Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_97/2024  
 
 
Urteil vom 31. Oktober 2024  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterin Moser-Szeless, Bundesrichter Beusch, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.A.________, 
vertreten durch Advokatin Raffaella Biaggi, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse für das 
schweizerische Bankgewerbe, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts Basel- Landschaft vom 26. Oktober 2023 (710 23 112 / 245). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1961 geborene A.A.________ ist Vater einer Tochter (B.A.________, geboren am 14. Februar 1998) und eines Sohnes (C.A.________, geboren am 29. März 2000). Nachdem seine Ehefrau D.A.________ am 15. Mai 2020 verstorben war, beantragte A.A.________ am 17. Oktober 2022 unter Hinweis auf das Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz der Grossen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 11. Oktober 2022 (nachfolgend: Urteil 78630/12) eine Witwerrente der AHV mit Wirkung ab 11. Oktober 2022. Mit Verfügung vom 7. Dezember 2022 wies die Ausgleichskasse für das schweizerische Bankgewerbe (nachfolgend: Ausgleichskasse) das Gesuch ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 28. März 2023 fest.  
 
B.  
Die von A.A.________ gegen den Einspracheentscheid vom 28. März 2023 erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Urteil vom 26. Oktober 2023 ab. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.A.________, es sei das Urteil des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 26. Oktober 2023 aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zur neuen Beurteilung zurückzuweisen; eventualiter sei das Beschwerdeverfahren bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung beziehungsweise bis zum Inkrafttreten der Übergangsbestimmungen zu sistieren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten ist ein reformatorisches Rechtsmittel (Art. 107 Abs. 2 BGG). Rein kassatorische Begehren sind mithin an sich unzulässig, es sei denn, wenn sich aus der (zur Interpretation des Rechtsbegehrens beizuziehenden) Begründung ergibt, was mit der Beschwerde angestrebt wird (vgl. in BGE 150 V 281 nicht veröffentlichte E. 2.2 des Urteils 9C_169/2023 vom 29. Mai 2024 mit Hinweisen) Derlei ist hier der Fall.  
 
1.2. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, indem es den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Witwerrente der AHV verneinte. 
 
2.1. Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente haben Witwen oder Witwer, sofern sie im Zeitpunkt der Verwitwung Kinder haben. Der Anspruch erlischt mit der Wiederverheiratung, dem Tod der Witwe oder des Witwers und - im Fall von Witwern, nicht aber von Witwen - wenn das letzte Kind das 18. Altersjahr vollendet hat (Art. 23 Abs. 1 und Abs. 4, Art. 24 Abs. 2 AHVG).  
 
2.2. Mit Urteil 78630/12 entschied die Grosse Kammer des EGMR, dass durch Art. 24 Abs. 2 AHVG Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente - anders als jene von Witwen - mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Sie stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest.  
Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung ist daher zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustands in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch die Urteile 9C_644/2023 vom 10. Juni 2024 E. 3.2.2, 9C_491/2023 vom 3. April 2024 E. 2.2, 9C_281/2022 vom 28. Juni 2023 E. 3 und 9C_481/2021 E. 2.1 f.). 
 
2.2.1. Das erkannte auch das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in seinen Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen. Diese sehen für folgende Personen eine Übergangsregelung vor: (1) Witwer mit minderjährigen Kindern, deren Rente zum Zeitpunkt des rechtskräftigen Urteils 78630/12 (11. Oktober 2022) bereits ausbezahlt wird. Darunter fallen auch die Fälle, für welche die Anmeldung nach dem 11. Oktober 2022 eingereicht wird. Für den Anspruch auf eine Witwerrente über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus, ist massgebend, dass das Kind am 11. Oktober 2022 das 18. Altersjahr noch nicht vollendet hatte. (2) Nicht geschiedene Ehemänner mit Kindern, die nach dem 11. Oktober 2022 verwitwen, d.h. deren Leistungsanspruch infolge eines Todesfalls entsteht, der nach diesem Datum eintritt. Massgebend ist, dass der Witwer im Zeitpunkt der Verwitwung eines oder mehrere Kinder hat; das Alter des Kindes ist (wie bei Witwen) unerheblich. (3) Witwer mit Kindern, die die Rentenaufhebungsverfügung angefochten haben und deren Fall am 11. Oktober 2022 hängig ist. (4) Männer, deren Anspruch auf eine Witwerrente gestützt auf Art. 23 Abs. 5 AHVG wiederauflebt, sofern das jüngste Kind, welches Anspruch auf die Witwerrente gab, am 11. Oktober 2022 das 18. Altersjahr noch nicht vollendet hat.  
Für diese Personen werden die Witwerrenten gemäss Artikel 23 AHVG gewährt und über das 18. Altersjahr des Kindes hinaus ausbezahlt. Die Leistungen sind also nicht mehr zeitlich befristet und erlöschen nur bei Tod, Wiederverheiratung oder Entstehung des Anspruchs auf eine höhere AHV-Altersrente bzw. IV-Rente. 
 
3.  
Das kantonale Gericht hat im Wesentlichen erwogen, es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer nach geltenden gesetzlichen Bestimmungen keinen Anspruch auf eine Witwerrente habe. Da ihm im Zeitpunkt des EGMR-Urteils 78630/12 keine Witwerrente ausbezahlt worden sei, sein jüngstes Kind am 11. Oktober 2022 zudem das 18. Altersjahr bereits vollendet habe und seine Ehefrau bereits vor diesem Zeitpunkt verstorben sei, bestehe auch gestützt auf die vom BSV erlassenen Übergangsbestimmungen kein Anspruch auf eine Witwerrente. Abweichend vom Sachverhalt, wie er dem Urteil 78630/12 zugrunde liege, habe denn die Verweigerung der Witwerrente beim Beschwerdeführer faktisch auch kaum Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens gehabt. Folglich habe der vorliegende Fall wohl eine Verletzung von Art. 14 EMRK zur Folge, falle aber nicht in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK. Den vom Beschwerdeführer gestellten Antrag auf Sistierung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung betreffend die Witwen- und Witwerrente wies das kantonale Gericht unter anderem mit Hinweis auf den Verfahrensgrundsatz der Beurteilung innert angemessener Frist ab. 
 
4.  
Was der Beschwerdeführer dagegen vorbringt, verfängt nicht: 
 
4.1. Das kantonale Gericht hat zutreffend erkannt, dass das Diskriminierungsverbot nach Art. 14 EMRK akzessorischen Charakter hat (vgl. BGE 148 I 160 E. 8.1; 144 I 340 E. 3.5; 143 V 114 E. 5.3.2.2; Urteil 78630/12 §§ 47 f.) und folglich eine Diskriminierung allein den umstrittenen Anspruch auf eine Witwerrente nicht zu begründen vermag. Ein solcher fällt nur in Betracht, wenn das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäss Art. 8 EMRK betroffen ist.  
 
4.1.1. Es ist mit dem Beschwerdeführer festzuhalten, dass der Begriff des "Familienlebens" nach Art. 8 EMRK gemäss Urteilsbegründung des EGMR nicht nur soziale, moralische oder kulturelle, sondern auch materielle Interessen umfasst (§§ 44 und 59 des Urteils 78630/12). Richtig ist auch sein Einwand, der Anwendungsbereich von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK könne nach Auffassung des EGMR umfassender sein als jener von Art. 8 EMRK allein (§ 61 f. des Urteils 78630/12). Daraus sowie aus dem generellen Hinweis auf mögliche finanzielle Belastungen beim Versterben eines Elternteils vermag der Beschwerdeführer indessen nichts zu seinen Gunsten abzuleiten. So hat wohl jede Geldleistung regelmässig gewisse Auswirkungen auf die Gestaltung des Familienlebens. Dennoch führt - wie das Bundesgericht (vgl. Urteil 9C_491/2023 vom 3. April 2023 E. 4.3.2) und der EGMR (§ 72 EGMR-Urteil 78630/12) unlängst klar festgehalten haben - nicht jede wirtschaftliche Einbusse zur Bejahung des Anwendungsbereichs von Art. 8 EMRK. Damit Art. 14 EMRK zum Tragen kommen kann, ist erforderlich, dass die umstrittene Leistung auf die Förderung des Familienlebens abzielt und sich notwendigerweise auf dessen Organisation auswirkt. Dazu sind insbesondere folgende Elemente in ihrer Gesamtheit massgebend: der Zweck der Leistung, die gesetzlichen Bedingungen für deren Gewährung (sowie Berechnung und Beendigung), die vom Gesetzgeber beabsichtigten Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens sowie die tatsächlichen Auswirkungen der Leistung im Einzelfall für den Beschwerdeführer und sein Familienleben (erwähntes Urteil 9C_491/2023 E. 4.3.2).  
 
4.1.2. Der EGMR hatte im Urteil 78630/12 geschlossen, die Rüge des Herrn Beeler falle in den Anwendungsbereich von Art. 8 EMRK. Inwiefern die Situation des Beschwerdeführers mit derjenigen von Herrn Beeler vergleichbar sein soll, erhellt nicht: Letzterer war im Zeitpunkt des Todes seiner Ehefrau rund 41 Jahre alt und hatte zwei Kleinkinder im Alter von vier und knapp zwei Jahren zu betreuen. Der Konnex zwischen der Auszahlung seiner Witwerrente und der Organisation des Familienlebens hatte gemäss EGMR vorgelegen, weil die Witwerrente es Herrn Beeler ermöglicht hatte, seine Erwerbstätigkeit aufzugeben, um sich vollzeitlich der Kinderbetreuung zu widmen. Demgegenüber war der Beschwerdeführer im Zeitpunkt der Verwitwung 59 Jahre alt und waren seine beiden Kinder bereits volljährig. Es ist weder ersichtlich noch geltend gemacht, dass beziehungsweise inwiefern für ihn je eine Notwendigkeit bestanden hätte, seine Erwerbstätigkeit zwecks Betreuung seiner Kinder zu reduzieren oder gar aufzugeben. Der Beschwerdeführer verzichtet denn auch generell auf jegliche Ausführungen, inwiefern sich die umstrittene Leistung (anderweitig) konkret auf die Organisation seines Familienlebens ausgewirkt haben soll. Darauf, dass in diesem Zusammenhang der vom Beschwerdeführer geäusserte pauschale Hinweis auf mögliche finanzielle Belastungen beim Versterben eines Elternteils ungenügend ist, wurde bereits hingewiesen. Es ist damit weder ersichtlich noch rechtsgenüglich dargetan, dass die Verweigerung der Witwerrente im dargelegten Sinne Auswirkungen auf die Organisation des Familienlebens gehabt hätte. Der Schutzbereich von Art. 8 EMRK ist nicht tangiert. Es gilt denn auch darauf hinzuweisen, dass Herr Beeler seinerzeit eine Witwerrente bezogen hatte und Gegenstand des Urteils 78630/12 insbesondere die Auswirkungen von deren Wegfall waren. Im Gegensatz dazu kam der Beschwerdeführer im vorliegenden Fall gar nie in den Genuss einer Witwerrente (vgl. dazu auch erwähntes Urteil 9C_491/2023 E. 4.3.2).  
 
4.2. Der Beschwerdeführer beantragt wie bereits vor Vorinstanz eine Sistierung des Verfahrens bis zum Inkrafttreten einer neuen gesetzlichen Regelung bzw. bis zum Inkrafttreten der Übergangsbestimmungen. Es fehlt indessen eine Auseinandersetzung mit den diesbezüglich massgeblichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid, wonach eine Sistierung aufgrund des Verfahrensgrundsatzes der Beurteilung innert angemessener Frist nur ausnahmsweise zulässig und im vorliegenden Fall mit Blick auf die inhaltlichen und zeitlichen Ungewissheiten nicht angebracht sei. Die stattdessen vom Beschwerdeführer vorgebrachten allgemeinen Ausführungen zum Grundsatz der zulässigen unechten Rückwirkung von neuem - hier gar noch nicht bestehendem - Recht auf zeitlich offene Dauersachverhalte (vgl. dazu BGE 146 V 364 E. 7.1) zielen ebenso an der Sache vorbei wie die Äusserungen dazu, wie eine revidierte gleichstellende AHV-Gesetzgebung seiner Ansicht nach dereinst auszusehen habe.  
 
4.3. Nach dem Gesagten hat die Vorinstanz im Zusammenhang mit der Verweigerung der Witwerrente im konkreten Fall zu Recht eine Verletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 8 EMRK verneint.  
 
5.  
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdeführer die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 31. Oktober 2024 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner