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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
9C_254/2013  
   
   
 
 
 
Urteil vom 30. Oktober 2013  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Kernen, Präsident, 
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner, 
Gerichtsschreiber Fessler. 
 
Verfahrensbeteiligte 
P.________, 
vertreten durch Rechtsanwältin Anja Kaufmann-Seifritz, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,  
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung (Invalidenrente), 
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau 
vom 13. Februar 2013. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
P.________ meldete sich am 1. Juli 2008 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen und durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Verfügung vom 7. Januar 2011 einen Rentenanspruch. Auf Beschwerde hin hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 27. April 2011 diese Verfügung auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurück. In der Folge liess die IV-Stelle den Versicherten internistisch, rheumatologisch und psychiatrisch begutachten (Expertise des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ vom 15. Juni 2012). Mit Verfügung vom 16. Oktober 2012 verneinte sie erneut einen Rentenanspruch. 
 
B.   
Die von P.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. Februar 2013 ab. 
 
C.   
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt P.________, es sei der Entscheid vom 13. Februar 2013 aufzuheben und ihm nach Ablauf des Wartejahres eine befristete Dreiviertelsrente zuzusprechen. 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Versicherungsgericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Nach den für das Bundesgericht verbindlichen, im Übrigen unwidersprochenen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) konnte der Beschwerdeführer gesundheitlich bedingt seit November 2007 seine bisherige Tätigkeit als Bauschlosser nicht mehr ausüben. Aufgrund einer rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung bestand gemäss dem Gutachten des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ vom 15. Juni 2012 im Zeitraum von Oktober 2008 (Beginn der Behandlung bei Dr. med. H.________) bis März 2012 (Beginn der Einnahme des Medikamentes Cymbalta) eine Arbeitsunfähigkeit von 50 %. Aus internistischer, rheumatologischer, dermatologischer und kardialer Sicht war eine angepasste Tätigkeit seit November 2007 zu 100 % zumutbar. Daraus ergibt sich, dass die Anspruchsvoraussetzungen für eine Rente frühestens im November 2008 gegeben wären (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG; Urteil 9C_757/2010 vom 24. November 2010 E. 4.1). Da der Beschwerdeführer sich erst am 1. Juli 2008 bei der Invalidenversicherung angemeldet hatte, konnte ein Rentenanspruch frühestens am 1. Januar 2009 entstehen (Art. 29 Abs. 1 IVG; BGE 138 V 475 E. 3.4 S. 480).  
 
1.2. Die Vorinstanz hat die von den Ärzten des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ attestierte Arbeitsunfähigkeit von 50 % aus psychiatrischer Sicht im Zeitraum von Oktober 2008 bis März 2012 unberücksichtigt gelassen. Die Invaliditätsbemessung durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) auf der Grundlage einer Arbeitsfähigkeit von 100 % in einer angepassten Tätigkeit ergab einen Invaliditätsgrad von 25 %, was für den Anspruch auf eine Rente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG).  
 
2.   
Die Vorinstanz hat im Wesentlichen aus folgenden Gründen eine invalidenversicherungsrechtlich relevante psychisch bedingte Einschränkung der Arbeitsfähigkeit verneint: Dem Beschwerdeführer seien zumutbare Behandlungsmöglichkeiten gegeben gewesen, die er nicht ausreichend umgesetzt und genutzt habe. Trotz fachärztlich eindeutig festgestellter Indikation habe er es unterlassen, sich vor allem einer nachhaltigen Psychopharmakotherapie zu unterziehen. Eine ambulante psychiatrische Behandlung (ab Oktober 2008 bei Dr. med. H.________, ab 17. Januar 2011 rund vier Monate bei Dr. med. B.________) habe lediglich in unregelmässigen Abständen stattgefunden. Der Beschwerdeführer habe die von Dr. med. H.________ verordneten Medikamente nur unregelmässig bis gar nicht eingenommen. Seit der Einnahme des Medikaments Cymbalta Anfang März 2012 gehe es ihm besser. Er habe gemäss seinen Angaben eine Tagesstruktur aufgebaut und begonnen, das Haus aufzuräumen. Der Beschwerdeführer habe somit den Nachweis erbracht, dass mit der Einnahme der Medikation und mit einer Willensanstrengung die psychische Problematik überwunden werden könne. Weder aus dem Gutachten des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ noch den übrigen Berichten sei ersichtlich, dass die mittelgradige depressive Episode therapeutisch nicht angehbar gewesen sei und dem Versicherten eine Behandlung, zu welcher er grundsätzlich verpflichtet war (Art. 21 Abs. 4 ATSG), nicht habe zugemutet werden können. Weiter werde das Beschwerdebild augenfällig durch psychosoziale Umstände bestimmt und unterhalten, weshalb nach BGE 127 V 294 E. 5a S. 299 nicht von einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden gesprochen werden könne. 
Der Beschwerdeführer wehrt sich vorab gegen den Vorwurf der Verletzung der Schadenminderungspflicht. Die vorinstanzliche Annahme, er habe es unterlassen, sich einer nachhaltigen Psychopharmakotherapie zu unterziehen, sei willkürlich und verletze zudem Art. 21 Abs. 4 ATSG, da ihn die Beschwerdegegnerin nicht - im Rahmen des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens - auf die Folgen der Weigerung, an einer zumutbaren Behandlung mitzuwirken, aufmerksam gemacht habe. Sodann hätten die Gutachter des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ das Vorliegen psychosozialer oder invaliditätsfremder Faktoren ausgeschlossen; die Expertise insoweit nicht zu beachten, sei willkürlich. 
 
3.  
 
3.1. Ein Rentenanspruch kann grundsätzlich nicht entstehen, solange zumutbare therapeutische und andere schadenmindernde Vorkehren nicht ausgeschöpft werden. Solange durch eine tatsächlich realisierbare Veränderung der für die gesundheitliche Situation bedeutsamen Rahmenbedingungen eine wesentliche Verbesserung des (psychischen) Gesundheitszustandes und damit der dadurch eingeschränkten Arbeitsfähigkeit bewirkt werden kann, liegt kein invalidisierender Gesundheitsschaden im Sinne des Gesetzes vor (Urteil 9C_947/2012 vom 19. Juni 2013 E. 3.2.2 mit Hinweis). Mit ihrem ersten Argument gegen die Berücksichtigung einer psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit im Zeitraum von Oktober 2008 bis März 2012 wirft die Vorinstanz dem Beschwerdeführer eine Verletzung dieser im Grundsatz unbestrittenen Selbsteingliederungspflicht (vgl. SVR 2012 IV Nr. 25 S. 104, 9C_363/2011 E. 3.1) vor. Dabei stützt sie sich hauptsächlich auf den Bericht des Dr. med. H.________ vom 6. September 2010. Danach hatte eine antidepressive Behandlung mit Efexor zu ausgeprägten unerwünschten Nebenwirkungen (sehr starkes Schwitzen) geführt. Ein Wechsel zu Citalopram war aufgrund suboptimaler Compliance nur verzögert möglich, und der Versicherte setzte das Medikament nach dem Aufenthalt im Spital X.________ vom 17. bis 24. August 2010 (zur Einstellung des Diabetes mellitus) von sich aus ab. Anlässlich der letzten Konsultation am 31. August 2010 äusserte er sich dahingehend, angesichts verminderter Schmerzen und subjektiv psychischer Beschwerdefreiheit wieder Arbeit zu suchen.  
 
3.2. Mit Bezug auf Efexor kann bereits aufgrund der vom behandelnden Arzt als ausgeprägt bezeichneten Nebenwirkungen nicht von einer Verletzung der Selbsteingliederungspflicht gesprochen werden. Diese kann grundsätzlich nicht weiter gehen, als den ärztlichen Anordnungen im zumutbaren Rahmen nachzukommen. Dr. med. H.________ machte keine Angaben dazu, in welchem Zeitraum er Efexor abgegeben hatte. Im Bericht des Spitals Y.________ vom 14. April 2010 war Efexor unter bisherige und aktuelle Medikamente aufgeführt worden. Citalopram musste daher später verordnet worden sein. Das Absetzen dieses Medikamentes durch den Beschwerdeführer erfolgte nach dem Aufenthalt im Spital X.________ vom 17. bis 24. August 2010. Die sorgfältige Einstellung der Diabetesbehandlung im Rahmen dieser Hospitalisation hatte sich auch positiv auf die (subjektive) psychische Verfassung ausgewirkt, wie Dr. med. H.________ in seinem Bericht vom 6. September 2010 festhielt. Am 17. Januar 2011 begab sich der Versicherte indessen erneut in psychotherapeutische Behandlung (bei Dr. med. B.________). Aus dessen Bericht vom 22. Juni 2011 ergeben sich keine Hinweise auf eine ungenügende Compliance in Bezug auf die Einnahme der verordneten Medikamente. Zu erwähnen ist, dass im Bericht des Spitals Z.________ vom 9. Februar 2011 Citalopram unter Medikamente bei Eintritt aufgeführt wurde.  
Unter diesen Umständen kann dem Beschwerdeführer nicht eine Verletzung der Selbsteingliederungspflicht vorgeworfen werden, jedenfalls solange er bei Dr. med. B.________ (bis Juni 2011) in Behandlung stand. Im Übrigen hat die Vorinstanz - aufgrund gegenteiliger Anhaltspunkte in den Akten zu Recht - nicht festgestellt, die Einnahme von Citalopram hätte in gleicher Weise gewirkt wie das seit Anfang März 2012 verabreichte Cymbalta. Eine Behandlungsnotwendigkeit steht ausser Frage. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aussagt (BGE 127 V 294 E. 4c S. 298). Ebenso wenig kann aus dem Fehlen einer (psychiatrischen oder psychotherapeutischen) Behandlung ohne weiteres auf das Fehlen eines psychischen Gesundheitsschadens geschlossen werden (Urteil 9C_947/2012 vom 19. Juni 2013 E. 3.2.2). 
 
