliche Verteidigung anzuordnen. Subeventualiter sei das Obergericht anzuweisen, die Verfügung des Präsidenten des Bezirksgerichts Aarau vom 11. April 2023 aufzuheben und diesen anzuweisen, für ihn (den Beschwerdeführer) per 10. August 2022 eine amtliche Verteidigung anzuordnen. Ausserdem ersucht der Beschwerdeführer um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht.
Es wurden die kantonalen Akten, nicht aber Vernehmlassungen eingeholt.
Erwägungen:
1.
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem die Bestellung einer amtlichen Verteidigung verweigert wurde. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 BGG ). Es handelt sich um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann (zuletzt: Urteil 7B_348/2023 vom 5. August 2024 E. 1.2; vgl. auch BGE 140 IV 202 E. 2.2; 133 IV 335 E. 4; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer, dessen Gesuch um amtliche Verteidigung im Sinne von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO abgewiesen wurde, ist zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
1.2. Soweit der Beschwerdeführer darüber hinaus im vorliegenden Verfahren erstmals geltend macht, es sei "eine notwendige amtliche Verteidigung im Sinne von Art. 130 lit. c" StPO anzuordnen, kann darauf nicht eingetreten werden (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG).
2.
2.1. Die Verfahrensleitung ordnet eine amtliche Verteidigung an, wenn die beschuldigte Person nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Verteidigung zur Wahrung ihrer Interessen geboten ist (Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO). Zur Wahrung der Interessen der beschuldigten Person ist die Verteidigung namentlich geboten, wenn es sich nicht um einen Bagatellfall handelt und der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre (Art. 132 Abs. 2 StPO). Ein Bagatellfall liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von mehr als 4 Monaten oder eine Geldstrafe von mehr als 120 Tagessätzen zu erwarten ist (Art. 132 Abs. 3 StPO).
Mit Art. 132 StPO wird die bisherige bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 29 Abs. 3 BV und Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK für den Bereich des Strafprozessrechts umgesetzt. Daraus, aber auch aus dem Wortlaut von Art. 132 Abs. 3 StPO ("jedenfalls dann nicht"), folgt, dass nicht automatisch von einem Bagatellfall auszugehen ist, wenn die im Gesetz genannten Schwellenwerte nicht erreicht sind. Die Formulierung von Art. 132 Abs. 2 StPO bringt durch die Verwendung des Worts "namentlich" ausserdem zum Ausdruck, dass nicht ausgeschlossen ist, neben den genannten Kriterien (kein Bagatellfall; tatsächliche und rechtliche Schwierigkeiten, denen die beschuldigte Person allein nicht gewachsen wäre) weitere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Mithin ist eine Beurteilung der konkreten Umstände des Einzelfalls notwendig, die sich einer strengen Schematisierung entzieht. Immerhin kann festgehalten werden, dass die Anforderungen an die erwähnten tatsächlichen und rechtlichen Schwierigkeiten umso geringer sind, je schwerwiegender der Eingriff in die Interessen der betroffenen Person ist, und umgekehrt (zum Ganzen: BGE 143 I 164 E. 3.5; zuletzt: Urteil 7B_348/2023 vom 5. August 2024 E. 2.1 mit Hinweis).
Droht zwar ein erheblicher, nicht aber ein besonders schwerer Eingriff, müssen zur relativen Schwere des Eingriffs besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die betroffene Person - auf sich allein gestellt - nicht gewachsen wäre. Als besondere Schwierigkeiten, die eine amtliche Vertretung rechtfertigen können, fallen auch in der betroffenen Person liegende Gründe in Betracht, insbesondere deren Unfähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 mit weiteren Hinweisen). Auch familiäre Interessenkonflikte, Sprachschwierigkeiten, mangelnde Schulbildung oder die Konfrontation mit anwaltlich vertretenen Gegenparteien bzw. Mitbeschuldigten können tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten begründen, welche, insgesamt betrachtet, für die sachliche Notwendigkeit einer amtlichen Verteidigung sprechen (BGE 138 IV 35 E. 6.3 f. mit Hinweisen; Urteile 1B_94/2023 vom 4. Mai 2023 E. 2.1; 1B_618/2021 vom 15. Februar 2022 E. 3.2; 1B_72/2021 vom 9. April 2021 E. 4.1).
2.2. Die Vorinstanz erwägt zusammengefasst, die Vorwürfe wiesen in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten auf. Dem Beschwerdeführer werde zunächst vorgeworfen, Ende Juni 2021 ohne gültige Reisedokumente in die Schweiz eingereist zu sein und sich anschliessend bis am 11. Juli 2021 rechtswidrig in der Schweiz aufgehalten zu haben. Der Sachverhalt sei klar und lediglich hinsichtlich des subjektiven Tatbestands bestritten. Diesbezüglich würden voraussichtlich einzig die Aussagen des Beschwerdeführers, die teilweise bereits erfolgt seien, zu würdigen sein. Bei der Anwendung von Art. 115 Abs. 1 lit. a und b AIG auf den vorliegenden Sachverhalt stellten sich keine komplizierten rechtlichen Fragen.
Dem Beschwerdeführer werde sodann einerseits vorgeworfen, am 11. Juli 2021 eine unbekannte Menge Kokain sowie im Zeitraum zwischen dem 11. Juli 2021 und dem 20. Juli 2022 regelmässig Marihuana konsumiert zu haben. Andererseits werde er verdächtigt, am 11. Juli 2021 14 Portionen Kokain (insgesamt 8,1 Grammgemisch) mit der Absicht zur Veräusserung mitgeführt sowie ca. vom 13. Juli 2022 bis am 20. Juli 2022 B.________ und C.________wiederholt (jeweils à 0,5 Gramm) Kokain verkauft zu haben. Er sei in Bezug auf den Eigenkonsum weitgehend geständig. Pauschal bestritten sei die Aufbewahrung mit der Absicht zur Weiterveräusserung sowie der (teilweise versuchte) wiederholte Weiterverkauf der Drogen. Rechtliche Schwierigkeiten würden vorliegend weder substanziiert behauptet noch seien solche ersichtlich, zumal die dem Beschwerdeführer vorgeworfenen Betäubungsmitteldelikte nicht komplex seien. Weder ein vertieftes Aktenstudium noch kompliziertere beweismässige Abklärungen seien notwendig gewesen. Hinsichtlich des Vorfalls vom 11. Juli 2021 seien verschiedene Untersuchungshandlungen vorgenommen worden. Der Sachverhalt erscheine diesbezüglich weitestgehend erstellt. In Bezug auf den Weiterverkauf von Kokain sei nebst dem Beschwerdeführer C.________protokollarisch durch die Polizei befragt worden. Die Abnahme von weiteren Beweisen erscheine diesbezüglich weder notwendig noch vorgesehen. Es gehe vorliegend im Wesentlichen darum, unter Einbezug der objektiven Beweismittel die Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beteiligten zu würdigen, was dem zuständigen Sachgericht obliege. Auch mit Blick auf die zu erwartende relativ geringe Strafe wäre es nicht geboten, einen amtlichen Verteidiger zu mandatieren.
Gründe in der Person des Beschwerdeführers, die eine amtliche Verteidigung gebieten würden, seien nicht ersichtlich, zumal sprachliche Barrieren mit Hilfe eines Übersetzers überwunden werden könnten. Hinzu komme, dass der Beschwerdeführer gar etwas Deutsch spreche. Ebenfalls sei mit Blick auf die Einvernahme des Beschwerdeführers nicht ersichtlich, dass seine sonstigen intellektuellen Fähigkeiten derart eingeschränkt wären, dass er sich nicht selbst verteidigen könnte. Insbesondere habe er anlässlich der Einvernahmen angegeben, er sei in der Lage, den Befragungen zu folgen. Im Übrigen seien auch keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass eine amtliche Verteidigung aus Gründen der Waffengleichheit im Verhältnis zur Staatsanwaltschaft geboten wäre.
2.3. Die vorinstanzlichen Erwägungen sind nicht zu beanstanden. Soweit der Beschwerdeführer seine Rügen überhaupt unter dem Titel von Art. 132 Abs. 1 lit. b StPO erhebt, setzt er sich nicht mit der vorerwähnten Rechtsprechung auseinander. Er übersieht, dass seine - unbestrittene - Fremdsprachigkeit und seine angeblich schlechte Schulausbildung allein nicht genügen, damit die Verteidigung zur Wahrung seiner Interessen im Sinne dieser Bestimmung zwingend als "geboten" erscheint. Jedenfalls legt er weder hinreichend dar noch ist ersichtlich, inwiefern der Straffall in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht insgesamt besondere Schwierigkeiten bieten sollte. Im Übrigen behauptet er auch nicht, ihm würde keine relativ geringe Strafe drohen. Was die Fremdsprachigkeit des Beschwerdeführers betrifft, ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass dieser mit der Bestellung eines Dolmetschers hinreichend Rechnung getragen wurde und wird (vgl. dazu auch Urteile 1B_72/2021 vom 9. April 2021 E. 4.2; 1B_185/2015 vom 9. Juni 2015 E. 3.4; 1B_555/2012 vom 6. Dezember 2012 E. 3.2). Der blosse Umstand, dass Laien nicht über dasselbe Fachwissen wie Rechtsanwälte verfügen, vermag die amtliche Verteidigung unter diesen Umständen nicht zu rechtfertigen, hat der Gesetzgeber sie doch gerade nicht in allen Fällen der Strafverfolgung vorgesehen (Urteil 1B_402/2015 vom 11. Januar 2016 E. 3.6).
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist abzuweisen, da die Beschwerde von vornherein aussichtslos war (Art. 64 Abs. 1 BGG). Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Situation ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 28. August 2024
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Abrecht
Der Gerichtsschreiber: Stadler