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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
{T 0/2} 
 
6B_894/2015  
   
   
 
 
 
Urteil vom 13. Januar 2016  
 
Strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Denys, Präsident, 
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, 
Gerichtsschreiber Briw. 
 
Verfahrensbeteiligte 
X.________, 
vertreten durch Fürsprecher André Vogelsang, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Kosten und Entschädigung; rechtliches Gehör, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, Strafabteilung, 2. Strafkammer, vom 10. Juli 2015. 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Das Regionalgericht Oberland sprach am 3. Juli 2014 X.________ von der Anschuldigung des Angriffs frei. Es auferlegte die Verfahrenskosten von insgesamt Fr. 6'169.40 dem Kanton Bern und richtete dem amtlichen Verteidiger eine Entschädigung von Fr. 11'341.70 aus. Es wies die Schadenersatz- und Genugtuungsforderung des Straf- und Zivilklägers ab und schied für die Beurteilung der Zivilklage keine Kosten aus. 
 
B.  
Das Obergericht des Kantons Bern fällte auf Berufung der Staatsanwaltschaft des Kantons Bern am 10. Juli 2015 folgendes Urteil: 
I.       Es erkannte, dass das erstinstanzliche Urteil bezüglich der Zivilklage in Rechtskraft erwachsen war. 
II.       Es sprach X.________ von der Anschuldigung des Angriffs frei, richtete dem Verteidiger für das obergerichtliche Verfahren eine Entschädigung von insgesamt Fr. 4'811.10 aus und auferlegte die oberinstanzlichen Verfahrenskosten dem Kanton Bern. 
III/1.       Es auferlegte X.________ die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 6'169.40. 
III/2.       [a] Es bestimmte die vom Kanton Bern für das erstinstanzliche Verfahren an den amtlichen Verteidiger auszurichtende Entschädigung auf Fr. 11'341.70 (Stundenansatz Fr. 200.--) und stellte unter Berücksichtigung des vollen Stundenansatzes (Fr. 250.--) eine Entschädigung von Fr. 13'968.80 sowie die entsprechende Differenz (den "nachforderbaren Betrag") von Fr. 2'627.10 fest. 
[III/2.       b] "X.________ hat dem Kanton Bern die für das erstinstanzliche Verfahren ausgerichtete amtliche Entschädigung von CHF 11'341.70 zurückzuzahlen und dem amtlichen Verteidiger die Differenz zwischen der amtlichen Entschädigung und dem vollen Honorar, ausmachend CHF 12'627.10 [recte: CHF 2'627.10], zu erstatten, sobald es seine wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben (Art. 135 Abs. 4 StPO)." 
 
C.  
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil in den Ziffern III/1 und III/2 des Dispositivs aufzuheben, die Verfahrenskosten von Fr. 6'169.40 dem Kanton Bern aufzuerlegen und die Entschädigung von Fr. 11'341.70 (auszahlbar an den Fürsprecher) dem Beschwerdeführer zuzusprechen, eventualiter die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
In der Vernehmlassung führt das Obergericht des Kantons Bern aus, X.________ habe in den Einvernahmen ausgesagt und anlässlich der Hauptverhandlung bestätigt, dass er die Leute ein bisschen habe einschüchtern wollen und sich zu diesem Zwecke vermummte. Nach einem Beteiligten sei in ihrer Gruppe die Idee aufgekommen, die YB Fans, welche sich dort aufhielten, ein wenig anpöbeln zu gehen. Die Kammer sei der Ansicht, dass dieses Verhalten geeignet sei, ihm die Kosten aufzuerlegen und keine Entschädigung zuzusprechen. Sein Verhalten sei kausal für die Einleitung des Strafverfahrens gewesen. Durch sein Verhalten seien die Persönlichkeitsrechte der im Raum anwesenden Personen objektiv (Urteil 1B_21/2012 vom 27. März 2012 E. 2.4) verletzt worden. In einer Zeit zunehmender Gewalt und Radikalisierung sei das Verhalten geeignet gewesen, die Anwesenden nicht nur zu verängstigen, sondern in ihrem seelischen Wohlbefinden erheblich zu stören (Urteil 6B_990/2013 vom 10. Juni 2014). Darin erblicke die Kammer eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 28 ZGB, mithin ein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten. 
Die Staatsanwaltschaft verzichtete auf Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Der Beschwerdeführer rügt die Kostentragungspflicht trotz Freispruchs (Art. 426 Abs. 2 StPO), die Verweigerung der Entschädigung der Verteidigung bzw. die Rückerstattungspflicht (Art. 429 Abs. 1 lit. a, 430 Abs. 1 lit. a, 135 Abs. 4 StPO) sowie eine Verletzung des rechtlichen Gehörs wegen ungenügender Urteilsbegründung (Art. 29 Abs. 2 BV). 
 
1.1. Sachverhaltlich geht die Vorinstanz davon aus, dass sich der Beschwerdeführer mit drei Kollegen in eine Liegenschaft begab, "um die dort anwesenden Personen ein bisschen einzuschüchtern". Vor dem Betreten des Raumes wickelte er sich Toilettenpapier um das Gesicht, damit er (wie die anderen, die sich mit Absperrband vermummt hatten) nicht auf den ersten Blick erkannt würde. Der Beschwerdeführer hielt sich "im Türbereich auf und betrachtete den Raum sowie die anwesenden Personen, während" die drei Kollegen sich in eine Schlägerei mit den Anwesenden verwickelten. Ein Kollege warf eine Flasche auf einen Unbeteiligten und fügte diesem damit eine Gehirnerschütterung und eine Rissquetschwunde zu. Darauf verliessen sie den Raum (Urteil S. 12).  
Die Vorinstanz begründet ihren Kosten- und Entschädigungsentscheid betreffend das erstinstanzliche Verfahren wie folgt: Es sei unbestritten, dass der Beschwerdeführer sich mit seinen drei Kollegen an den Ort begeben und dort mit Toilettenpapier vermummt den Party-/Aufenthaltsraum betreten hatte und im Türbereich stehen geblieben sei. "Dieses ungebührliche, absolut nicht tolerierbare und gegen jeglichen Anstand verstossende Verhalten eines angehenden Bankangestellten rechtfertigte die Einleitung und Durchführung eines Strafverfahrens, weshalb ihm die angefallenen Verfahrenskosten für das Verfahren bis und mit erster Instanz auferlegt werden" (Urteil S.16). 
 
1.2. Wird das Verfahren eingestellt oder die beschuldigte Person freigesprochen, so können die Verfahrenskosten ganz oder teilweise auferlegt werden, "wenn sie rechtswidrig und schuldhaft die Einleitung des Verfahrens bewirkt oder dessen Durchführung erschwert hat" (Art. 426 Abs. 2 StPO). Diese Bestimmung kodifiziert die Praxis des Bundesgerichts und der EMRK-Organe, wonach eine Kostenauflage möglich ist, wenn der Beschuldigte in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen eine geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnorm (insbesondere im Sinne von Art. 41 OR oder Art. 28 ZGB) klar verstossen und dadurch die Einleitung des Strafverfahrens veranlasst hat (vgl. Urteile 6B_820/2014 vom 27. November 2014 E. 3.1 und 6B_192/2015 vom 9. September 2015 E. 1.2).  
Das Bundesgericht prüft frei, ob der Kostenentscheid direkt oder indirekt den Vorwurf strafrechtlicher Schuld enthält und ob die beschuldigte Person in zivilrechtlich vorwerfbarer Weise gegen geschriebene oder ungeschriebene Verhaltensnormen klar verstiess und dadurch das Strafverfahren veranlasste. Unter Willkürgesichtspunkten prüft sie die diesbezügliche Sachverhaltsfeststellung sowie gegebenenfalls kantonales Recht (Art. 42 Abs. 2, 97 Abs. 1 und 106 Abs. 2 BGG; insofern ist die im Urteil 6B_820/2014 vom 27. November 2014 E. 3.1 mit Hinweis auf Urteil 6B_835/2009 vom 21. Dezember 2009 E. 1.3 versehentlich zitierte altrechtliche Kognitionsbeschränkung zu korrigieren; vgl. Urteil 6B_566/2015 vom 18. November 2015 E. 2.4.4 betreffend Art. 429 Abs. 1 lit. a i.V.m Art. 135 Abs. 1 StPO). 
 
 
1.3. Nach dem massgebenden Sachverhalt (Art. 105 Abs. 1 BGG) bestand eine "reine physische Anwesenheit" (Urteil S. 12) des Beschwerdeführers. Dieser "beteiligte" sich nicht an der Rangelei, auch nicht mit einer psychischen Unterstützung. Er hielt sich, mit Toilettenpapier im Gesicht, "im Türbereich auf und betrachtete den Raum sowie die anwesenden Personen". Sein Verhalten erscheint durchaus als "ungebührlich", rechtfertigte aber die Einleitung und Durchführung eines Strafverfahrens nicht. Die Vorinstanz bezeichnet denn auch keine Rechtsnorm, gegen welche der Beschwerdeführer klar verstiess. Die Entscheidung ist bundesrechtswidrig.  
 
1.4. In der Vernehmlassung ergänzt die Vorinstanz ihre Urteilserwägungen und erblickt im verpönten Verhalten eine widerrechtliche Persönlichkeitsverletzung im Sinne von Art. 28 ZGB. Sie verweist dazu auf das Urteil 6B_990/2013 vom 10. Juni 2014. Das Urteil ist nicht einschlägig. Nach dem dort massgebenden Sachverhalt waren verschiedene Ereignisse aktenkundig und lag überdies eine Gefährdungsmeldung des Gymnasiums für die Tochter des Beschwerdeführers und deren Freund vor. Insgesamt hatte das Verhalten des Beschwerdeführers dazu geführt, dass seine Tochter Angst um ihr Leben und dasjenige ihres Freundes gehabt hatte (a.a.O., E. 1.3). Sogar die Inhaftierung des Beschwerdeführers wegen drohender Ausführungsgefahr war gerechtfertigt (a.a.O., E. 2.4.1, 2.4.5). Ein vergleichbarer Sachverhalt ist hier nicht gegeben.  
 
2.  
Das Bundesgericht darf nicht über die Begehren der Parteien hinausgehen (Art. 107 Abs. 1 BGG). Heisst es die Beschwerde gut, so entscheidet es in der Sache selbst oder weist diese zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurück (Art. 107 Abs. 2 BGG). 
 
2.1. Der Beschwerdeführer beantragt die Aufhebung der Ziffern III/1 und III/2 des vorinstanzlichen Dispositivs sowie erstens (Ziff. III/1) die Auferlegung der vorinstanzlich betragsmässig bestätigten erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 6'169.40 an den Kanton Bern (entsprechend der Erstinstanz),  zweitens (Ziff. III/2 [a]) die Zusprechung der Entschädigung von Fr. 11'341.70 (wie erst- und vorinstanzlich betragsmässig festgesetzt) und deren Auszahlung an den Verteidiger (wie vor- und erstinstanzlich entschieden) und  drittens (Ziff. III/2 [b]) die Aufhebung der Rückerstattungspflicht an den Kanton im Sinne von Art. 135 Abs. 4 StPO, wobei die Zusprechung der Honorardifferenz von (recte) Fr. 2'627.10 nicht beantragt und somit darauf verzichtet wird (vgl. Art. 107 Abs. 1 BGG).  
Antragsgemäss wären betreffend Dispositiv-Ziff. III/1 die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 6'169.40 dem Kanton Bern aufzuerlegen, betreffend Dispositiv-Ziff. III/2 [a] wäre (lediglich) festzustellen, dass der Kanton Bern nach dem angefochtenen Urteil den Verteidiger mit Fr. 11'341.70 zu entschädigen hat, und die Dispositiv-Ziff. III/2 [b] wäre aufzuheben. 
 
2.2. Die Sache liquid. Es ist in der Sache zu entscheiden.  
 
2.2.1. Die erstinstanzlichen Verfahrenskosten sind dem Kanton aufzuerlegen (Art. 423 Abs. 1 StPO; Art. 426 Abs. 2 StPO, e contrario).  
 
2.2.2. Rechtsgrundlage für die Entschädigung bildet das öffentlich-rechtliche Verhältnis zwischen Kanton und amtlicher Verteidigung. Die Verteidigung erhält das tariflich festgelegte Honorar für die Übernahme einer öffentlichen Aufgabe und trägt nicht das Risiko der Uneinbringlichkeit (BGE 139 IV 261 E. 2.2.1). Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO ist auf die amtliche Verteidigung nicht anwendbar. Ihre Entschädigung richtet sich allein nach Art. 135 StPO (BGE 139 IV 261 E. 2.2.2). Entsprechend ist die anerkannte Entschädigung von Fr. 11'341.70 dem Verteidiger zuzusprechen. Dem Kanton Bern steht kein Rückerstattungsanspruch zu. Für die Entschädigung haftet allein der Staat (BGE 139 IV 261 E. 2.2.1). Die Zusprechung der "Differenz" wird - mangels Verurteilung zu den Verfahrenskosten (Art. 135 Abs. 4 lit. b StPO) - zu Recht nicht beantragt (BGE 139 IV 261 E. 2.2.3). Folglich ist festzustellen, dass der Kanton Bern den Verteidiger mit Fr. 11'341.70 zu entschädigen hat (Dispositiv-Ziff. III/2 [a]). Die Ziff. III/2 [b] des Dispositivs ist aufzuheben.  
 
3.  
Die Beschwerde ist gutzuheissen, das Urteil im Umfang der Ziffern III/1 und III/2 des Dispositivs aufzuheben und die Sache antragsgemäss neu zu entscheiden (E. 2.2.). Es sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Bern hat den Beschwerdeführer zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG), wobei die Entschädigung bei Entscheiden im Zusammenhang mit der unentgeltlichen Rechtspflege praxisgemäss der Verteidigung zuzusprechen ist. 
 
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.   
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern vom 10. Juli 2015 im Umfang der Ziffern III/1 und III/2 des Dispositivs aufgehoben und neu entschieden: 
 
1.1. Die erstinstanzlichen Verfahrenskosten von Fr. 6'169.40 werden dem Kanton Bern auferlegt.  
 
1.2. Es wird festgestellt, dass der Kanton Bern Fürsprecher André Vogelsang für das erstinstanzliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 11'341.70 auszurichten hat.  
 
2.   
Für das bundesgerichtliche Verfahren werden keine Kosten erhoben. 
 
3.   
Der Kanton Bern hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Fürsprecher André Vogelsang, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.- zu entschädigen. 
 
4.   
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, 2. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 13. Januar 2016 
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Denys 
 
Der Gerichtsschreiber: Briw