3.3. Nach dem Gesagten kann dem Beschwerdeführer nicht zum Vorwurf gemacht werden, er habe es trotz fachärztlich eindeutig festgestellter Indikation unterlassen, sich einer nachhaltigen Psychopharmakotherapie zu unterziehen. Der gegenteilige rechtliche Schluss der Vorinstanz vom Erfolg der seit Anfang März 2012 angewendeten Medikation auf eine bis dahin ungenügende Selbsteingliederung verletzt Bundesrecht.  
 
4.  
 
4.1. Die Bedeutung psychosozialer Belastungsfaktoren im Kontext psychischer Störungen ist unbestritten. Im angefochtenen Entscheid wird zutreffend auf BGE 127 V 294 E. 5a S. 299 hingewiesen. Nach der Rechtsprechung sind solche invaliditätsfremde Faktoren nur (mittelbar) invaliditätsbegründend, wenn und soweit sie den Wirkungsgrad der Folgen des unabhängig davon bestehenden psychischen Gesundheitsschadens für die Arbeitsfähigkeit beeinflussen (SVR 2012 IV Nr. 1 S. 1, 9C_1040/2010 E. 3.2 und Nr. 32 S. 127, 9C_776/2010 E. 2.3.3). Dabei handelt es sich um eine - letztlich - von den rechtsanwendenden Behörden zu entscheidende Rechtsfrage (Urteil 9C_784/2012 vom 7. Dezember 2012 E. 2).  
 
4.2. Nach Auffassung der Vorinstanz sind die Symptome der von den Gutachtern des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ diagnostizierten rezidivierenden depressiven Störung mittelgradiger Ausprägung, unter Medikation seit März 2012 remittierter Zustand, auf langjährig durchgemachte Probleme im Zusammenhang mit Eheleben, Medikamentenabhängigkeit und Angst vor einem Verlust der eigenen Firma (Versagerängste) zurückzuführen und würden durch die verschiedenen familiären und finanziellen Belastungsfaktoren aufrechterhalten. Der Beschwerdeführer bringt richtig vor, dass im Gutachten vom 15. Juni 2012 bei der Frage, welche Rolle psychosoziale Faktoren spielten und wie sich diese auf die Arbeitsfähigkeit auswirkten, einzig sein Alter und die lange Arbeitskarenz seit 2007 erwähnt worden seien, welche Umstände jedoch keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit hätten. Es besteht kein Anlass, von dieser fachärztlichen Beurteilung abzuweichen.  
 
4.3. Somit lassen sich auch nicht psychosoziale Belastungsfaktoren ins Feld führen gegen das Vorliegen eines invalidisierenden Gesundheitsschadens (im Zeitraum von Oktober 2008 bis März 2012); dessen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit sind daher bei der Invaliditätsbemessung zu berücksichtigen. Dabei ist von einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % gemäss dem Gutachten des medizinischen Begutachtungszentrums A.________ vom 15. Juni 2012 auszugehen (vgl. E. 1).  
 
5.   
Der Beschwerdeführer bestreitet den vorinstanzlichen Einkommensvergleich einzig in Bezug auf den Verdienst, den er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielen würde (Valideneinkommen). Was er zur Begründung vorbringt, ist indessen nicht stichhaltig. Die von ihm beantragte Erhöhung dieses Einkommens um 5 % gestützt auf die Rechtsprechung gemäss BGE 134 V 322 und BGE 135 V 297 setzte voraus, dass er aus invaliditätsfremden Gründen (z.B. geringe Schulbildung, fehlende berufliche Ausbildung, mangelnde Deutschkenntnisse, beschränkte Anstellungsmöglichkeiten wegen Saisonnierstatus) ein deutlich unter dem branchenüblichen Durchschnitt liegendes Einkommen bezog (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 325). Dies macht er indessen nicht geltend. Bei einer Arbeitsfähigkeit von 50 % ergibt der vorinstanzliche Einkommensvergleich bei im Übrigen unveränderten Berechnungsfaktoren einen Invaliditätsgrad von 63 % ([Fr. 72'424.90 - Fr. 26'990.50]/Fr. 72'424.90 x 100 %; zum Runden BGE 130 V 121), was Anspruch auf eine Dreiviertelsrente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Leistungsbeginn ist der 1. Januar 2009 (E. 1.1). Der Anspruch dauert bis Ende Juni 2012 (Art. 88a Abs. 1 IVV). Die Höhe der Rente wird die IV-Stelle festzusetzen haben. Die Beschwerde ist begründet. 
 
6.   
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Februar 2013 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 16. Oktober 2012 werden aufgehoben und es wird festgestellt, dass der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung für die Zeit vom 1. Januar 2009 bis 30. Juni 2012 hat. 
 
2.   
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt. 
 
3.   
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 30. Oktober 2013 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Kernen 
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler