Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
9C_482/2022
Urteil vom 31. Januar 2024
III. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Stadelmann,
Bundesrichterin Moser-Szeless,
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber,
Gerichtsschreiberin Nünlist.
Verfahrensbeteiligte
A.________, vertreten durch Inclusion Handicap,
Beschwerdeführerin,
gegen
Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse, Oberstadt 9, 8200 Schaffhausen,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 13. September 2022 (63/2021/42).
Sachverhalt:
A.
Die 1963 geborene A.________ bezieht seit dem 1. November 2013 bei einem Invaliditätsgrad von 63 % eine Dreiviertelsrente der Eidgenössischen Invalidenversicherung (IV). Nach Wohnsitznahme im Kanton Schaffhausen im Sommer 2019 meldete sie sich im Januar 2021 beim Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse (nachfolgend: Ausgleichskasse), zum Bezug von Ergänzungsleistungen an. Mit Verfügung vom 4. Juni 2021 sprach die Ausgleichskasse der Versicherten unter Anrechnung eines hypothetischen Einkommens bei Teilinvaliden ab dem 1. Januar 2021 Ergänzungsleistungen in der Höhe von monatlich Fr. 672.- sowie eine Prämienvergütung der Krankenversicherung von Fr. 441.70 zu. Hiergegen erhob die Versicherte Einsprache. Mit Einspracheentscheid vom 22. September 2021 wurde die Verfügung vom 4. Juni 2021 in teilweiser Gutheissung der Einsprache aufgehoben. Für die Zeit ab dem 1. August 2021 wurde auf die Anrechnung eines hypothetischen Einkommens verzichtet. Vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 wurde der Versicherten dagegen weiterhin ein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet. Während ab dem 1. August 2021 der AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige als Ausgabe berücksichtigt wurde, wurde dies für die Zeit vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 verneint.
B.
Die gegen den Einspracheentscheid vom 22. September 2021 erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Schaffhausen mit Entscheid vom 13. September 2022 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und der Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige an die AHV/IV und EO sei auch für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 als Ausgabe anzuerkennen. Weiter wird die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege beantragt.
Der Beschwerdegegner beantragt unter Verzicht auf Weiterungen die Abweisung der Beschwerde. Auch die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ersuchen um Abweisung.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Dritte öffentlich-rechtliche Abteilung (bis Ende Dezember 2022: Zweite sozialrechtliche Abteilung) ist zuständig für Beschwerden betreffend die Ergänzungsleistungen die bis zum 30. Juni 2023 eingereicht worden sind (vgl. Art. 82 lit. a BGG sowie Art. 31 lit. g des Reglements für das Bundesgericht vom 20. November 2006 [BGerR; SR 173.110.131] in der vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2023 geltenden Fassung). Bei dieser Zuständigkeit bleibt es, auch wenn Beschwerden betreffend die Ergänzungsleistungen, die nach dem 1. Juli 2023 eingereicht worden sind, durch die Vierte öffentlich-rechtliche Abteilung beurteilt werden (vgl. den auf den 1. Juli 2023 in Kraft getretenen Art. 32 lit. i BGerR).
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG ). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG ; BGE 145 V 57 E. 4).
2.
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob Bundesrecht verletzt wurde, indem das kantonale Gericht es abgelehnt hat, für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 den seitens der Beschwerdeführerin entrichteten AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige als anerkannte Ausgabe in die Berechnung der Ergänzungsleistungen mit einzubeziehen.
2.2. Am 1. Januar 2021 trat das revidierte ELG in Kraft (EL-Reform; Änderung vom 22. März 2019, AS 2020 585; BBl 2016 7465). Nach den allgemeinen intertemporalrechtlichen Grundsätzen (vgl. BGE 147 V 278 E. 2.1; 144 V 210 E. 4.3.1) sind hier in erster Linie die Bestimmungen des ELG in der ab Anfang 2021 geltenden Fassung anwendbar. Soweit nicht anders vermerkt werden sie im Folgenden jeweils in dieser Version wiedergegeben, zitiert und angewendet.
2.3.
2.3.1. Die jährliche Ergänzungsleistung entspricht dem Betrag, um den die anerkannten Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen (Art. 9 Abs. 1 Satz 1 ELG). Der Bundesrat bestimmt die Anrechnung von Einkünften aus einer zumutbaren Erwerbstätigkeit bei teilinvaliden Personen und bei Witwen ohne minderjährige Kinder (Art. 9 Abs. 5 lit. c ELG).
2.3.2. Invaliden wird als Erwerbseinkommen grundsätzlich der Betrag angerechnet, den sie im massgebenden Zeitabschnitt tatsächlich verdient haben (Art. 14a Abs. 1 ELV). Invaliden unter 60 Jahren ist als Erwerbseinkommen bei einem Invaliditätsgrad von 60 bis unter 70 Prozent gemäss Art. 14a Abs. 2 lit. c ELV jedoch mindestens zwei Drittel des Höchstbetrags für den Lebensbedarf von Alleinstehenden nach Art. 10 Abs. 1 lit. a Ziff. 1 ELG anzurechnen. Dieser belief sich im vorliegend massgebenden Jahr 2021 auf Fr. 19'610.-.
2.3.3. Als anerkannte Ausgaben gelten gemäss Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG bei allen Personen unter anderem die Beiträge an die Sozialversicherungen des Bundes unter Ausschluss der Prämien für die Krankenversicherung. Dabei handelt es sich um zwingendes Bundesrecht (ERWIN CARIGIET/UWE KOCH, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 3. Aufl. 2021, N. 467).
3.
3.1. Das kantonale Gericht hat betreffend den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 erwogen, die Beschwerdeführerin sei 2021 58 Jahre alt geworden und beziehe eine Dreiviertelsrente der IV bei einem Invaliditätsgrad von 63 %. Die Anrechnung eines hypothetischen Erwerbseinkommens an sich und dessen Berechnung durch die Ausgleichskasse seien unbestritten geblieben. Ob es sich beim hypothetischen Einkommen gemäss Art. 14a Abs. 2 ELV um ein Brutto- oder Nettoerwerbseinkommen handle, lasse sich der Bestimmung nicht entnehmen. Die Wegleitung des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV (WEL) spreche von einem Nettoeinkommen (Rz. 3424.02; Stand am 1. Januar 2021). Diese Auffassung werde in der Literatur geteilt und damit begründet, dass es unsinnig wäre, von den pauschalisierten hypothetischen Erwerbseinkommen unter anderem noch hypothetische Sozialversicherungsbeiträge abzuziehen. Diese Betrachtungsweise überzeuge. Handle es sich somit beim Mindesterwerbseinkommen gemäss Art. 14a ELV um ein (hypothetisches) Nettoeinkommen, bedeute dies, dass die Sozialversicherungsbeiträge bereits in Abzug gebracht worden seien. Eine zusätzliche Anrechnung der effektiv bezahlten Sozialversicherungsbeiträge als Ausgabe würde demnach zu einer unzulässigen Doppelberücksichtigung führen. Die Verwaltung habe daher für die Zeit, in welcher sie der Beschwerdeführerin ein hypothetisches Einkommen angerechnet habe, zu Recht keine Sozialversicherungsbeiträge als Ausgabenposition berücksichtigt.
3.2.
3.2.1. Das Bundesgericht beschäftigte sich in der Vergangenheit wiederholt mit der Frage, ob bei der Anrechnung eines hypothetischen Einkommens hypothetisch zu leistende Beiträge in Abzug zu bringen sind. Konkret ging es um Beiträge von nichtinvaliden, nichterwerbstätigen Ehegatten der EL-Ansprecher an die berufliche Vorsorge und die obligatorische (Nichtberufs-) Unfallversicherung. Deren Berücksichtigung wurde mit der Begründung verneint, dass Bestand und Höhe nicht eruierbar seien (vgl. Urteile 9C_255/2023 vom 8. Juni 2023 E. 5.5.2 mit Hinweis; 9C_653/2018 vom 26. Juli 2019 E. 6.2 f., in: SVR 2019 EL Nr. 15 S. 37; P 35/06 vom 9. Oktober 2007 E. 5.2.3).
3.2.2. Davon zu unterscheiden ist jedoch die vorliegende Konstellation, in welcher es um Sozialversicherungsbeiträge geht, welche die Beschwerdeführerin effektiv zu leisten hatte und die ihr daher zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes nicht mehr zur Verfügung standen. Mit Blick auf das unter Erwägung 2.3 hiervor Dargelegte sind Beiträge an die Sozialversicherungen des Bundes bei allen Personen - damit auch bei Teilinvaliden, denen ein hypothetisches Einkommen anzurechnen ist - als Ausgaben anzuerkennen (Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG). Eine präzisierende Einschränkung besteht dort, wo obligatorische Sozialversicherungsbeiträge bereits im Rahmen der Ermittlung des jährlichen Erwerbseinkommens berücksichtigt werden, so gemäss Art. 11a ELV bei Erwerbstätigen.
Entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts geht es daher nicht an, den von der Beschwerdeführerin effektiv geleisteten AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige bei der Berechnung der Ergänzungsleistungen gänzlich ausser Acht zu lassen. Hierauf läuft die Beurteilung der Vorinstanz jedoch - wie zu Recht gerügt - hinaus, indem unter Bezugnahme darauf, dass es sich beim hypothetischen Einkommen nach Art. 14a Abs. 2 ELV um ein "Nettoeinkommen" handle, eine Berücksichtigung abgelehnt wird. Ein "Nettobetrag" (vgl. ERWIN CARIGIET/UWE KOCH, a.a.O., N. 538) kann jedoch einzig in der Hinsicht angenommen werden, als dass die obligatorischen Sozialversicherungsbeiträge bei der Ermittlung des Einkommens nach Art. 14a Abs. 2 ELV - im Gegensatz zur Berechnung bei Erwerbstätigen (siehe vorne) - nicht abzuziehen sind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG anwendbar bleibt (vgl. Urteile 9C_160/2018 vom 9. August 2018 E. 4.2, in: SVR 2018 EL Nr. 19 S. 49; P 35/06 vom 9. Oktober 2007 E. 3-6; P 61/88 vom 10. Juli 1989 E. 5; siehe auch ZAK 1987, S. 544 ff.). In administrativer Hinsicht hat dies keinen erheblichen Zusatzaufwand zur Folge. Anstatt von einem "Nettobetrag" respektive "Nettoeinkommen" ist es daher - wie das BSV zu Recht vorbringt - angezeigt, bei den Einkommen nach Art. 14a Abs. 2 ELV von "Pauschalbeträgen" zu sprechen. Dies jedoch lediglich im dargelegten Sinne. Die Gesetzeslage lässt keine andere Würdigung zu.
Soweit die WEL anders als soeben dargelegt interpretiert werden muss, verstösst sie gegen zwingendes Bundesrecht (E. 2.3.3 hiervor) und ist daher nicht anwendbar (vgl. BGE 133 V 450 E. 2.2.4 mit Hinweis).
3.2.3. Die vorinstanzlichen Erwägungen verletzen Recht. In Nachachtung von Art. 107 Abs. 1 BGG ist für den Zeitraum vom 1. Januar und bis zum 31. Juli 2021 dem von der Beschwerdeführerin geleisteten AHV/IV/EO-Mindestbeitrag für Nichterwerbstätige bei der Berechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen als anerkannte Ausgabe im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. c ELG Rechnung zu tragen, sofern dieser 2021 in Rechnung gestellt und rechtzeitig geleistet worden ist (RALPH JÖHL/PATRICIA USINGER-EGGER, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Band XIV, 3. Aufl. 2016, Rz. 106). Die Sache ist an den Beschwerdegegner zur diesbezüglichen Prüfung und allfälligen Neuberechnung des Anspruchs auf Ergänzungsleistungen für die Zeit zwischen dem 1. Januar und dem 31. Juli 2021 zurückzuweisen. Die Beschwerde ist begründet.
4.
Praxisgemäss entspricht die Rückweisung einem vollen Obsiegen (BGE 137 V 210 E. 7.1 mit Hinweisen). Der unterliegende Beschwerdegegner hat die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 137 V 210 E. 7.1). Deren Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wird damit gegenstandslos.
Zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens ist die Sache an das Obergericht des Kantons Schaffhausen zurückzuweisen (Art. 67 und Art. 68 Abs. 5 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 13. September 2022 und der Einspracheentscheid des Sozialversicherungsamtes Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse, vom 22. September 2021 werden aufgehoben, soweit sie den Anspruch auf Ergänzungsleistungen für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Juli 2021 betreffen. Die Sache wird diesbezüglich zu neuer Verfügung im Sinne der Erwägungen ans Sozialversicherungsamt Schaffhausen, AHV-Ausgleichskasse, zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Der Beschwerdegegner hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Obergericht des Kantons Schaffhausen zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Obergericht des Kantons Schaffhausen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 31. Januar 2024
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Nünlist