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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_211/2024  
 
 
Urteil vom 31. Mai 2024  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichterin Koch, Bundesrichter Hurni, 
Gerichtsschreiberin Sauthier. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Obergericht des Kantons Bern, 
1. Strafkammer, 
Hochschulstrasse 17, 3012 Bern. 
 
Gegenstand 
Rechtsverzögerung, 
 
Beschwerde wegen Rechtsverzögerung des Obergerichts des Kantons Bern, 1. Strafkammer, 
(SK 22 540). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Mit Urteil vom 17. Mai 2022 sprach das Regionalgericht Jura-Seeland A.________ der versuchten vorsätzlichen Tötung, der mehrfachen versuchten Nötigung, der Sachbeschädigung, des Hausfriedensbruchs und der Beschimpfung schuldig und verurteilte ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von siebeneinhalb Jahren, zu einer unbedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen à Fr. 30.-- und zu einer Landesverweisung von 10 Jahren. 
 
B.  
Dieses Urteil focht A.________ beim Obergericht des Kantons Bern mit Berufung an. Am 25. Juli 2023 führte das Obergericht die Hauptverhandlung durch. 
 
C.  
Mit Eingabe vom 19. Februar 2024 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht wegen Rechtsverzögerung, da das Obergericht im Berufungsverfahren trotz bereits durchgeführter Berufungsverhandlung am 25. Juli 2023 auch sieben Monate danach die schriftliche Begründung des Urteils noch nicht verschickt habe. Er beantragt, es sei eine Verletzung des Beschleunigungsgebots durch das Obergericht festzustellen und er sei unverzüglich aus der Haft zu entlassen. Das Obergericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Gegen das unrechtmässige Verweigern oder Verzögern eines anfechtbaren Entscheids kann Beschwerde an das Bundesgericht geführt werden (Art. 94 BGG). Der Beschwerdeführer macht eine Verzögerung des strafprozessualen Berufungsverfahrens (Art. 398 ff. StPO) bzw. eine Verletzung von Art. 84 Abs. 4 StPO geltend. Die Beschwerde in Strafsachen ist deshalb das zutreffende Rechtsmittel (Art. 78 ff. BGG). Beim Obergericht handelt es sich um eine letzte kantonale Instanz im Sinne von Art. 80 Abs. 1 BGG. Der Beschwerdeführer ist als Beschuldigter zur Beschwerde an das Bundesgericht grundsätzlich berechtigt.  
 
1.2.  
 
1.2.1. Die beschwerdeführende Partei muss ein aktuelles praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde haben (vgl. Art. 81 Abs. 1 lit. b BGG). Der Beschwerdeführer macht geltend, dass die Vorinstanz ihm die schriftliche Begründung des Urteils vom 25. Juli 2023 - entgegen Art. 84 Abs. 4 StPO - nicht rechtzeitig zugestellt habe. Zwischenzeitlich hat die Vorinstanz das schriftlich begründete Berufungsurteil am 3. Mai 2024 jedoch eröffnet. Damit ist das aktuelle Rechtsschutzinteresse an der Rechtsverzögerungsbeschwerde dahingefallen (vgl. BGE 125 V 373 E. 1; Urteil 7B_60/2023 vom 13. März 2024 E. 1.2.1; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer könnte die behauptete Rechtsverzögerung nunmehr direkt mit Beschwerde in Strafsachen gegen das Urteil der Vorinstanz vom 25. Juli 2023 geltend machen, um unter anderem eine etwaige Strafreduktion zu erreichen.  
 
1.2.2. Das Bundesgericht behandelt indes eine Beschwerde wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung auch bei fehlendem aktuellen Interesse, wenn die beschwerdeführende Partei hinreichend substanziiert und in vertretbarer Weise eine Verletzung der EMRK behauptet ("grief défendable"). Mit der Behandlung der Beschwerde kann zudem Art. 13 EMRK in jedem Fall Genüge getan werden (BGE 137 I 296 E. 4; 136 I 274 E. 1.3; Urteil 1B_264/2021 vom 19. August 2021 E. 1.2; je mit Hinweisen). Der im vorliegenden Verfahren nicht anwaltlich vertretene und sich in Haft befindende Beschwerdeführer macht neben dem in Art. 6 Ziff. 1 EMRK garantierten Beschleunigungsgebot auch eine Einschränkung seines Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK) geltend, weshalb es sich vorliegend rechtfertigt, auf die Beschwerde einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Das sich aus Art. 29 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 1 EMRK und Art. 5 StPO ergebende Beschleunigungsgebot verpflichtet die Behörden, das Strafverfahren zügig voranzutreiben (BGE 143 IV 49 E. 1.8.2 mit Hinweisen). Welche Verfahrensdauer angemessen ist, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Massgeblich sind insoweit namentlich die Schwere des Tatvorwurfs und die Komplexität des Sachverhalts (BGE 143 IV 373 E. 1.3.1; 130 I 269 E. 3.1; je mit Hinweisen). Zu beachten ist insbesondere auch, dass das Strafverfahren vordringlich durchzuführen ist, wenn sich die beschuldigte Person - wie vorliegend - in Haft befindet (Art. 5 Abs. 2 StPO). Diese Vorgaben sind für die Behörden der Strafverfolgung (Art. 12 und 15 ff. StPO) und die Gerichte (Art. 13 und 18 ff. StPO) gleichermassen verbindlich (Urteil 1B_175/2018 vom 9. Mai 2018 E. 2.3).  
 
2.2. Die Rügen des Beschwerdeführers erweisen sich als begründet. Soweit es sich aus den Vorbringen des Beschwerdeführers und den Akten ergibt, fand die Berufungsverhandlung am 25. Juli 2023 statt. Unter Berücksichtigung der schwerwiegenden Tatvorwürfe (insb. der versuchten vorsätzlichen Tötung) und der Vielzahl an zu beurteilenden Sachverhaltskomplexen mag es sich zwar um ein aufwändiges Berufungsverfahren handeln. Das Gericht hat ein Urteil gemäss Art. 84 Abs. 4 StPO jedoch innert 60 Tagen, ausnahmsweise 90 Tagen, zu begründen. In Anbetracht dieser Tatsache ist es mit dem Beschleunigungsgebot nicht vereinbar, wenn die Vorinstanz die schriftliche Begründung des Urteils vom 25. Juli 2023 dem Beschwerdeführer erst mehr als neun Monate nach der Ausfällung zustellte. Dies gilt umso mehr, als sich der Beschwerdeführer - soweit ersichtlich - seit dem 9. Januar 2021 ununterbrochen in Haft bzw. im vorzeitigen Strafvollzug befindet und das Verfahren deshalb gestützt auf Art. 5 Abs. 2 StPO besonders vordringlich behandelt werden muss. Die seit der Hauptverhandlung verstrichene Zeitspanne erweist sich selbst unter Berücksichtigung der Komplexität der Sache mit dem Beschleunigungsgebot nicht vereinbar (vgl. Urteil 1B_82/2021 vom 9. September 2021 E. 2.4, wo eine Verletzung des Beschleunigungsgebot nach sieben Monaten festgestellt wurde).  
 
3.  
 
3.1. Damit steht fest, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat. Soweit der Beschwerdeführer jedoch daraus ableitet, dass er unverzüglich aus der Haft zu entlassen sei, da die Weiterführung der Haft unter diesen Umständen nicht mehr zumutbar sei, kann ihm nicht gefolgt werden. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots führt gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur dann zu einer Haftentlassung, wenn sie derart gravierend ist, dass deshalb die Rechtmässigkeit der Haft zu verneinen ist (vgl. Urteil 7B_984/2023 vom 8. Januar 2024 E. 3.1.2 mit Hinweisen). Dies trifft vorliegend nicht zu. Insofern ist die Beschwerde abzuweisen.  
 
3.2. Soweit der Beschwerdeführer überdies Ausführungen zum gewünschten Wechsel um amtliche Verteidigung macht, ist auf die Beschwerde nicht einzutreten. Bereits am 27. November 2023 bzw. 8. Dezember 2023 hat der Beschwerdeführer in diesem Zusammenhang Beschwerde an das Bundesgericht erhoben und den Wechsel seiner amtlichen Verteidigung beantragt. Das Bundesgericht ist auf die Beschwerde mit Urteil vom 22. Januar 2024 nicht eingetreten (7B_930/2023). Darauf kann verwiesen werden.  
 
4.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde insoweit gutzuheissen, als im Dispositiv festzuhalten ist, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat (siehe BGE 137 IV 118 E. 2.2 mit Hinweisen). Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens rechtfertigt es sich, keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der nicht anwaltlich vertretene Beschwerdeführer hat keinen Anspruch auf eine Entschädigung (Art. 68 BGG; BGE 133 III 439 E. 4). Sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gegenstandslos. 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird insoweit gutgeheissen, als festgestellt wird, dass das Obergericht des Kantons Bern das Beschleunigungsgebot verletzt hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen, soweit darauf eingetreten wird. 
 
2.  
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
 
3.  
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Obergericht des Kantons Bern, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 31. Mai 2024 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Die Gerichtsschreiberin: Sauthier