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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
8G.59/2003 /pai 
 
Urteil vom 23. Juni 2003 
Anklagekammer 
 
Besetzung 
Bundesrichter Karlen, Präsident, 
Bundesrichter Fonjallaz, Marazzi, 
Gerichtsschreiber Monn. 
 
Parteien 
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden, 
7001 Chur, 
Gesuchstellerin, 
 
gegen 
 
Generalprokurator des Kantons Bern, Postfach 7475, 3001 Bern, 
Gesuchsgegner. 
 
Gegenstand 
Bestimmung des Gerichtsstandes in Sachen A.________. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Am 16. Oktober 2002 wurde in einer Bijouterie in Langenthal/BE ein Einbruchsdiebstahl verübt. Die Täterschaft fuhr mit einem entwendeten Kleinlaster rückwärts in die Fensterscheibe des Geschäfts, aus welchem Uhren und Schmuck im Wert von über Fr. 80'000.-- gestohlen wurden. Es entstand ein Sachschaden von über Fr. 120'000.--. 
 
Am 27. Dezember 2002 wurde in einem Uhren- und Bijouteriegeschäft in Lenzerheide/GR ein weiterer Einbruchsdiebstahl verübt. Auch in diesem Fall wurde mit einem entwendeten Personenwagen die Schaufensterscheibe aufgebrochen. Aus dem Geschäft wurden Uhren und Schmuck im Wert von über Fr. 150'000.-- gestohlen. Am Gebäude und an Uhren entstand ein Sachschaden von über Fr. 300'000.--. Zwei unbeteiligte Passanten begaben sich, nachdem sie das Klirren und eine Alarmsirene gehört hatten, zum Tatort. Einer der Täter warf ihnen einen vier Kilogramm schweren Kreuzschlaghammer entgegen, ohne sie zu treffen. 
 
Die Täter des zweiten Einbruchs fuhren nach der Tat in Richtung San Bernardino. Dort konnte die Polizei die Verfolgung aufnehmen. In Mesocco/GR verursachten die Täter einen Selbstunfall, worauf sie zu Fuss flüchteten. Später wurde B.________ in Mesocco nach einem Sturz in unwegsamem Gebiet tot aufgefunden. Die Abklärungen ergaben, das B.________ und A.________ die beiden Einbruchsdiebstähle in Langenthal und in Lenzerheide (den ersten zusammen mit einer unbekannten dritten Person) begangen haben könnten. 
 
A.________ war zunächst flüchtig und wurde erst am 8. Januar 2003 in Zürich festgenommen und dem Polizeikommando Graubünden überstellt. Er bestreitet, an den Einbruchsdiebstählen teilgenommen zu haben. 
 
Aus dem ihm zur Verfügung stehenden Personenwagen wurde ein Camcorder sichergestellt. Die Ermittlungen ergaben, dass dieser am 28. Juni 2002 bei einem Einbruch in Zürich gestohlen worden war. A.________ macht geltend, er habe den Camcorder im August 2002 in Belgrad erworben, ohne gewusst zu haben, dass es sich um Deliktsgut handelt. 
B. 
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden wendet sich mit Eingabe vom 2. Juni 2003 an die Anklagekammer des Bundesgerichts und beantragt, die Behörden des Kantons Bern seien zu verpflichten, alle A.________ zur Last gelegten Delikte zu verfolgen und zu beurteilen (act. 1). 
 
Der Generalprokurator des Kantons Bern beantragt in seiner Vernehmlassung vom 12. Juni 2003, es seien die Behörden des Kantons Graubünden, jedenfalls nicht die Behörden des Kantons Bern, zur Verfolgung und Beurteilung sämtlicher A.________ zur Last gelegten Delikte zu verpflichten (act. 6). 
 
