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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
1C_370/2016  
   
   
 
 
 
Urteil vom 1. Mai 2017  
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Merkli, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Fonjallaz, 
Gerichtsschreiber Gelzer. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Stadt Chur, Rathaus, 7000 Chur, 
Beschwerdeführerin, 
handelnd durch den Stadtrat Chur, Rathaus, Poststrasse 33, Postfach 810, 7002 Chur, 
 
gegen  
 
1. A.B.________ und B. B.________, 
2. C.D.________ und D. D.________, 
Beschwerdegegner, 
alle vertreten durch Rechtsanwältin Caterina Ventrici. 
 
Gegenstand 
Baulinie (Revers), 
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 3. Mai 2016 
des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden, 5. Kammer. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.   
A.B.________ und B.B.________ (Bauherrschaft 1) sind Eigentümer der Baurechtsparzelle 12468 und C.D.________ und D.D.________ (Bauherrschaft 2) sind Eigentümer der Baurechtsparzelle 12469 des Quartierplans Tellostrasse, der mit Beschluss vom 5. November 2013 vom Stadtrat Chur genehmigt wurde. 
Die Bauherrschaften ersuchten am 11. Juli 2014 bzw. am 15. August 2014 die Stadt Chur darum, auf ihren jeweiligen Baurechtsparzellen in der Wohnzone 1je die Errichtung eines Einfamilienhauses zu bewilligen. Der Stadtrat Chur erteilte den Bauherrschaften am 19. September 2014 bzw. am 7. Oktober 2014 die verlangten Baubewilligungen unter Bedingungen und Auflagen. Die bewilligten Baupläne sahen gemäss den zwingenden Bestimmungen des Quartierplans Tellostrasse vor, dass die nordseitigen Begrenzungsmauern, die Einfriedungen und die Umgebungsmauern sowie der Zugang und die Zufahrt im Erschliessungs- und Parkierbereich im Baulinienbereich erstellt werden. Zudem wurden in diesem Bereich auf dem Grundstück der Bauherrschaft 1 ein rollstuhlgängiger Weg und auf dem Grundstück der Bauherrschaft 2 Erdwärmesonden bewilligt. Die Bewilligungen für die Bauten im Baulinienbereich wurden nicht von der Unterzeichnung eines Reverses abhängig gemacht. 
Dennoch stellte die Stadt Chur den Bauherrschaften am 25. November 2014 je einen Entwurf eines Reverses zu, der im Wesentlichen vorsah, dass die vor der Baulinie der Tellostrasse errichteten Bauteile auf erstes Verlangen des Stadtrates ohne Entschädigungsanspruch zu entfernen, zu versetzen oder abzuändern seien, sofern sie einem weiteren Ausbau der Tellostrasse hinderlich seien. 
Mit Schreiben vom 20. April 2015 teilten die Bauherrschaften der Stadt Chur mit, sie würden die Reverse nicht unterzeichnen, weil ein Zurückkommen auf die ohne Revers erteilten Baubewilligungen unzulässig sei. Daraufhin verfügte der Stadtrat der Stadt Chur mit separaten Beschlüssen vom 28. April 2015 gegenüber den Bauherrschaften zu den jeweiligen Bauentscheiden Reverse, die im Wesentlichen bestimmten, dass vor der rechtsgültigen Baulinie Tellostrasse das Erstellen einer nordseitigen Begrenzungsmauer, eines rollstuhlgängigen Weges (nur Bauherrschaft 1) bzw. Erdwärmesonden (nur Bauherrschaft 2) sowie des Zugangs und der Zufahrt im Erschliessungs- und Parkierungsbereich nur unter der Bedingung gestattet werde, dass diese Bauten auf erstes Verlangen des Stadtrats zu entfernen, zu versetzen oder abzuändern seien, sofern sie einem weiteren Ausbau der Tellostasse hinderlich seien. 
In Gutheissung einer dagegen erhobenen Beschwerde der Bauherrschaften hob das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden mit Urteil vom 3. Mai 2016 die Beschlüsse des Stadtrats vom 28. April 2015 auf. 
 
B.   
Die Stadt Chur (Beschwerdeführerin) erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Anträgen, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 3. Mai 2016 sei aufzuheben. Eventuell sei die Streitsache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Das Verwaltungsgericht und die Bauherrschaften (Beschwerdegegner) beantragen, die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid auf dem Gebiet des Raumplanungs- und Baurechts. Gegen diesen Entscheid steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich offen (BGE 133 II 353 E. 2 S. 356).  
 
1.2. Die Beschwerdeführerin ist als Baubewilligungsbehörde durch den angefochtenen Entscheid als Trägerin hoheitlicher Gewalt bezüglich der Festlegung bzw. Durchsetzung von Baulinien berührt. Sie ist daher befugt, mit Beschwerde eine Verletzung ihrer Gemeindeautonomie geltend zu machen (Art. 89 Abs. 2 lit. c BGG; Urteil 1C_646/2015 vom 8. Juni 2016 E. 1). Da auch die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen gegeben sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.  
 
2.  
 
2.1. Art. 50 Abs. 1 BV gewährleistet die Gemeindeautonomie nach Massgabe des kantonalen Rechts. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind Gemeinden in einem Sachbereich autonom, wenn das kantonale Recht diesen nicht abschliessend ordnet, sondern ihn ganz oder teilweise der Gemeinde zur Regelung überlässt und ihr dabei eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt. Der geschützte Autonomiebereich kann sich auf die Befugnis zum Erlass oder Vollzug eigener kommunaler Vorschriften im streitigen Bereich beziehen oder einen entsprechenden Spielraum bei der Anwendung kantonalen oder eidgenössischen Rechts betreffen. Im Einzelnen ergibt sich der Umfang der kommunalen Autonomie aus dem für den entsprechenden Bereich anwendbaren kantonalen Verfassungs- und Gesetzesrecht (BGE 141 I 36 E. 5.3 S. 42 f. mit Hinweisen). In Verbindung mit der Rüge der Missachtung ihrer Autonomie kann auch eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 9 BV geltend gemacht werden (BGE 136 I 265 E. 3.2 S. 272; 131 I 91 E. 3.1 S. 95).  
 
2.2. Bezüglich der Rügen der Verletzung der Gemeindeautonomie prüft das Bundesgericht die Anwendung von Bundesrecht und kantonalen verfassungsmässigen Rechten frei, diejenige von sonstigem kantonalem Verfassungsrecht jedoch nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (Art. 95 lit. a und c BGG; BGE 141 I 36 E. 5.4 S. 43 mit Hinweisen). Hinsichtlich der Verletzung von Grundrechten - einschliesslich der willkürlichen Anwendung von kantonalem Recht - gilt eine qualifizierte Rügepflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 281 f.; 136 I 229 E. 4.1 S. 235).  
 
3.   
Die Vorinstanz führte aus, gemäss der zutreffenden Annahme der Beschwerdeführerin seien die Baubewilligungen vom 16. September bzw. vom 7. Oktober 2014 weder widerrufen noch revidiert worden. Demnach sei auf die Ausführungen der Parteien zu den Voraussetzungen des Widerrufs bzw. der Revision nicht weiter einzugehen. 
Diese Erwägung wird von der Beschwerdeführerin nicht angefochten. 
 
4.  
 
4.1. Alsdann prüfte die Vorinstanz, ob die strittigen Reverse als eigenständige Entscheide rechtmässig waren. Dazu führte sie im Wesentlichen aus, gemäss den Grundsät zen des Baurechts könnten Ausnahmebewilligungen mit Bedingungen und Auflagen verbunden werden, insbesondere mit der Auflage, dass der Grundeigentümer auf erstes Verlangen der zuständigen Behörde den vorschriftsgemässen Zustand herstelle. Diese Auflage könne in die Form eines Reverses gekleidet werden, der von der Behörde und dem Grundeigentümer unterzeichnet werde. Der Revers brauche eine gesetzliche Grundlage, weil er die eingeräumte Befugnis zu einem blossen Provisorium abschwäche und damit eine öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung sei. Die Regelung des Reverses in Kanton Graubünden entspreche diesen Grundsätzen. Gemäss Art. 57 Abs. 1 des Raumplanungsgesetzes für den Kanton Graubünden vom 6. Dezember 2004 (KRG) könne die Behörde Ausnahmen von den Vorschriften über Baulinien gewähren, wenn keine überwiegenden Interessen entgegenstehen und sich die Grundeigentümer in einem Revers verpflichten, auf Verlangen der zuständigen Behörde den gesetzlichen Zustand herzustellen. Die Verpflichtung der Grundeigentümer erfolge durch die Abgabe des Versprechens, auf Verlangen der zuständigen Behörden den gesetzlichen Zustand herzustellen. Die Behörde sei jedoch gemäss Art. 57 Abs. 1 KRG nicht berechtigt, einen Revers zulasten der Grundeigentümer einseitig und hoheitlich zu verfügen, weshalb dazu im bündnerischen Recht keine gesetzliche Grundlage bestehe. Die Beschwerdeführerin habe in ihren Beschlüssen vom 28. April 2015 somit nicht einseitig Reverse verfügen dürfen, weshalb diese aus formellen Gründen aufzuheben seien. Dies gelte sowohl bezüglich der gemäss dem Quartierplan Tellostrasse zwingend im Baulinienbereich zu erstellenden Bauten, für welche die Beschwerdeführerin ohnehin keine Ausnahmebewilligung nach Art. 57 Abs. 1 KRG hätte erteilen müssen, als auch bezüglich der Bauten und Anlagen im Baulinienbereich, welche die Beschwerdegegner freiwillig vorgesehen hätten.  
 
4.2. Die Beschwerdeführerin rügt, die vorinstanzliche Auslegung von Art. 57 Abs. 1 KRG sei unhaltbar. Die Vorinstanz habe nicht beachtet, dass ein Revers eine Nebenbestimmung zu einer Baubewilligung sei, die gemäss Art. 90 Abs. 1 KRG von der Baubehörde mit der Baubewilligung verknüpft oder - wie vorliegend - in einem Nachtrag zur Bewilligung vorgesehen werden könne. Art. 90 Abs. 2 KRG, der vorsehe, dass Nebenbestimmungen mit längerer zeitlichen Wirkung oder von erheblicher Bedeutung - wie dies bei den Beseitigungsreversen der Fall sei - vor Baubeginn durch die zuständige Behörde im Grundbuch anzumerken seien, werde von der Vorinstanz nicht angewendet. Diese lasse auch den allgemein anerkannten Grundsatz ausser Acht, dass eine Gemeinde gesetzliche Verpflichtungen sofern notwendig hoheitlich mittels Verfügungen durchsetzen könne. Dementsprechend könne ein Revers als öffentlich-rechtliche Eigentumsbeschränkung nicht nur einseitig vom Stadtrat verfügt, sondern gemäss Art. 90 Abs. 2 KRG auch einseitig im Grundbuch angemerkt werden.  
 
4.3. Gemäss Art. 55 Abs. 2 KRG bestimmen Baulinien die Grenze, bis zu der ober- und unterirdisch gebaut werden darf. Im Baulinienbereich besteht demnach grundsätzlich ein Bauverbot. Nach Art. 57 Abs. 1 KRG kann die für die Bewilligung zuständige Behörde Ausnahmen von den Vorschriften über Baulinien, d.h. dem entsprechenden Bauverbot, gewähren, wenn keine überwiegenden Interessen entgegenstehen und die Grundeigentümer sich in einem Revers verpflichten, auf Verlangen der zuständigen Behörde den gesetzlichen Zustand herzustellen. Der Revers führt somit dazu, dass die Ausnahmebewilligung für das Bauen im Baulinienbereich nur provisorisch bzw. resolutiv bedingt erteilt wird (vgl. Urteil 1E.2/2007 vom 11. Januar 2008 E. 2.2). Gemäss Art. 91 Abs. 1 KRG sind solche Anordnungen (Bedingungen), die der Wiederherstellung des rechtmässigen Zustands dienen, als Nebenbestimmungen mit der Baubewilligung zu verknüpfen. Die Verknüpfung mit der Baubewilligung kann erfolgen, indem die Ausnahmebewilligung für die Errichtung von Bauten im Baulinienbereich nur unter der Bedingung erteilt wird, dass die Bauherren Reverse unterzeichnen. Demnach verstiess die Vorinstanz auch bei Berücksichtigung von Art. 91 Abs. 1 KRG nicht gegen das Willkürverbot, wenn sie in Art. 57 KRG keine gesetzliche Grundlage für die Verfügung eines Reverses erblickte, der nicht mit der Erteilung einer Baubewilligung verknüpft ist, sondern nachträglich zu einer vorher insoweit vorbehaltlos erteilten Baubewilligung verfügt wird. Daran vermag nichts zu ändern, dass nach Art. 90 Abs. 2 KRG Nebenbestimmungen mit längerer zeitlichen Wirkung oder von erheblicher Bedeutung vor Baubeginn durch die zuständige Behörde im Grundbuch anzumerken sind, weil in vertretbarer Weise davon ausgegangen werden kann, diese Regelung beziehe sich auf Nebenbestimmungen, die gemäss Art. 90 Abs. 1 KRG mit der Baubewilligung verknüpft wurden. Demnach erweist sich die von der Beschwerdeführerin erhobene Rüge der willkürlichen Anwendung von Art. 57 Abs. 1 und Art. 90 KRG als unbegründet, weshalb insoweit auch eine Verletzung der Gemeindeautonomie zu verneinen ist.  
 
5.   
Nach dem Gesagten kommt der vorinstanzlichen Erwägung, wonach für die im Quartierplan zwingend im Baulinienbereich vorgesehenen Bauten keine Ausnahmebewilligung gemäss Art. 57 Abs. 1 KRG erforderlich sei und daher insoweit auch keine Reverse hätte verlangt werden dürfen, keine entscheiderhebliche Bedeutung zu. Auf die gegen diese Erwägung gerichtete Kritik der Beschwerdeführerin ist daher nicht einzutreten. 
 
6.   
Gemäss den vorstehenden Erwägungen ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der unterliegenden Beschwerdeführerin sind keine Gerichtskosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Sie hat jedoch den anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnern für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist. 
 
2.   
Es werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit insgesamt Fr. 3'000.-- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, 5. Kammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 1. Mai 2017 
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Merkli 
 
Der Gerichtsschreiber: Gelzer