Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_149/2022  
 
 
Urteil vom 31. Mai 2022  
 
II. sozialrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, nebenamtliche Bundesrichterin Bechaalany, 
Gerichtsschreiberin N. Möckli. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Graubünden, AHV-Ausgleichskasse, Ottostrasse 24, 7000 Chur, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 1. Dezember 2021 (S 20 108). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
 
A.a. Dem 1956 geborenen A.________ sprach die IV-Stelle des Kantons Graubünden ab 1. Mai 2016 eine halbe Rente zu und die AHV-Ausgleichskasse richtete ihm ab 1. Mai 2016 Ergänzungsleistungen aus.  
 
A.b. Nachdem die AHV-Ausgleichskasse den Versicherten im Frühjahr 2017 aufgefordert hatte, seinen ausländischen Rentenanspruch abzuklären, sprach ihm die Deutsche Rentenversicherung mit Verfügung vom 3. Februar 2020 ab 1. November 2015 eine Rente zu. In der Folge berechnete die Verwaltung den monatlichen Ergänzungsleistungsanspruch neu und forderte von A.________ betreffend den Zeitraum vom 1. Mai 2016 bis 29. Februar 2020 eine Rückzahlung von Fr. 13'886.- (Verfügung vom 28. Februar 2020). Im Einspracheentscheid vom 14. Juli 2020 reduzierte die AHV-Ausgleichskasse den Rückerstattungsbetrag auf Fr. 13'247.80. Dabei lehnte sie unter anderem ab, Mehrkosten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie mit der Rückforderung zu verrechnen. Ferner erklärte die Verwaltung gleichentags, dass sie eine von ihr geschuldete Nachzahlung von Fr. 687.- mit der Rückerstattungsforderung verrechne.  
 
B.  
Die vom Versicherten erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden ab, soweit es darauf eintrat (Urteil vom 1. Dezember 2021). 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Mit dieser ersucht er um aufschiebende Wirkung des Rechtsmittels. Ferner stellt er verschiedene Feststellungsbegehren und fordert sinngemäss, im Umfang von Fr. 7780.94 sei von einer Rückerstattung abzusehen. 
Mit Eingabe vom 1. April 2022 (Postaufgabe) reicht A.________ ein Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ein. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer stellt verschiedene Feststellungsbegehren. Wie sich aus der Begründung ergibt, bestreitet er damit die Höhe der geschuldeten Rückforderung. Den Feststellungsbegehren kommt daher keine selbstständige Bedeutung im Vergleich zu seinen anderen Anträgen zu, weshalb kein schutzwürdiges Interesse an den beantragten Feststellungen besteht (BGE 132 V 18 E. 2.1). Auf die Feststellungsbegehren ist nicht einzutreten. 
 
2.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann namentlich die Verletzung von Bundes- und Völkerrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a und b BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG) grundsätzlich nur die geltend gemachten Rechtswidrigkeiten, sofern allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Die Verletzung von Grundrechten prüft es nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde präzise vorgebracht und begründet worden ist; es gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 147 I 73 E. 2.1 f. mit Hinweisen). 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat die massgebenden Bestimmungen (in ihrer bis am 31. Dezember 2020 geltenden und hier anwendbaren Fassung; BGE 144 V 210 E. 4.3.1 mit Hinweisen) und Grundsätze über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen (Art. 2 Abs. 1 ELG), die Unterscheidung zwischen der Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten (Art. 3 Abs. 1 lit. b ELG) und der jährlichen Ergänzungsleistung (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG) sowie den bei der jährlichen Ergänzungsleistung zu berücksichtigenden anerkannten Ausgaben, welche in Art. 10 ELG geregelt sind, zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der vorinstanzlichen Ausführungen zur Rückerstattung unrechtmässig bezogener Ergänzungsleistungen und zum Erlass der Rückforderung (Art. 25 Abs. 1 ATSG). Darauf wird verwiesen. 
 
4.  
 
4.1. Die Vorinstanz stellte mit Blick auf die Rentennachzahlung der Deutschen Rentenversicherung insbesondere fest, dass der Beschwerdeführer Ergänzungsleistungen von Fr. 13'244.- unrechtmässig bezogen und diese mangels guten Glaubens zurückzuerstatten habe. Die geltend gemachten Mehrkosten im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie liess das kantonale Gericht nicht zur Verrechnung zu. Es erwog, dass deren Vergütung unter dem Titel Krankheits- und Behinderungskosten nach Art. 14 ELG nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens sei und diese Kosten keine anerkannten Ausgaben im Sinne von Art. 10 ELG darstellten. Ferner sei aufgrund der pauschalen und unsubstanziierten Rügen keine Verletzung von Grundrechten auszumachen.  
 
4.2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 25 ATSG und beanstandet unter verschiedenen Gesichtspunkten, dass die infolge der ausserordentlichen Lage der Corona-Pandemie besonderen Mehrkosten bei der jährlichen Ergänzungsleistung nicht berücksichtigt wurden.  
 
5.  
Zunächst ist zu prüfen, ob das angefochtene Urteil Art. 25 ATSG verletzt. Der Beschwerdeführer begründet dies damit, dass mit der Rückforderung, die mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie zusammengefallen sei, ein besonderer Härtefall bestanden habe. Bei dieser Gefährdungslage sei der Verbrauch der nachbezahlten deutschen Renten in gutem Glauben erfolgt. Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden, beruht sie doch auf einem falschen Verständnis der Voraussetzung des guten Glaubens gemäss Art. 25 ATSG (zu dieser Erlassvoraussetzung: vgl. BGE 138 V 218 E. 4). Wie die Vorinstanz aufzeigte und in der Beschwerde auch eingeräumt wird, wusste der Beschwerdeführer, dass er die bezogenen Ergänzungsleistungen im Umfang einer allfälligen Nachzahlung der Deutschen Rentenversicherung zurückzuerstatten hat. Der Beschwerdeführer ist somit nicht als gutgläubig zu qualifizieren, wenn er in der Folge die erhaltenen Rentennachzahlungen ohne Rücksprache mit der Beschwerdegegnerin anders verwendete. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer sich und seine Familie aufgrund der Corona-Pandemie in einer schwierigen Lage beurteilte und den Einsatz der erhaltenen Rentennachzahlung zum Schutz vor der Pandemie für gerechtfertigt erachtete, führt daher nicht zum Erlass der Rückerstattungsschuld. 
 
6.  
Im einem nächsten Schritt ist zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, indem sie einen Ergänzungsleistungsanspruch auf die Pandemie bedingten Mehrkosten des Beschwerdeführers verneinte und nicht zur Verrechnung zuliess. 
 
6.1. Entgegen dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist die Aufzählung der anzuerkennen Ausgaben betreffend die jährliche Ergänzungsleistung in Art. 10 ELG abschliessend geregelt (BGE 147 V 441 E. 3.3). Durch die Pandemie bedingte Mehrkosten können somit bei der Festlegung der jährlichen Ergänzungsleistung nur insoweit berücksichtigt werden, als sich diese Ausgaben unter Art. 10 ELG subsumieren lassen. Die vorinstanzliche Erwägung, die amtlichen Durchführungsstellen könnten von klaren gesetzlichen Vorgaben nicht abweichen, ist somit nicht zu beanstanden. Mit Blick darauf kann der Beschwerdeführer aus dem Vorwort der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen (WEL) nichts zu seinen Gunsten ableiten, wonach bei den Anwendern der WEL der gesunde Menschenverstand gefragt sei.  
 
6.2. Der Beschwerdeführer beruft sich auf Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG. Die Vorinstanz lehnte mangels einer rechtlichen Pflicht zur Unterhaltsleistung ab, die vom Beschwerdeführer geleistete finanzielle Unterstützung an seine Familie als Ausgaben anzuerkennen. Dies verletzt angesichts der nicht gerügten vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellung zur fehlenden rechtlichen Unterhaltspflicht kein Bundesrecht, setzt doch die Berücksichtigung einer Ausgabe als familienrechtliche Unterhaltszahlung im Sinne von Art. 10 Abs. 3 lit. e ELG voraus, dass sie richterlich, behördlich oder vertraglich festgesetzt und betraglich konkretisiert worden ist (BGE 147 V 441 E. 3.3.1). Entsprechend kann der vorinstanzlichen Erwägung 6.3.4 zur Nichtanwendung der Regel von Rz. 3272.01 WEL gefolgt werden.  
 
6.3. Der Einwand des Beschwerdeführers ist berechtigt, dass im vorinstanzlichen Verfahren der Untersuchungsgrundsatz gilt und entgegen dem vorinstanzlichen Urteil hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten keine erhöhten Begründungsanforderungen bestehen (vgl. Art. 61 lit. b und c ATSG). Einer Beschwerde führenden Person obliegt jedoch im kantonalen Verfahren gleichwohl eine Begründungs- und Substanziierungspflicht, auch wenn an die Begründung einer Beschwerde keine allzu strengen Anforderungen zu stellen sind (vgl. Urteil 9C_278/2021 vom 8. September 2021 E. 4.6; SUSANNE BOLLINGER, in: Basler Kommentar, Allgemeiner Teil des Sozialversicherungsrechts, 2020, N. 25 und 37 zu Art. 61 ATSG). Mit Blick darauf schadet vorliegend nicht, dass die Vorinstanz von falschen Anforderungen hinsichtlich der Beschwerdebegründung ausgegangen ist. Denn sie hat trotzdem jede einzelne Einwendung des Beschwerdeführers untersucht und nachvollziehbar dargelegt, weshalb damit eine Verletzung der massgeblichen Bestimmungen der Verfassung und des Ergänzungsleistungsrechts nicht vorliegt. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers musste das kantonale Gericht keine weitergehende Prüfung vornehmen, denn es hat den angefochtenen Einspracheentscheid nicht losgelöst, der geltend gemachten Vorbringen unter schlechthin aller in Frage kommenden Aspekte zu prüfen (BGE 110 V 48 E. 4a).  
 
6.4. Der Vorwurf des Beschwerdeführers eines Verstosses gegen Treu und Glauben, da er in der Verfügung vom 28. Februar 2020 über einen allfälligen sozialhilferechtlichen Anspruch mangelhaft aufgeklärt worden sei, ist unbehelflich. Er übersieht damit, dass sich die Informationspflicht der Beschwerdegegnerin nur auf damals in Frage kommende und nicht auch auf mögliche zukünftige Ansprüche richtete (Urteil 9C_894/2008 vom 18. Dezember 2008 E. 6). Die Beschwerdegegnerin hatte am 28. Februar 2020 keinen Anlass den Beschwerdeführer auf einen allfälligen Sozialhilfeanspruch hinzuweisen, nachdem dieser die Corona bedingten Mehrkosten erst im Einspracheverfahren geltend machte.  
 
6.5. Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Verletzung von verfassungsmässigen Rechten zielt schliesslich zum Vornherein ins Leere, soweit er damit für das Bundesgericht und andere rechtsanwendene Behörden verbindliche Gesetzesbestimmung rügt (vgl. Art. 190 BV). Daher sind entgegen den Ausführungen in der Beschwerde die im Zusammenhang mit der Pandemie angefallenen Ausgaben nicht beim allgemeinen Lebensbedarf unter dem Titel von Art. 10 Abs. 1 lit. a ELG anrechenbar, bemisst sich dieser doch nach fixen Beträgen (vgl. BGE 142 V 402 E. 5.2).  
 
6.6. Der Beschwerdeführer beanstandet weiter, dass spezifische Regelungen betreffend die Bewältigung der Corona-Pandemie fehlten und er als vulnerable Person dadurch vom Staat allein gelassen worden sei. Dies mag für den Beschwerdeführer zwar unverständlich erscheinen und es kann auch nachvollzogen werden, dass dies für ihn eine schwierige Situation war. Eine Grundrechtsverletzung und ein darauf beruhender EL-Anspruch ist damit aber nicht hinreichend substanziiert (vgl. E. 2 hiervor; vgl. zur Funktion der Grundrechte: BGE 147 V 312 E. 6.3.1 mit Hinweisen). Darauf ist deshalb nicht weiter einzugehen.  
 
7.  
Nach dem Dargelegten ist mit der Beschwerde eine Verletzung von Bundesrecht hinsichtlich der festgestellten Rückerstattungsschuld und der nicht zur Verrechnung zugelassenen Ausgaben nicht dargetan. Die Beschwerde ist abzuweisen. 
 
8.  
Mit dem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos. 
 
9.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer grundsätzlich die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie dazu später in der Lage ist. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.  
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt. 
 
3.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Bundesgerichtskasse genommen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 31. Mai 2022 
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Die Gerichtsschreiberin: Möckli