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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess 
{T 7} 
I 451/00 
 
Urteil vom 30. Dezember 2003 
I. Kammer 
 
Besetzung 
Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Ferrari, Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Fessler 
 
Parteien 
B.________, 1944, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas, Haus "zur alten Dorfbank", Dorfstrasse 33, 9313 Muolen, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen 
 
(Entscheid vom 30. Mai 2000) 
 
Sachverhalt: 
A. 
Die 1944 geborene, aus X.________ stammende B.________ meldete sich im Oktober 1996 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen klärte die gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse ab. Unter anderem liess sie die Versicherte vom 10. bis 12. November 1997 durch die MEDAS polydisziplinär untersuchen und begutachten. Im Rahmen dieser Abklärung fand auch ein psychiatrisches Konsilium statt, bei welchem ihr Ehemann anwesend war und als Übersetzer fungierte. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 31. März 1998 das Leistungsbegehren ab. 
B. 
In der von B.________ hiegegen erhobenen Beschwerde wurde beantragt, es sei ein ergänzendes psychiatrisches Gutachten zu erstellen. Der Experte müsse entweder ihrer Muttersprache mächtig sein oder einen Dolmetscher beiziehen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die Beschwerde mit Entscheid vom 30. Mai 2000 ab. 
C. 
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und ihr mindestens eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei sie polydisziplinär, insbesondere in psychiatrischer Hinsicht, abzuklären. 
 
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das kantonale Gericht hat wie zuvor die IV-Stelle den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung mit der Begründung verneint, gemäss MEDAS-Gutachten vom 22. Dezember 1997 sei die Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Zimmermädchen weder aus rheumatologischer noch psychiatrischer Sicht eingeschränkt (vgl. BGE 115 V 133 Erw. 2). Zu dem in erster Linie streitigen Beweiswert der Expertise in Bezug auf den psychischen Gesundheitszustand sowie zur psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit im Besonderen hat die Vorinstanz Folgendes erwogen: Die angefochtene Verfügung müsste zwar eigentlich aus formellen Gründen aufgehoben und die Sache zur nochmaligen psychiatrischen Begutachtung an die Verwaltung zurückgewiesen werden, weil der Ehemann der Versicherten beim psychiatrischen Konsilium am 12. November 1997 als Dolmetscher fungiert habe. Er gelte somit als Gehilfe des Sachverständigen. Als solcher unterliege er an sich denselben Ausstandsregeln wie der Experte in seiner Eigenschaft als Gehilfe des Richters. Zu den Ausstandsgründen gehöre auch das nahe Verwandtschaftsverhältnis. Diese Betrachtungsweise trüge indessen den Besonderheiten der psychiatrischen Abklärung nicht Rechnung. Zum einen sei es sehr unwahrscheinlich, dass der Ehemann beim Übersetzen der Fragen des Psychiaters und der Antworten seiner Ehefrau bewusst Verfälschungen oder sogar Auslassungen vorgenommen habe. Vielmehr sei von einer wortwörtlichen Übersetzung in beide Richtungen auszugehen. Die Gefahr, die theoretisch von der engen Beziehung zwischen der Versicherten und dem Dolmetscher ausgegangen sei, sei faktisch gering gewesen, auf jeden Fall aber durch den Nutzen, den der Psychiater aus der Beobachtung der Interaktion zwischen den Eheleuten habe ziehen können, überwogen worden. Der Beizug eines neutralen Dolmetschers hätte unter Umständen sogar ein weniger überzeugendes Untersuchungsergebnis geliefert, weil die Versicherte - auch im Beisein ihres Ehemannes - möglicherweise zu gehemmt gewesen wäre, über ihre psychische Befindlichkeit Aussagen zu machen. Unter diesen Umständen könne den formellen «Mängeln» nicht jene Bedeutung beigemessen werden, die ihnen beispielsweise im Zusammenhang mit der Übersetzung einer Zeugenaussage vor Gericht zukäme. Immerhin wäre es der Überzeugungskraft des Gutachtens dienlich gewesen, wenn der Psychiater die Interaktion zwischen den Eheleuten geschildert und die daraus gezogenen Schlüsse deutlicher offen gelegt hätte. Von einer nochmaligen Begutachtung allein unter Beizug eines unabhängigen Dolmetschers sei (indessen) kein besserer Aufschluss über den psychischen Gesundheitszustand und die Arbeitsfähigkeit zu erwarten, sodass davon abzusehen sei. 
 
Demgegenüber wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde argumentiert, der Beizug des Ehemannes als Dolmetscher habe auch zu Interaktionen geführt, welche die echte Exploration seiner Ehefrau verunmöglicht hätten. Eine allfällige belastende Beziehung könne in dieser Konstellation verborgen bleiben, zumal die Abklärung in einer für den Experten völlig fremden Sprache stattfinde. Der Beizug des Ehemannes zur Fremdanamnese wäre zweifellos möglich und sinnvoll gewesen. Dass er sinngemäss sogar als Dolmetscher fungierte, habe zwangsläufig zu Verfälschungen geführt, weil er offenbar nicht in der Lage gewesen sei, die an ihn gestellten Fragen zu übersetzen. 
2. 
Die Beschwerdeführerin wurde im Rahmen der MEDAS-Abklärung von Dr. med. M.________ psychiatrisch-konsiliarisch untersucht und begutachtet. Ihr Ehemann fungierte als Übersetzer. Es stellt sich die Frage, ob der psychische Gesundheitszustand und eine allenfalls psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit zuverlässig auf der Grundlage des fachärztlichen Berichts vom 17. November 1997 beurteilt werden kann. 
2.1 Nach der Rechtsprechung ist für den Beweiswert eines Arztberichtes entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis). 
2.2 Dr. med. M.________ führt in seinem Bericht vom 17. November 1997 zum Psychostatus aus, die Explorandin spreche fast kein Deutsch. Dem sie begleitenden Ehemann falle es im Gespräch etwas schwer, die an sie gerichteten Fragen zu übersetzen. Überhaupt scheine er Mühe zu haben zu begreifen, dass u.a. auch psychische Faktoren das Schmerzverhalten seiner Frau beeinflussen könnten. Ihre Umsiedlung von X.________ in die Schweiz sei für ihn bezüglich psychischer Belastung nichts Aussergewöhnliches. Die Explorandin, welche meistens ein ausdrucksloses Gesicht zeige, verneine jegliche persönlichen, familiären oder sozialen Probleme. Ihr Verhalten wirke regressiv. Sie scheine sozial isoliert zu sein und unzufrieden. In der Schweiz sei sie abhängig von ihrem Ehemann und werde dementsprechend von ihm überallhin begleitet. Beide Eheleute vermöchten nicht zu begreifen, dass der Verlust von Unabhängigkeit nach 1986 (Jahr der Einreise der Beschwerdeführerin in die Schweiz) - in X.________ dürfte die Ehefrau als Mutter ihrer vier Kinder viel mehr Autonomie genossen haben - wesentliche psychische Probleme hervorrufen könne. 
 
In seiner Beurteilung kommt Dr. med. M.________ zum Schluss, bei der Explorandin sei eine Depression im Rahmen ihrer soziokulturellen Isolation zwar spürbar. Eine invaliditätsrelevante Depression, welche als eigenständige Krankheit betrachtet werden könnte, sei indessen nicht eruierbar. Die Entwurzelung, welche sie 1986 in Kauf genommen habe, dürfte mit ihrer heutigen psychischen Problematik zusammenhängen. Wenn und soweit sie sich nicht mehr arbeitsfähig fühle, lägen dieser Tatsache invaliditätsfremde Faktoren zu Grunde. 
 
Dr. med. M.________ stellte abschliessend die Diagnose einer soziokulturell entwurzelten Persönlichkeit. 
2.3 
2.3.1 Der Bericht vom 17. November 1997 genügt insbesondere im Lichte der Rechtsprechung zur Bedeutung psychosozialer und soziokultureller Faktoren für die Invalidität (vgl. dazu BGE 127 V 294) den an ein Gutachten gestellten Anforderungen nicht. Es findet keine vertiefte Auseinandersetzung mit dem geklagten Leiden statt. Namentlich wird nicht begründet, weshalb die diagnostizierten Depressionen keinen Krankheitswert haben und sich nicht auf die Erwerbsfähigkeit auswirken. 
2.3.2 Auch aus folgenden Gründen kann nicht auf den Bericht vom 17. November 1997 abgestellt werden. Im Rahmen von psychiatrischen Abklärungen kommt der bestmöglichen Verständigung zwischen Gutachter und versicherter Person besonderes Gewicht zu. Eine gute Exploration setzt auf beiden Seiten vertiefte Sprachkenntnisse voraus. Ist der Gutachter der Sprache des Exploranden nicht mächtig, erscheint es medizinisch und sachlich geboten, dass er eine Übersetzungshilfe beizieht (Urteil L. vom 25. Juli 2003 [I 642/01] Erw. 3.1). 
 
Es steht fest, dass der psychiatrische Konsiliararzt der Sprache der Explorandin nicht mächtig war. Bei der Begutachtung fungierte zwar der Ehemann als Dolmetscher. Gemäss Dr. med. M.________ fiel es ihm indessen etwas schwer, die an sie gerichteten Fragen zu übersetzen. Es kommt dazu, dass aufgrund der Dominanz des Ehemannes - die Beschwerdeführerin bezeichnete sich gegenüber dem Experten als total von ihm abhängig - eine die Untersuchung verfälschende Beeinflussung der Explorandin nicht auszuschliessen ist. 
2.4 Psychischer Gesundheitszustand und psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit können somit nicht als genügend abgeklärt gelten. Die IV-Stelle wird daher nochmals eine psychiatrische Begutachtung in der Muttersprache der Beschwerdeführerin oder unter Beizug eines Übersetzers durchzuführen haben. Nach allfälligen weiteren Abklärungen wird sie über den Anspruch auf eine Invalidenrente oder Massnahmen beruflicher Art neu verfügen. 
3. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine unter anderem nach dem Vertretungsaufwand bemessene Parteientschädigung (Art. 159 OG in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 2 Abs. 1 des Tarifs über die Entschädigungen an die Gegenpartei für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht und Art. 160 OG). 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
1. 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Mai 2000 und die Verfügung vom 31. März 1998 aufgehoben und es wird die Sache an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 30. Dezember 2003 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: