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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 911/06 
 
Urteil vom 2. Februar 2007 
I. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter Ursprung, Präsident, 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Schön, 
Gerichtsschreiber Jancar. 
 
Parteien 
IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin, 
 
gegen 
 
G.________, 1977, vertreten durch Fürsprecher Dr. iur. Fredi Hänni, Spitalgasse 26, 3001 Bern. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 5. Oktober 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Der 1977 geborene G.________ meldete sich im Oktober 2004 wegen Muskelverhärtungen in Oberarm und Schultergürtel bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Mit Verfügung vom 23. November 2005 verneinte die IV-Stelle Bern einen Leistungsanspruch. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie ebenso wie das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das Einspracheverfahren ab (Entscheid vom 13. Februar 2006). 
B. 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern bezüglich des materiellen Leistungsgesuchs (Rente und berufliche Eingliederungsmassnahmen) ab (Dispositiv Ziff. 1). Es hiess die Beschwerde insoweit gut, als die amtliche Verbeiständung bzw. Parteikostenersatz im Einspracheverfahren beantragt wurde; die Akten wurden an die IV-Stelle zur Festsetzung des amtlichen Honorars zurückgewiesen (Dispositiv Ziff. 2). Es wurden keine Gerichtskosten erhoben (Dispositiv Ziff. 3). Die Kosten für den Bericht der Frau Dr. med. R.________ vom 13. März 2006 von Fr. 70.- wurden dem Versicherten aus der Gerichtskasse vergütet (Dispositiv Ziff. 4). Die IV-Stelle wurde verpflichtet, dem Versicherten eine Parteientschädigung von Fr. 659.20 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) auszurichten (Dispositiv Ziff. 5). Das Gesuch um unentgeltliche Prozessführung wurde gutgeheissen und das amtliche Honorar des Rechtsvertreters auf Fr. 1041.25 (inkl. Auslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt (Dispositiv Ziff. 6; Entscheid vom 5. Oktober 2006). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle die Aufhebung von Ziff. 2 und Ziff. 5 des Dispositivs des kantonalen Entscheides. 
 
Der Versicherte schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde; im Fall der Gutheissung betreffend Ziff. 5 des Dispositivs sei Ziff. 6 des Dispositivs des kantonalen Entscheides aufzuheben und die Sache sei an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit es über den aus der Gerichtskasse zu bezahlenden Betrag für die amtliche Vertretung im kantonalen Verfahren neu entscheide. Ferner ersucht der Versicherte um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das letztinstanzliche Verfahren. 
Das kantonale Gericht verlangt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw. 1.2). 
2. 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Versicherten auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren. 
Der angefochtene Entscheid hat diesbezüglich nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
Am 26. Oktober 2006 reichte der Rechtsvertreter des Versicherten der IV-Stelle die Kostennote betreffend seine Bemühungen im Einspracheverfahren im Umfang von Fr. 1820.25 ein. Auf Grund des von ihm letztinstanzlich aufgelegten Kontoauszugs steht fest, dass die Ausgleichskasse AHV/IV/EO des Kantons Bern ihm den Betrag von Fr. 1820.25 per 9. November 2006 überwiesen hat. Gestützt hierauf macht der Versicherte geltend, es sei zu entscheiden, ob das Verfahren nicht als erledigt abgeschrieben werden könne. 
 
Von einer vorbehaltlosen Anerkennung der Entschädigungsforderung kann trotz Bezahlung nicht gesprochen werden, zumal die IV-Stelle in diesem Punkt bereits am 26. Oktober 2006 Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben hat. Das Verfahren ist somit nicht als erledigt abzuschreiben. 
4. 
Wo die Verhältnisse es erfordern, wird der gesuchstellenden Partei ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt (Art. 37 Abs. 4 ATSG). Voraussetzung des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung sind die Bedürftigkeit der gesuchstellenden Partei, fehlende Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren sowie die sachliche Gebotenheit des Beizugs eines Anwalts (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 und 183 f. Erw. 3.2 f., 125 V 35 f. Erw. 4b; Anwaltsrevue 2005/3 S. 123; Urteil A. vom 30. Oktober 2006 Erw. 3.1, I 475/06). 
 
Hinsichtlich der sachlichen Gebotenheit der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung im Einspracheverfahren sind die Umstände des Einzelfalls, die Eigenheiten der anwendbaren Verfahrensvorschriften sowie die Besonderheiten des jeweiligen Verfahrens zu berücksichtigen. Dabei fallen neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe in Betracht, wie etwa seine Fähigkeit, sich im Verfahren zurechtzufinden (Schwander, Anmerkung zu BGE 122 I 8, in: AJP 1996 S. 495). Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung des Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen der Gesuchsteller auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (BGE 130 I 182 Erw. 2.2 mit Hinweisen), und wenn auch eine Verbeiständung durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauensleute sozialer Institutionen nicht in Betracht fällt (BGE 125 V 34 Erw. 2, 114 V 236 Erw. 5b; AHI 2000 S. 163 f. Erw. 2a und b). Die sachliche Notwendigkeit wird nicht allein dadurch ausgeschlossen, dass das in Frage stehende Verfahren von der Offizialmaxime oder dem Untersuchungsgrundsatz beherrscht wird, die Behörde also gehalten ist, an der Ermittlung des rechtserheblichen Sachverhaltes mitzuwirken (BGE 130 I 183 f. Erw. 3.2 und 3.3 mit Hinweisen). Die Offizialmaxime rechtfertigt es jedoch, an die Voraussetzungen, unter denen eine anwaltliche Verbeiständung sachlich geboten ist, einen strengen Massstab anzulegen (BGE 125 V 35 f. Erw. 4b; Anwaltsrevue 2005/3 S. 123; Urteil H. vom 10. März 2006 Erw. 7.1, I 692/05). 
5. 
Die Voraussetzungen der fehlenden Aussichtslosigkeit der Einsprache und der Bedürftigkeit des Versicherten sind auf Grund der Akten erfüllt. 
Soweit die IV-Stelle vorbringt, es sei fraglich, ob die Einspracheerhebung nicht als zum vornherein aussichtslos betrachtet werden müsste, kann dem nicht gefolgt werden. Vielmehr bringt die Vorinstanz letztinstanzlich zu Recht vor, dass erst die bei ihr eingereichte Stellungnahme der Gutachterin Frau Dr. med. R.________ vom 13. März 2006 (vgl. Erw. 7.1.1 hienach) wesentlich zur Klärung des Sachverhalts beigetragen habe. 
 
Aus dem Einwand, es stelle sich die Frage, ob hinsichtlich der Sozialabhängigkeit und Bedürftigkeit des Versicherten nicht Selbstverschulden anzunehmen sei, kann die IV-Stelle vorliegend ebenfalls nichts zu ihren Gunsten ableiten. 
6. 
Zu prüfen ist demnach einzig die sachliche Gebotenheit der unentgeltlichen anwaltlichen Verbeiständung. 
6.1 Die Vorinstanz hat erwogen, die Abweisung des Gesuchs um unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren sei angesichts der Komplexität des Falles in sachverhaltlicher und rechtlicher Hinsicht zu Unrecht erfolgt. Insoweit sei die Beschwerde gutzuheissen. 
 
Die Vorinstanz hat damit hinreichend dargelegt, gestützt auf welche Überlegungen sie zu ihrem Entscheid gekommen ist, zumal sie sich mit der medizinischen Aktenlage und der Invaliditätsbemessung einlässlich befasst hat. Auch wenn es sich um einen Grenzfall handelt, liegt - entgegen der Auffassung der IV-Stelle - keine Verletzung der Begründungspflicht (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 129 I 236 Erw. 3.2, 126 I 102 Erw. 2b, 124 V 181 Erw. 1a, je mit Hinweisen) vor. 
6.2 Weiter macht die IV-Stelle im Wesentlichen geltend, der Versicherte habe während sechs Jahren Psychologie studiert, sei der deutschen Sprache mächtig und habe nach eigenen Angaben einen Konflikt an der Universität X.________ austragen können. Er habe als Lehrerausbilder und Gruppentherapeut gearbeitet. Aktuell arbeite er im Abfallunterricht, in der Wochenendaufsicht und in der Betriebsführung der AVAG (AG für Abfallverwertung Thun). Vom Gutachter Dr. med. H.________ (vgl. Erw. 7.1.1 hienach) werde ihm eine überdurchschnittliche Intelligenz zugestanden. Die erstatteten Gutachten seien klar und schlüssig gewesen. Die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse seien nicht derart schwierig gewesen, dass der Versicherte nicht selber oder mit Hilfe eines Verbandvertreters, Fürsorgers oder einer Vertrauensperson einer sozialen Institution die Einsprache hätte formulieren können. Wenn er Probleme mit der Akzeptanz der medizinischen Aussagen habe, sei dies nicht von der Invalidenversicherung respektiv der Allgemeinheit zu tragen. Die Inanspruchnahme eines Anwalts sei nicht notwendig gewesen. 
7. 
7.1 
7.1.1 Der Versicherte hatte sich im Einspracheverfahren mit den recht umfangreichen Gutachten der Rheumatologin Frau Dr. med. R.________ vom 1. November 2005 und des Psychiaters Dr. med. H.________ vom 20. Juni 2005 und ihrer interdisziplinären Beurteilung vom 28. Oktober 2005 sowie mit diversen weiteren Arztberichten auseinanderzusetzen. 
 
In der vorinstanzlich erstatteten ergänzenden Stellungnahme vom 13. März 2006 führte die Expertin Frau Dr. med. R.________ aus, sie habe den Versicherten zu 8 Std. pro Tag arbeitsfähig mit einer Einschränkung von ca. 20 % für die verlangsamte Tätigkeit durch den speziell adaptierten Computer beurteilt. Sie habe die bisherige Arbeitsfähigkeit, wie sie vom Hausarzt attestiert worden sei, angegeben. Es bestehe eine klare Diskrepanz zwischen ihrer Beurteilung und derjenigen des Hausarztes; unter Umständen müsste dieser unterschiedlichen Beurteilung nochmals nachgegangen werden. Sie bestätige, dass der Versicherte ein chronisches weichteilrheumatisches Schmerzsyndrom habe, das ihn in der Berufsausübung teilweise einschränke. Die IV habe das Schmerzsyndrom nicht gewichtet. Ihrer Meinung nach müsse sie sich um die berufliche Eingliederung des Versicherten kümmern. Sie empfehle eine Berufsabklärung und -beratung durch die IV. 
7.1.2 Weiter ist zu beachten, dass die IV-Stelle die Verfügung vom 23. November 2005 trotz des relativ komplexen und widersprüchlichen medizinischen Sachverhalts lediglich mit der Wiedergabe des Art. 8 ATSG (Begriff der Invalidität) und dem wenig aussagekräftigen Satz "Bei Ihnen liegt kein Krankheitsbild mit Invaliditätscharakter vor." begründete. Erst im Einspracheentscheid vom 13. Februar 2006 räumte sie ein, dass die Expertise der Frau Dr. med. R.________ mit einem Fehler behaftet sei. Für den Versicherten als juristischen Laien war es mithin schwierig, die Akten zu würdigen und die Einsprache zu begründen. 
7.2 Das Verfahren war mithin rechtlich und sachverhaltsmässig nicht einfach. Eine erhebliche Tragweite der Sache ist zu bejahen, zumal der Anspruch auf eine Invalidenrente - mithin eine finanzielle Leistung von in der Regel grosser Bedeutung - streitig war (vgl. auch erwähntes Urteil I 692/05 Erw. 7.3; Urteile M. vom 16. Oktober 2006 Erw. 4.5, I 631/06, A. vom 29. Dezember 2005 Erw. 4.2.2, I 781/05, und O. vom 27. April 2005 Erw. 7.3, I 507/04). 
 
Unbehelflich ist der Einwand der IV-Stelle, der Versicherte hätte sich durch Verbandsvertreter, Fürsorger oder andere Fach- und Vertrauenspersonen sozialer Institutionen verbeiständen lassen können. Denn angesichts der nicht einfachen Fallumstände ist die direkte Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe nicht zu beanstanden (vgl. auch erwähntes Urteil I 781/05 Erw. 4.2.2 mit Hinweisen). 
 
Unter den gegebenen Umständen hat die IV-Stelle Bundesrecht verletzt, wenn sie eine anwaltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren als nicht erforderlich erachtete. Der angefochtene Entscheid ist somit rechtens. 
 
Sämtliche Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. 
8. 
Nach dem Gesagten hat es bei Ziff. 5 des Dispositivs des kantonalen Entscheides sein Bewenden, worin dem Versicherten nach Massgabe seines teilweisen Obsiegens in der Frage des Anspruchs auf unentgeltliche Verbeiständung im Einspracheverfahren eine Parteientschädigung von Fr. 659.20 zugesprochen wurde. 
9. 
Streitigkeiten betreffend die unentgeltliche Rechtspflege unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht, weshalb keine Gerichtskosten zu erheben sind (SVR 2002 ALV Nr. 3 S. 7 Erw. 5 [Urteil W. vom 11. Juni 2001, C 130/99]). Dem obsiegenden Versicherten steht zu Lasten der IV-Stelle eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 OG). Sein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung ist daher gegenstandslos. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle Bern hat dem Beschwerdegegner für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 2. Februar 2007 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: