Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_64/2022
Urteil vom 29. März 2022
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Wirthlin, Präsident,
Bundesrichter Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Hochuli.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt August Holenstein,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Appenzell I. Rh., Poststrasse 9, 9050 Appenzell,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Neuanmeldung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh. vom 5. Oktober 2021 (V 1-2021).
Sachverhalt:
A.
A.________, geboren 1960, reiste 1991 mit ihrem Ehemann aus der Türkei in die Schweiz ein. Ihre fünf Kinder (geboren 1979, 1981, 1983, 1984 und 1987) folgten später nach. Von 1999 bis zum 8. Oktober 2004 (letzter Arbeitstag) arbeitete A.________ mit Vollzeitpensum in der B.________ AG. Am 10. November 2005 meldete sie sich unter Verweis auf seit 1997 anhaltende Schulter- sowie Hand-Arm-Probleme und psychische Beschwerden bei der IV-Stelle des Kantons Appenzell Innerrhoden (nachfolgend: IV-Stelle oder Beschwerdegegnerin) zum Leistungsbezug an. Nach medizinischen und erwerblichen Abklärungen verneinte die IV-Stelle einen Rentenanspruch bei einem Invaliditätsgrad von (gerundet) 34% (Verfügung vom 9. Oktober 2007). Am 18. April 2012 reichte A.________ ein weiteres Leistungsbegehren ein, welches die IV-Stelle bei einem Invaliditätsgrad von (gerundet) 29% abwies (Verfügung vom 20. September 2013). Auf das erneute Leistungsgesuch vom 24. Mai 2016 trat die IV-Stelle mangels Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen Tatsachenänderung nicht ein (Verfügung vom 20. September 2016). Unter Berufung auf spätestens seit 2011 anhaltende Beschwerden meldete sich A.________ am 4. Oktober 2019 abermals zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle trat auch auf dieses Gesuch nicht ein (Verfügung vom 11. Dezember 2020).
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der A.________ wies das Kantonsgericht Appenzell Innerrhoden ab (Entscheid vom 5. Oktober 2021).
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, ihrem Leistungsbegehren sei unter Aufhebung des angefochtenen Gerichtsentscheides und der Verfügung der IV-Stelle vom 11. Dezember 2020 stattzugeben. Eventualiter sei der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die Vorinstanz zu verpflichten, auf die Beschwerde einzutreten.
Die vorinstanzlichen Akten wurden eingeholt. Ein Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
1.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG ).
1.3. Eine Sachverhaltsfeststellung ist nicht schon dann offensichtlich unrichtig, wenn sich Zweifel anmelden, sondern erst, wenn sie eindeutig und augenfällig unzutreffend ist. Es liegt noch keine offensichtliche Unrichtigkeit vor, nur weil eine andere Lösung ebenfalls in Betracht fällt, selbst wenn diese als die plausiblere erscheint. Diese Grundsätze gelten auch in Bezug auf die konkrete Beweiswürdigung; in diese greift das Bundesgericht auf Beschwerde hin nur bei Willkür (dazu BGE 146 IV 88 E. 1.3.1) ein, insbesondere wenn die Vorinstanz offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder solche grundlos ausser Acht lässt. Solche Mängel sind in der Beschwerde aufgrund des strengen Rügeprinzips (Art. 106 Abs. 2 BGG) klar und detailliert aufzuzeigen. Auf ungenügend begründete Rügen oder bloss allgemein gehaltene appellatorische Kritik am angefochtenen Entscheid geht das Bundesgericht nicht ein (vgl. BGE 144 V 50 E. 4.2 mit Hinweisen).
1.4. Die vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit sind tatsächlicher Natur (BGE 132 V 393 E. 3.2), weshalb sie das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat. Gleiches gilt für die konkrete Beweiswürdigung. Dagegen betrifft die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln vom Bundesgericht frei überprüfbare Rechtsfragen (BGE 146 V 240 E. 8.2 mit Hinweisen).
2.
2.1. Streitig ist, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie das von der IV-Stelle am 11. Dezember 2020 verfügte Nichteintreten auf das Neuanmeldungsgesuch vom 4. Oktober 2019 bestätigte. Prozessthema bildet einzig die Frage, ob die Beschwerdeführerin im Verfahren der Neuanmeldung gemäss Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV der ihr obliegenden Beweisführungslast nachgekommen war, eine anspruchserhebliche Änderung der gesundheitlichen Verhältnisse seit der letzten rechtskräftigen Abweisung des Leistungsbegehrens mit Verfügung vom 20. September 2013 glaubhaft zu machen (vgl. SVR 2016 IV Nr. 57 S. 188, 9C_367/2016 E. 2.3 mit Hinweis; Urteil 8C_373/2021 vom 25. November 2021 E. 2.1).
2.2. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19. Juni 2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die dem angefochtenen Entscheid zugrunde liegende Verfügung vom 11. Dezember 2020 erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.
2.3. Nach den zutreffenden Erwägungen der Vorinstanz ist Voraussetzung des Eintretens auf ein erneutes Rentengesuch nach vorausgegangener rechtskräftiger Rentenverweigerung das Glaubhaftmachen einer für den Rentenanspruch erheblichen Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ( Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV ; BGE 130 V 71 E. 2.2 mit Hinweisen). Mit dem Beweismass des Glaubhaftmachens sind herabgesetzte Anforderungen an den Beweis verbunden; die Tatsachenänderung muss nicht nach dem im Sozialversicherungsrecht sonst üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6) erstellt sein. Es genügt, dass für das Vorhandensein des geltend gemachten rechtserheblichen Sachumstands wenigstens gewisse Anhaltspunkte bestehen, auch wenn durchaus noch mit der Möglichkeit zu rechnen ist, bei eingehender Abklärung werde sich die behauptete Änderung nicht erstellen lassen (Urteil 8C_596/2019 vom 15. Januar 2020 E. 3.2 mit Hinweisen).
2.4. Ob eine anspruchserhebliche Änderung im Sinne von Art. 87 Abs. 2 IVV glaubhaft gemacht ist, ist eine vom Bundesgericht nur unter dem Blickwinkel von Art. 105 Abs. 2 BGG überprüfbare Tatfrage. Frei zu beurteilende Rechtsfrage ist hingegen, welche Anforderungen an das Glaubhaftmachen im Sinne von Art. 87 Abs. 3 IVV zu stellen sind (vgl. Urteil 8C_373/2021 vom 25. November 2021 E. 2.2.2 mit Hinweis).
3.
3.1. Gemäss angefochtenem Entscheid hat die Beschwerdeführerin im Rahmen des am 4. Oktober 2019 eingeleiteten Neuanmeldungsverfahrens keine neuen medizinischen Berichte beibringen können, welche glaubhaft auf eine anspruchserhebliche Verschlechterung des Gesundheitszustands hätten schliessen lassen. Vergleichsbasis bildet in medizinischer Hinsicht unbestritten das bidisziplinäre Gutachten der Dres. med. C.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, und D.________, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates FMH vom 15. Dezember 2012 (nachfolgend: bidisziplinäres Gutachten). Zwar stellte das kantonale Gericht gestützt auf die neuen medizinischen Berichte fest, die Beschwerdeführerin klage mit Blick auf das seit 2009 bekannte intrinsische Asthma bronchiale neu über eine zunehmende Verschleimung. Der konsiliarisch untersuchende Pneumologe Dr. med. E.________ qualifizierte jedoch im Verlaufsbericht der Klinik F.________ vom 12. Oktober 2020 die seit 2011 eingetretene Verschlechterung der Lungenfunktion im Vergleich zu den Befunden der Klinik F.________ des Jahres 2011 als unwesentlich. Der behandelnde Pneumologe Dr. med. G.________ hielt in seinem Bericht vom 25. Mai 2020 fest, trotz der von der Beschwerdeführerin selber regelmässig durchzuführenden zeitaufwändigen Massnahmen zur Mobilisierung des produzierten Schleims sei sie den Anforderungen einer leichtgradigen Arbeitstätigkeit (z.B. Büroarbeit) gewachsen. Der behandelnde Chirurg Dr. med. H.________, Appenzell, berichtete am 4. April 2019 zwar über erhebliche Schmerzen in der rechten Schulter (Cuff Arthropathie rechts), hielt jedoch fest, dass die Beschwerdeführerin zunächst eine Infiltration abgelehnt und nach einmaliger Verabreichung am 4. April 2019 auf eine Wiederholung verzichtet habe. Auf die an sich indizierten operativen Sanierungsmassnahmen wolle die Beschwerdeführerin sowohl an der rechten Schulter als auch am rechten Handgelenk verzichten (Bericht des Dr. med. H.________ vom 25. September 2020). Der im letztgenannten Bericht neu diagnostizierten beginnenden Gonarthrose im rechten Knie mass der behandelnde Chirurg zum damaligen Zeitpunkt ausdrücklich keine leistungslimitierenden Auswirkungen bei. Über die aus orthopädischer Sicht relevanten Befunde gemäss bidisziplinärem Gutachten hinaus vermochte Dr. med. H.________ zusätzlich zu den bekannten Funktionseinschränkungen an der rechten Schulter und der linken Hand keine weitergehenden Beeinträchtigungen der Leistungsfähigkeit zu begründen. Mit Blick auf den Bericht des Hausarztes Dr. med. I.________ vom 24. August 2019 stellte die Vorinstanz fest, alle diagnostizierten Krankheiten hätten schon vor Erlass der Verfügung vom 20. September 2013 vorbestanden. Neue oder wesentlich verschlechterte Befunde habe er nicht erwähnt. In sämtlichen neuen Berichten fänden sich keine Anhaltspunkte dafür, welche glaubhaft darauf schliessen liessen, dass sich die Arbeitsfähigkeit in optimal leidensangepasster Tätigkeit von 70% gemäss bidisziplinärem Gutachten seither anspruchserheblich verschlechtert hätte. Die IV-Stelle sei daher zu Recht nicht auf das Neuanmeldungsgesuch vom 4. Oktober 2019 eingetreten.
3.2. Was die Beschwerdeführerin gegen die Rechtmässigkeit der unangefochten in Rechtskraft erwachsenen Verfügung vom 20. September 2013 vorbringt, ist unbegründet. Allein aus dem seitherigen Zeitablauf ist nicht auf die Glaubhaftigkeit der im Rahmen des Neuanmeldungsverfahrens geltend gemachten Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu schliessen. Weder in den erwähnten Unterlagen der genannten Pneumologen (vgl. E. 3.1) noch in den Berichten des Dr. med. J.________ vom 19. Oktober und 20. November 2018 finden sich Hinweise auf eine erhebliche und andauernde gesundheitsbedingte Einschränkung der Leistungsfähigkeit. Entgegen der Beschwerdeführerin trifft nicht zu, dass der Hinweis des Dr. med. H.________ auf eine beginnende Gonarthrose am rechten Knie bereits zweieinhalb Jahre alt gewesen sei. Zum einen ist mit Blick auf die strittige Neuanmeldung in tatsächlicher Hinsicht der Sachverhalt massgebend, wie er sich bis zum Erlass der Verfügung vom 11. Dezember 2020 verwirklicht hat (vgl. BGE 130 V 71 E. 2.3). Zum anderen bestätigte Dr. med. H.________ noch am 25. September 2020 ausdrücklich, dass die Gonarthrose keinen leistungslimitierenden Einfluss habe. Sowohl die Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie Belbe als auch der Arbeits- und Versicherungsmediziner Dr. med. K.________ verneinten namens des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) der Invalidenversicherung mit Blick auf die im Neuanmeldungsverfahren geltend gemachten medizinischen Befunde eine relevante Verschlechterung im Vergleich zum Gesundheitszustand gemäss bidisziplinärem Gutachten. Soweit das kantonale Gericht die Glaubhaftmachung einer anspruchserheblichen Veränderung des Gesundheitszustandes aus pneumologischer Sicht verneinte, begnügt sich die Beschwerdeführerin mit appellatorischer Kritik am angefochtenen Entscheid. Sie zeigt nicht auf und es ist nicht ersichtlich, inwiefern die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts offensichtlich unrichtig sein soll. Von einer Verletzung des Willkürverbots (Art. 9 BV) kann keine Rede sein.
3.3. Ist die Verneinung der Glaubhaftmachung einer anspruchserhebliche Änderung im Sinne von Art. 87 Abs. 2 IVV nicht als bundesrechtswidrig zu beanstanden, ist die IV-Stelle mit Verfügung vom 11. Dezember 2020 zu Recht nicht auf die Neuanmeldung eingetreten. Die Beschwerde ist unbegründet und folglich abzuweisen.
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind ( Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Rechtsanwalt August Holenstein wird als unentgeltlicher Anwalt bestellt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Abteilung Verwaltungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 29. März 2022
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Wirthlin
Der Gerichtsschreiber: Hochuli