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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
                 
 
 
9C_252/2017  
 
 
Urteil vom 29. März 2018  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin, 
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless. 
Gerichtsschreiberin Huber. 
 
Verfahrensbeteiligte 
 A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Kaspar Gehring, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, 
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich 
vom 21. Februar 2017 (IV.2016.01046). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Die 1970 geborene A.________ meldete sich mit Gesuch vom 5. September 2002 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich verneinte einen Anspruch auf Rentenleistungen und berufliche Massnahmen (Verfügungen vom 4. und 5. November 2002). Mit Eingabe vom 17. Juni 2003 meldete sich die Versicherte erneut bei der Invalidenversicherung an, woraufhin ihr die IV-Stelle mit Verfügung vom 18. Juni 2004 eine vom 1. Mai bis 31. Dezember 2003 befristete halbe Rente und ab 1. Januar 2004 eine Dreiviertelsrente zusprach, welche sie mit Mitteilung vom 2. April 2007 bestätigte.  
Im Rahmen des im April 2008 veranlassten Revisionsverfahrens ordnete die IV-Stelle bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Interlaken GmbH eine polydisziplinäre Begutachtung der Versicherten an (Expertise vom 24. März 2009). Mit Verfügung vom 1. September 2009 hob die Verwaltung die Verfügung vom 18. Juni 2004 wiedererwägungsweise auf und setzte die bisherige Dreiviertelsrente auf eine halbe Rente herab (Invaliditätsgrad: 56 %). 
Im Jahr 2010 leitete die IV-Stelle erneut ein Revisionsverfahren ein und verneinte mit Verfügung vom 29. Januar 2013 einen Rentenanspruch gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [SchlB IVG]). Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 14. Oktober 2013 gut und stellte fest, die Versicherte habe weiterhin Anspruch auf eine halbe Invalidenrente. 
 
A.b. Ein weiteres Revisionsverfahren leitete die IV-Stelle im Jahr 2014 ein. Sie veranlasste eine psychiatrische Begutachtung der Versicherten durch Dr. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH (Expertise vom 20. November 2014). Mit Vorbescheid vom 26. November 2015 kündigte die Verwaltung an, sie werde die Rente gestützt auf die SchlB IVG aufheben, woran sie mit Verfügung vom 18. August 2016 festhielt.  
 
B.   
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 21. Februar 2017 ab. 
 
C.   
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids, die IV-Stelle sei zu verpflichten, die gesetzlich geschuldeten Leistungen - insbesondere weiterhin eine Invalidenrente, evtl. Eingliederungsmassnahmen - zu erbringen. Ferner ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.   
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.   
Zwischen den Parteien ist unbestritten, dass bei der wiedererwägungsweisen Herabsetzung der Rente mit Verfügung vom 1. September 2009 ein pathogenetisch-ätiologisch unklares syndromales Beschwerdebild ohne nachweisbare organische Grundlage im Sinne von lit. a Abs. 1 SchlB IVG vorlag. Im Streit liegt die Frage, ob die Rentenverfügung vom September 2009 bereits in Beachtung der massgebenden Überwindbarkeitsrechtspraxis (bislang: anhaltende somatoforme Schmerzstörung; BGE 130 V 352) erging und ob noch Raum für ein Rückkommen unter dem Titel der Schlussbestimmung bleibt. 
 
2.1. Gemäss lit. a Abs. 1 SchlB IVG werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Art. 17 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt sind. Erfolgte die Rentenzusprache bereits auf der Grundlage der massgebenden Überwindbarkeitsrechtspraxis, soll die Schlussbestimmung indessen nicht Hand bieten für eine nochmalige Überprüfung unter denselben Vorzeichen (BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13 f.).  
 
2.2.  
 
2.2.1. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen (BGE 130 V 352), welche im Zeitpunkt der Verfügung vom 1. September 2009 bereits seit fünf Jahren galt, bildeten die fachärztlichen Stellungnahmen zum psychischen Gesundheitszustand und zu dem aus medizinischer Sicht (objektiv) vorhandenen Leistungspotenzial (BGE 130 V 352 E. 2.2.5 S. 355 f.) unabdingbare Grundlage für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob und gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens trotz ihrer Schmerzen die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft zumutbar war oder nicht. Bei ihrer Einschätzung der psychischen Ressourcen der Exploranden, mit den Schmerzen umzugehen, hatten die begutachtenden Ärzte notwendigerweise auch die sogenannten Foerster-Kriterien zu beachten (vgl. BGE 135 V 201 E. 7.1.3 S. 213; 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f.) und sich daran zu orientieren. Insbesondere hatten sie sich dazu zu äussern, ob eine psychische Komorbidität gegeben war oder weitere Umstände vorlagen, welche die Schmerzbewältigung behinderten (Urteil I 683/06 vom 29. August 2007 E. 2.2, in: SVR 2008 IV Nr. 23 S. 71).  
 
2.2.2. Die Beschwerdeführerin weist zu Recht darauf hin, dass es für die Beurteilung der Rechtsfrage, ob und gegebenenfalls inwieweit einer versicherten Person unter Aufbringung allen guten Willens trotz ihrer Schmerzen die Verwertung ihrer verbleibenden Arbeitskraft zugemutet werden konnte, nicht erforderlich war, dass sich eine psychiatrische Expertise in jedem Fall über jedes einzelne der genannten Kriterien aussprach; massgeblich war eine Gesamtwürdigung der Situation (Urteile I 457/02 vom 18. Mai 2004 E. 7.4 mit Hinweis, nicht publ. in: BGE 130 V 396, aber in: SVR 2005 IV Nr. 6 S. 21; 9C_620/2013 vom 26. März 2014 E. 3.2).  
 
2.3.   
 
2.3.1. Dr. med. D.________, FMH Psychiatrie und Psychotherapie, berichtete in seinem Teilgutachten der MEDAS Interlaken vom 10. Februar 2009, bei der Versicherten habe sich eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung entwickelt, die heute, nach mehrjährigem Verlauf, als chronifiziert und nur noch begrenzt veränderbar angesehen werden müsse. Die somatoforme Schmerzstörung wie auch die diagnostizierte Dysthymia hätten alleine gemäss Rechtsprechung keine relevante Bedeutung für die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit, da ihre Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit als mit dem Willen überwindbar angesehen würden. Im Falle der Beschwerdeführerin handle es sich jedoch bei beiden Diagnosen um chronifizierte psychische Störungen. Bezogen auf die Schmerzstörung müsse von einem verfestigten, therapeutisch nicht mehr beeinflussbaren innerseelischen Verlauf einer an sich missglückten, psychisch aber entlastenden Konfliktbewältigung (primärer Krankheitsgewinn: "Flucht in die Krankheit") ausgegangen werden. Beide Diagnosen seien daher relevant für die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit.  
 
2.3.2. Laut Vorinstanz hat die Beschwerdegegnerin die Einschätzung der Arbeitsfähigkeit der MEDAS-Gutachter (Expertise vom 24. März 2009) und des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD; Protokolleintrag vom 6. April 2009) ohne eigenständige Prüfung der Foerster-Kriterien übernommen. Aus dem Teilgutachten geht nach dem Gesagten (E. 2.3.1) jedoch klar hervor, dass der Psychiater auf einzelne Kriterien gemäss BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 354 f. Bezug nahm und in Anwendung dieser Rechtsprechung im Rahmen einer Gesamtwürdigung seine Arbeitsfähigkeitseinschätzung abgab. Er verwies denn auch explizit auf die damals relevante Rechtsprechung, wonach die somatoforme Schmerzstörung wie auch die diagnostizierte Dysthymia grundsätzlich als überwindbar galten. Auch wenn die IV-Stelle die Foerster-Kriterien nicht ersichtlich nochmals separat prüfte, so übernahm sie doch in Übereinstimmung mit dem RAD die Arbeitsfähigkeit aus dem MEDAS-Gutachten, welche Dr. med. D.________ unter Berücksichtigung der relevanten Rechtsprechungskriterien attestierte und erachtete diese als plausibel und nachvollziehbar, indem sie in Anlehnung daran die Rente der Versicherten herabsetzte. Die Feststellung der Vorinstanz, die Verfügung vom 1. September 2009 sei nicht in Beachtung der Rechtsprechung zu den anhaltenden somatoformen Schmerzstörungen ergangen, ist folglich unhaltbar (vgl. E. 1). Es bleibt kein Raum mehr für ein Rückkommen unter dem Titel der Schlussbestimmung (vgl. E. 2.1).  
 
2.4. Die Praxis der substituierten Begründung kommt grundsätzlich auch im Zusammenhang mit einer - wie hier - fehlgeschlagenen Anwendung der SchlB IVG zum Tragen (vgl. Urteile 9C_121/2014 vom 3. September 2014 E. 3.2.2, in: SVR 2014 IV Nr. 39 S. 137; 8C_445/2017 vom 9. März 2018 E. 3.2.1). Danach kann das Gericht ein (zu Unrecht) auf die SchlB IVG gestütztes Rückkommen mit einer substituierten Begründung (Art. 17 Abs. 1 und Art. 53 Abs. 2 ATSG) schützen. Ein entsprechender Antrag wurde jedoch nicht gestellt. Ausserdem lässt die Aktenlage den offensichtlichen Schluss nicht zu, dass die Voraussetzungen für ein Rückkommen mit einer substituierten Begründung gegeben sind, weshalb darauf nicht weiter einzugehen ist (vgl. zum ganzen auch Urteil 9C_303/2010 vom 5. Juli 2010 E. 4.4). Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz, indem sie die Verfügung der IV-Stelle vom 18. August 2016 bestätigte, die halbe Rente der Versicherten zu Unrecht aufgehoben. Die Beschwerde ist begründet.  
 
3.   
Bei diesem Verfahrensausgang (materielles Obsiegen) kann auf Weiterungen zur formellen Rüge der Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und die Begründungspflicht (Art. 61 lit. h ATSG) verletzt, verzichtet werden. 
 
4.   
Die Beschwerdegegnerin hat dem Ausgang des Verfahrens entsprechend die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 21. Februar 2017 und die Verfügung der IV-Stelle Zürich vom 18. August 2016 werden aufgehoben. Es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin ab 1. Oktober 2016 weiterhin Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung hat. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen. 
 
5.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 29. März 2018 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Die Präsidentin: Pfiffner 
 
Die Gerichtsschreiberin: Huber