Die Kammer zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 In Bezug auf die in den Kantonen Bern und Graubünden begangenen Straftaten vom 16. Oktober und 27. Dezember 2002 werfen die Parteien die Frage nach der Qualifikation des zweiten Einbruchsdiebstahls auf, bei welchem einer der Täter - vermutlich B.________ - zwei Passanten einen vier Kilogramm schweren Kreuzschlaghammer entgegengeworfen hat. Nur wenn dieser Einbruchsdiebstahl mit einer schwereren Strafe als die erste Straftat bedroht ist, ist der Kanton Graubünden auch für die Beurteilung der übrigen Delikte, die dem Beschuldigten vorgeworfen werden, zuständig (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 1 StGB). Sind die strafbaren Handlungen demgegenüber mit der gleichen Strafe bedroht, so sind die Behörden des Kantons zuständig, in dem die Untersuchung zuerst angehoben wurde (Art. 350 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). 
1.2 Gemäss Art. 139 Ziff. 3 StGB wird ein Dieb unter anderem dann mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft, wenn er den Diebstahl als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat und die gemäss BGE 124 IV 286 E. 2a aus mindestens zwei Personen bestehen muss. Wer bei einem Diebstahl auf frischer Tat ertappt wird und in der Folge Gewalt einsetzt, um die gestohlene Sache zu behalten, begeht einen Raub bzw. einen so genannten räuberischen Diebstahl, der wie der soeben erwähnte bandenmässige Diebstahl ebenfalls mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft wird (Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). Der Räuber bzw. der räuberische Dieb wird unter anderem dann mit einer höheren Strafe und zwar mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter zwei Jahren bestraft, wenn er die Tat als Mitglied einer Bande ausführt, die sich zur fortgesetzten Verübung von Raub oder Diebstahl zusammengefunden hat (Art. 140 Ziff. 3 StGB). 
1.3 Zunächst ist davon auszugehen, dass sowohl beim Delikt im Kanton Bern als auch bei demjenigen im Kanton Graubünden eine bandenmässige Tatbegehung vorliegen könnte. Davon gehen auch die Parteien aus (act. 1 S. 4 mit Hinweis). Grundsätzlich kommt somit bandenmässiger Diebstahl im Sinne von Art. 139 Ziff. 3 StGB als auch bandenmässiger Raub im Sinne von Art. 140 Ziff. 3 StGB in Frage. 
1.4 Zu prüfen ist nur, ob der Tatbestand des (bandenmässigen) räuberischen Diebstahls im Sinne von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB beim zweiten Einbruchsdiebstahl erfüllt sein kann. Im Gegensatz zu einer Andeutung des Gesuchsgegners (act. 6 S. 2) kommt Art. 140 Ziff. 1 Abs. 1 StGB von vornherein nicht in Betracht, weil sich die Gewalt beim gewöhnlichen Raub gegen eine Person richten muss, die dem Diebstahl Widerstand entgegensetzt (Marcel Alexander Niggli/Christof Riedo, in: Strafgesetzbuch II, Basler Kommentar, Hrsg.; Niggli/Wiprächtiger, Basel 2003, Art. 140 N 22). Diese Voraussetzung ist nicht erfüllt. 
1.5 Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB ist im zweiten Fall aus dem Kanton Graubünden insoweit erfüllt, als die Täter im Verlauf des Einbruchsdiebstahls von zwei Passanten auf frischer Tat ertappt wurden. Einer der Täter - vermutlich B.________ - warf diesen Passanten einen schweren Hammer entgegen. Dass es sich dabei um eine Gewaltanwendung handelt, ist offensichtlich. Im Gegensatz zur Auffassung der Gesuchstellerin ist es für die Bestimmung des Gerichtsstandes unerheblich, wer den Hammer geworfen hat. Denn es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass beide Täter übereinstimmend von Anfang an beabsichtigten, störende Drittpersonen, mit deren Auftauchen sie ja wegen ihres Aufsehen erregenden und lautstarken Vorgehens rechnen mussten, mit Hilfe des Hammers zu bedrohen und einzuschüchtern. Die Gesuchstellerin vermag ihre Annahme, der Hammer sei aufgrund der Art des Tatwerkzeuges "offensichtlich" ohne Wissen des anderen Beteiligten geworfen worden (act. 1 S. 5), auf keine sicheren Tatsachen zu stützen. Dass Einbrecher verabreden, sie würden störende Drittpersonen, mit deren Auftauchen sie rechnen müssen, gegebenenfalls mit einem mitgeführten Hammer bedrohen, ist jedenfalls nicht von vornherein ausgeschlossen. Die Annahme der Gesuchstellerin muss deshalb im vorliegenden Verfahren unberücksichtigt bleiben. 
 
Nach der zutreffenden Auffassung der Gesuchstellerin ist die Anwendung von Art. 140 Ziff. 1 Abs. 2 StGB jedoch ausgeschlossen, wenn der Hammerwurf nicht der Beutesicherung, sondern nur dazu gedient hat, dass die Täter "ungestört arbeiten" konnten (act. 1 S. 5). Mit anderen Worten: Der Tatbestand des räuberischen Diebstahls ist nur durch eine Nötigungshandlung erfüllt, die erst nach der Vollendung des Diebstahls verübt wird; der Täter muss zwar in flagranti betroffen und noch am Tatort oder in dessen unmittelbarer Nähe wahrgenommen worden sein, aber er muss die Sache bereits gestohlen, die Wegnahme also vollendet haben (vgl. Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, BT I, 5. Aufl. Bern 1995, § 13 N 125; Marcel Alexander Niggli/Christof Riedo, a.a.O., Art. 140 N 41 und N 46 mit weiteren Hinweisen). 
 
Die Gesuchstellerin beruft sich auf die Aussagen der beiden Passanten (act. 1 S. 5). Danach befanden sich diese in unmittelbarer Nähe der Bijouterie, als sie das Klirren von Glas und eine Sirene hörten; sie erblickten eine Person, die etwas wie einen Hammer in der Hand hielt, und einen blauen Kleinbus mit laufendem Motor; aus Angst rannten sie davon, worauf sie hörten, dass etwas hinter ihnen auf der Strasse aufschlug, was sich später als Hammer herausstellte; sie rannten zu einem Hotel, von wo aus sie die Polizei anriefen; etwa fünf bis zehn Minuten später gingen sie langsam wieder zur Bijouterie zurück; dort stand der blaue Kleinbus immer noch mit laufendem Motor vor dem Geschäft, worauf sie sich erneut entfernten (vgl. Einvernahmeprotokolle der Kantonspolizei Graubünden vom 27. Dezember 2002, Gerichtsstandsakten act. 5 und 6). 
 
Diesen Aussagen ist zu entnehmen, dass die Passanten ganz am Anfang des Geschehens am Tatort aufgetaucht sein dürften. Es spricht nichts dafür, dass die Täter zu diesem Zeitpunkt die Beute bereits weggenommen hatten, zumal sie sich rund zehn Minuten später immer noch am Tatort aufhielten. Dem steht gerade auch das Argument des Gesuchsgegners nicht entgegen, wonach es sich beim Einbruchsdiebstahl um eine "Blitzaktion" gehandelt hat (act. 6 S. 2). Diese "Blitzaktion" dürfte sich genau im Verlauf der zehn Minuten abgespielt haben, während denen sich die Passanten vom Tatort entfernt hatten, um die Polizei anzurufen. Aufgrund der Akten, die der Anklagekammer vorliegen, kann deshalb nicht davon ausgegangen werden, dass die Täter in Lenzerheide einen räuberischen Diebstahl begangen haben. Es deutet alles darauf hin, dass ein bandenmässiger Diebstahl (in Konkurrenz mit einer Nötigung gemäss Art. 181 StGB den Passanten gegenüber) vorliegt. 
1.6 Aus den genannten Gründen ist für die Frage des Gerichtsstands davon auszugehen, dass die beiden Straftaten, die im Kanton Bern und im Kanton Graubünden begangen wurden, als bandenmässige Diebstähle mit einer gleich hohen Strafe bedroht sind. 
2. 
Ein weiterer Einbruch wurde am 28. Juni 2002 in Zürich verübt. Die Gesuchstellerin ist der Ansicht, zwar sei bei A.________ anlässlich seiner Festnahme der in Zürich seinerzeit gestohlene Camcorder gefunden worden, aber es gebe keine Hinweise darauf, dass A.________ an dem Einbruchsdiebstahl beteiligt gewesen sein könnte, weshalb er im Kanton Zürich denn auch nur wegen Hehlerei verfolgt werde (act. 1 S. 3/4 Ziff. 2.1.). Demgegenüber vertritt der Gesuchsgegner die Auffassung, unter anderem wegen des Auffindens des Camcorders im Personenwagen könne der Einbruchsdiebstahl A.________ zugeordnet werden (act. 6 S. 2/3 Ziff. 2 mit Hinweis auf Gerichtsstandskorrespondenz act. 5 Ziff. 4). 
 
Aufgrund der Akten, die der Anklagekammer vorliegen, kann zur Zeit nicht davon ausgegangen werden, dass A.________ an der Tat in Zürich beteiligt war. Der Umstand, dass der Camcorder in seinem Fahrzeug aufgefunden wurde, lässt für sich allein nur den Verdacht auf Hehlerei zu. Andere Indizien dafür, dass A.________ zusammen mit mindestens einem anderen Täter den Einbruch begangen haben könnte, fehlen. Die Polizei hat denn auch nur gegen eine unbekannte Person rapportiert, weshalb nicht einmal feststeht, dass es sich seinerzeit um einen bandenmässigen Diebstahl gehandelt hat (vgl. Rapport der Stadtpolizei Zürich vom 28. Juni 2002, Gerichtsstandsakten act. 13). Bei dieser Sachlage fällt dieses Delikt für die Bestimmung des Gerichtsstands von vornherein ausser Betracht. 
3. 
Von den beiden für die Bestimmung des Gerichtsstands massgebenden und mit der gleichen Strafe bedrohten Delikten wurde das erste im Kanton Bern begangen. Folglich ist das Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden gutzuheissen. 
 
 
 
Demnach erkennt die Kammer: 
 
1. 
Das Gesuch der Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden wird gutgeheissen, und die Behörden des Kantons Bern werden berechtigt und verpflichtet erklärt, die A.________ vorgeworfenen strafbaren Handlungen zu verfolgen und zu beurteilen. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 23. Juni 2003 
Im Namen der Anklagekammer 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: