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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 960/06 
 
Urteil vom 31. Mai 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichter Schön, Frésard, 
Gerichtsschreiber Flückiger. 
 
Parteien 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
M.________, 1992, Beschwerdegegner, 
handelnd durch V.________, und diese vertreten durch Kinderarzt FMH Dr. med. W.________. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern 
vom 10. Oktober 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1992 geborene M.________ wurde durch seine Mutter am 14. Oktober 2004 bei der Eidgenössischen Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Der Antrag lautete auf Übernahme der Kosten der psychotherapeutischen Behandlung einer psychoreaktiven Entwicklung bei ADS (kein Geburtsgebrechen). Die IV-Stelle Luzern nahm Abklärungen zum Gesundheitszustand des Versicherten und zu den durchgeführten Therapien vor. Anschliessend lehnte sie das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 6. Dezember 2004 ab. Daran wurde - nach Beizug weiterer Unterlagen - mit Einspracheentscheid vom 14. Juli 2005 festgehalten. 
B. 
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern in dem Sinne gut, als es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur ergänzenden Abklärung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 10. Oktober 2006). 
C. 
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, es sei der kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben. M.________ lässt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Am 1. Januar 2007 ist das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Damit wurden das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern und das Bundesgericht in Lausanne zu einem einheitlichen Bundesgericht (an zwei Standorten) zusammengefügt (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, S. 10 Rz 75). Dieses Gesetz ist auf die nach seinem Inkrafttreten eingeleiteten Verfahren des Bundesgerichts anwendbar, auf ein Beschwerdeverfahren jedoch nur dann, wenn auch der angefochtene Entscheid nach dem Inkrafttreten dieses Gesetzes ergangen ist (Art. 132 Abs. 1 BGG). Da der kantonale Gerichtsentscheid am 10. Oktober 2006 und somit vor dem 1. Januar 2007 erlassen wurde, richtet sich das Verfahren nach dem bis 31. Dezember 2006 in Kraft gewesenen Bundesgesetz über die Organisation der Bundesrechtspflege (OG) vom 16. Dezember 1943 (vgl. BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
Die strittige Verfügung hat Leistungen der Invalidenversicherung zum Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 OG in der vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
3.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf medizinische Massnahmen der Eidgenössischen Invalidenversicherung (Art. 12 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung, welche mit der früheren inhaltlich übereinstimmt [Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 878/05 vom 7. August 2006, E. 1.2]; vgl. auch Art. 2 Abs. 1 IVV) im Allgemeinen (BGE 120 V 277 E. 3a S. 279 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21) und bei minderjährigen Versicherten im Speziellen (BGE 131 V 9 E. 4.2 S. 21 mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist insbesondere, dass medizinische Vorkehren bei Jugendlichen schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der IV übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt werden (AHI 2003 S. 104 f. E. 2 am Ende, I 340/00). Dagegen besteht kein Anspruch auf prophylaktische Massnahmen der Invalidenversicherung, wenn sich diese gegen psychische Krankheiten und Defekte richten, welche nach heutiger Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne dauernde Behandlung nicht gebessert werden können (SVR 2006 IV Nr. 3 S. 11 f. E. 2.2 und 4.2, I 23/04). 
3.2 Mit Bezug auf hyperkinetische Störungen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht einen Anspruch auf Übernahme psychotherapeutischer Massnahmen durch die IV verneint, wenn die Prognose unbestimmt ist und die Behandlung eine medizinische Vorkehr von zeitlich unbegrenzter Dauer darstellt (AHI 2003 S. 105 f. E. 4a und b, I 340/00). Dies lässt sich jedoch nicht ohne weiteres aus dem Vorliegen eines derartigen Krankheitsbilds ableiten. Vielmehr ist auf Grund der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls und der medizinisch-prognostischen Beurteilung zu prüfen, ob die Voraussetzungen des Anspruchs auf Psychotherapie (Art. 2 Abs. 1 IVV) erfüllt sind (SVR 2006 IV Nr. 3 S. 12 f. E. 4.3 am Ende, I 23/04; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 670/03 vom 27. August 2004, E. 4 am Ende). 
4. 
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer, welcher an einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADS) ohne Wahrnehmungs- und Merkfähigkeitsschwächen (ICD-10: F90.0) und einer Bindungsstörung des Kindesalters (ICD-10: F94.2) leidet, Anspruch auf Übernahme der Kosten für Psychotherapie im Sinne einer medizinischen Massnahme hat. 
4.1 Das kantonale Gericht gelangte zum Ergebnis, den vorhandenen Akten lasse sich nicht mit hinreichender Zuverlässigkeit entnehmen, ob sich ohne die Psychotherapie in naher Zukunft ein stabiler Defekt manifestieren werde, der sich wesentlich auf die Erwerbsfähigkeit oder Berufsbildung auswirken würde, sowie ob durch die Psychotherapie ein solcher Defektzustand verhindert werden könne. In keinem der Berichte werde dazu Stellung genommen, ob die Psychotherapie auch dazu diene, einen stabilen Gesundheitszustand im Sinne einer psychischen und psychosozialen Entwicklung zu erreichen, bei dem keine massgebliche Beeinträchtigung durch die psychischen Störungen und Krankheitssymptome mehr bestehe, bzw. ob sich eine dahingehende Prognose mit hinlänglicher Zuverlässigkeit stellen lasse. Dies bedürfe der zusätzlichen Abklärung, weshalb die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen sei. Diese werde fachärztlich abzuklären haben, ob mit hinreichender Zuverlässigkeit erwartet werden kann, dass mit der Psychotherapie ein später drohender stabiler Defekt, welcher die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich beeinträchtigen würde, vermieden werden könnte. 
4.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, das kantonale Gericht habe den Grundsatz der freien Beweiswürdigung und die ihm obliegende Begründungspflicht bzw. das rechtliche Gehör verletzt. Zudem habe es den Sachverhalt offensichtlich unrichtig bzw. unvollständig festgestellt und Art. 12 IVG nicht richtig angewendet. An einer genügenden Begründung fehle es, weil die Ablehnung des Leistungsbegehrens durch die IV-Stelle vor allem damit begründet worden sei, dass ein labiles Geschehen vorliege, welches einer Therapie zumindest über längere Zeit hinweg bedürfe, deren Prognose sich nicht zuverlässig stellen lasse. Mit diesem Aspekt habe sich das kantonale Gericht nicht auseinandergesetzt. 
4.3 
4.3.1 Die Begründungspflicht ist wesentlicher Bestandteil des verfassungsrechtlichen Gehörsanspruchs (Art. 29 Abs. 2 BV). Sie soll verhindern, dass sich die Behörde von unsachlichen Motiven leiten lässt, und dem Betroffenen ermöglichen, einen Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anzufechten. Dies ist nur möglich, wenn sowohl er wie auch die Rechtsmittelinstanz sich über die Tragweite des Entscheides ein Bild machen können. In diesem Sinn müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf welche sich ihre Verfügung stützt. Dies bedeutet indessen nicht, dass sie sich ausdrücklich mit jeder tatbeständlichen Behauptung und jedem rechtlichen Einwand auseinandersetzen muss. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Gesichtspunkte beschränken (BGE 124 V 180 E. 1a S. 181; SVR 2006 IV Nr. 27 S. 93 E. 3.1.3, I 3/05). 
4.3.2 Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde als "hauptsächliche Begründung" für den Standpunkt der IV-Stelle bezeichnete Argumentation, es liege ein labiles Geschehen vor, das einer Therapie zumindest über längere Zeit hinweg bedürfe, deren Prognose sich nicht zuverlässig stellen lasse, wird im vorinstanzlichen Entscheid durchaus berücksichtigt. Das kantonale Gericht folgte ihr, wie sich seinem Entscheid ohne weiteres entnehmen lässt, deshalb nicht, weil es zum Ergebnis gelangte, die Fragen nach der voraussichtlichen Dauer der Therapie und nach der Prognose bedürften ergänzender Abklärung. Die vorinstanzliche Begründung wird damit den Anforderungen von Verfassung und Gesetz (Art. 61 lit. h ATSG) gerecht. 
4.4 Wie dargelegt (E. 3.2 am Ende), beurteilen sich die Voraussetzungen des Anspruchs auf Psychotherapie auch bei einer hyperkinetischen Störung nach Massgabe der Gegebenheiten des Einzelfalls, wobei die medizinisch-prognostische Beurteilung eine erhebliche Rolle spielt. Wenn das kantonale Gericht diesbezüglich zum Ergebnis gelangt ist, die vorhandenen Akten bildeten keine hinreichende zuverlässige Entscheidgrundlage, handelt es sich dabei um eine Tatsachenfeststellung (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398; Urteil I 818/06 vom 24. Januar 2007, E. 3.2). Diese lässt sich mit Blick auf die im letztinstanzlichen Verfahren geltende Überprüfungsbefugnis (E. 2 hiervor) auch unter Berücksichtigung der Argumentation in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht als offensichtlich unrichtig bezeichnen. Eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften liegt ebenfalls nicht vor; vielmehr war das kantonale Gericht, da es die Voraussetzungen einer antizipierten Beweiswürdigung (BGE 124 V 90 E. 4b S. 94; SVR 2005 MV Nr. 1 S. 2 E. 2.3, M 1/02, mit Hinweisen; vgl. auch BGE 131 I 153 E. 3 S. 157) als nicht erfüllt ansah, auf Grund des Untersuchungsgrundsatzes (Art. 61 lit. c ATSG) gehalten, weitere Abklärungen anzuordnen. Unter dem Aspekt einer Rechtsverletzung (vgl. BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) ist festzuhalten, dass die vorinstanzliche Würdigung der medizinischen Unterlagen den durch die Rechtsprechung entwickelten Anforderungen (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) gerecht wird. Der kantonale Entscheid lässt sich daher nicht beanstanden. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist abzuweisen. 
5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der vom 1. Juli bis 31. Dezember 2006 gültig gewesenen Fassung). Der nicht anwaltlich oder (deklariertermassen) juristisch vertretene Beschwerdegegner hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet. 
3. 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Luzern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 31. Mai 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: