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Eidgenössisches Versicherungsgericht 
Tribunale federale delle assicurazioni 
Tribunal federal d'assicuranzas 
 
Sozialversicherungsabteilung 
des Bundesgerichts 
 
Prozess {T 7} 
I 142/06 
 
Urteil vom 25. Oktober 2006 
II. Kammer 
 
Besetzung 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Borella und Kernen; Gerichtsschreiber Traub 
 
Parteien 
G.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Marc Brügger-Kuret, Bahnhofstrasse 15, 8570 Weinfelden, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin 
 
Vorinstanz 
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden 
 
(Entscheid vom 30. Dezember 2005) 
 
A. 
Der 1943 geborene G.________ arbeitete nach eigenen Angaben (Anmeldung zum Leistungsbezug) seit 1968, gemäss Auszug aus dem Individuellen Konto der AHV seit 1975, als selbständigerwerbender Schuhmacher. Am 22. Januar 1999 meldete er sich unter Hinweis auf eine Diskushernie bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Thurgau setzte den Invaliditätsgrad mit Verfügung vom 27. Juni 2000 bei 0 % fest, da das angerechnete zumutbare Einkommen mit Behinderung dasjenige ohne Behinderung übersteige, und lehnte das Rentenbegehren demgemäss ab. Die Rekurskommission des Kantons Thurgau trat auf die Beschwerde des G.________ vom 27./29. Juli 2000 mangels Antrages und Begründung nicht ein (Entscheid vom 21. September 2000). 
 
Am 27. Oktober 2003 meldete sich der Versicherte erneut zum Leistungsbezug an. Er machte geltend, er habe 2001 die selbständige Erwerbstätigkeit weitgehend aufgegeben und eine Teilzeitarbeitsstelle angenommen. Um ergänzende Angaben ersucht, teilte G.________ am 28. November 2003 mit, dass er seit dem 5. November 2001 mit einem Pensum von 30 % als Mitarbeiter Logistik/Dienste bei der Firma X.________ und "aktuell" zu 50 % bei der Firma Y.________ arbeite. Aufgrund dieser Änderung sei er im Zusammenhang mit der Invaliditätsbemessung nicht mehr als Selbständigerwerbender zu qualifizieren. Sein Gesundheitszustand habe sich nicht verändert. Die IV-Stelle trat mit Verfügung vom 19. Oktober 2004 auf das Gesuch nicht ein, weil sich die tatsächlichen Verhältnisse seit Erlass der Verfügung vom 27. Juni 2000 nicht in anspruchserheblicher Weise verändert hätten. Die IV-Stelle wies die dagegen gerichtete Einsprache ab (Entscheid vom 17. Mai 2005). 
B. 
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wies die mit dem Rechtsbegehren, es sei der Einspracheentscheid aufzuheben und die Verwaltung anzuweisen, auf das Revisionsgesuch einzutreten und die gesetzlichen Leistungen auszurichten, erhobene Beschwerde ab (Entscheid vom 30. Dezember 2005). 
C. 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt G.________ beantragen, es sei die Sache zur ergänzenden Abklärung an die Verwaltung zurückzuweisen. 
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die Verwaltung, nachdem der abschlägige Bescheid vom 27. Juni 2000 rechtskräftig geworden war, zu Recht auf das neue Rentengesuch vom 27. Oktober 2003 nicht eingetreten ist, mit dem der Beschwerdeführer geltend machte, dass er im Gesundheitsfall die langjährig ausgeübte selbständige Erwerbstätigkeit mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zugunsten einer Arbeit im Angestelltenverhältnis aufgegeben hätte und dass eine entsprechende Anpassung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) zu einem anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad führe. 
1.2 Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössische Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht. 
2. 
2.1 Der Invaliditätsgrad wird bestimmt, indem das Erwerbseinkommen, das der Versicherte nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihm zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt wird zum Erwerbseinkommen, das er erzielen könnte, wenn er nicht invalid geworden wäre (Art. 28 Abs. 2 IVG in Verbindung mit Art. 16 ATSG). Der Einkommensvergleich hat in der Regel in der Weise zu erfolgen, dass die beiden hypothetischen Erwerbseinkommen ziffernmässig möglichst genau ermittelt und einander gegenübergestellt werden, worauf sich aus der Einkommensdifferenz der Invaliditätsgrad bestimmen lässt (allgemeine Methode des Einkommensvergleichs; BGE 128 V 30 Erw. 1). 
2.2 Für die Ermittlung des Valideneinkommens ist entscheidend, was der Beschwerdeführer im Zeitpunkt des möglichen Rentenbeginns (BGE 129 V 222) nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ohne Gesundheitsschaden aufgrund seiner beruflichen Fähigkeiten und persönlichen Umstände tatsächlich verdient hätte (RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 Erw. 3b). Dabei wird in der Regel am zuletzt erzielten, nötigenfalls der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung angepassten Verdienst angeknüpft, da die bisherige Tätigkeit ohne Gesundheitsschaden erfahrungsgemäss fortgesetzt worden wäre. Ausnahmen müssen mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erstellt sein (BGE 129 V 224 Erw. 4.3.1 mit Hinweisen; vgl. auch ZAK 1990 S. 519 Erw. 3c). 
3. 
3.1 Wie die Vorinstanz richtig erkannte, handelte es sich bei dem "Gesuch um Revision" tatsächlich um eine Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 4 IVV). Ein Revisionsverfahren würde eine bestehende Rente voraussetzen. Die Neuanmeldung wird - wie auch das Revisionsgesuch - nur materiell geprüft, wenn die versicherte Person glaubhaft macht, dass sich die tatsächlichen Verhältnisse in einem für den Rentenanspruch erheblichen Mass verändert haben (Art. 87 Abs. 3 in Verbindung mit Abs. 4 IVV; BGE 130 V 72 Erw. 2.2 mit Hinweisen). Gelingt ihr dies nicht, so wird auf das Gesuch nicht eingetreten. Das herabgesetzte Beweismass des "Glaubhaftmachens" verlangt allerdings nur, dass die versicherte Person die Änderung eines Elements aus dem gesamten für die Rentenberechtigung erheblichen Tatsachenspektrum glaubwürdig dartut. Trifft dies zu, ist die Verwaltung verpflichtet, auf das neue Leistungsbegehren einzutreten und es in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht allseitig zu prüfen (vgl. BGE 117 V 200 Erw. 4b). 
3.2 Der Beschwerdeführer verweist zur Glaubhaftmachung eines hypothetischen Wechsels des Erwerbsstatus auf die wirtschaftliche Zwangslage, wie sie sich aus einer durch die Pensionierung der Ehefrau auf Ende 1998 entstandenen Einbusse im gemeinsamen Einkommen ergeben habe. Er wäre auch bei guter Gesundheit gezwungen gewesen, die mit einem nur bescheidenen Erlös verbundene Tätigkeit des Schuhmachers zugunsten einer unselbständigen Arbeit aufzugeben. Als hypothetisches Valideneinkommen könne somit nicht mehr der Verdienst aus selbständiger Erwerbstätigkeit herangezogen werden. Dadurch ergebe sich ein höheres Valideneinkommen und folglich ein höherer Invaliditätsgrad. 
3.3 
3.3.1 Ist aufgrund der Umstände des Einzelfalls, insbesondere der Erfahrungswerte aus der Zeit vor Eintritt des Gesundheitsschadens, anzunehmen, dass sich ein Versicherter als Gesunder voraussichtlich dauernd und aus freien Stücken mit einer bescheidenen Erwerbstätigkeit begnügt hätte, ist darauf abzustellen, auch wenn er an sich besser entlöhnte Erwerbsmöglichkeiten hätte. Massgebendes Valideneinkommen ist in solchen Fällen jener Verdienst, welchen er im hypothetischen Gesundheitsfall tatsächlich erzielen würde, und nicht dasjenige, was er bestenfalls verdienen könnte (BGE 125 V 157 Erw. 5c/bb mit Hinweisen; Urteil M. vom 4. April 2002, I 696/01, Erw. 4a). 
3.3.2 Der Versicherte war seit Jahrzehnten als selbständiger Schuhmacher tätig. In dieser Zeit hat er sich zwar mit einem sehr niedrigen Einkommen zufrieden gegeben. Im konkreten Fall ist indes nicht von vornherein davon auszugehen, dass er sich im Gesundheitsfall weiterhin mit einem geringen Einkommen begnügen würde. Hätte er bei gleichbleibendem Gesamteinkommen der Ehegatten wohl keinen Grund zur Aufgabe der unrentablen selbständigen Erwerbstätigkeit gehabt, weil der Lebensunterhalt der Ehegatten durch das regelmässige Einkommen der Ehefrau gesichert wurde, die bis kurz vor Antritt des Ruhestandes eine vollzeitliche Anstellung bei einer Grossbank innehatte, so änderte sich die Erwerbsgrundlage mit dem Ersatz des ordentlichen Einkommens durch die Rentenbezüge in erheblichem Ausmass. Nachdem die Ehefrau im Jahr 1998 noch ein Einkommen von Fr. 68'570.- ausgewiesen hatte (Auszug aus dem Individuellen Konto der AHV vom 6. Februar 2006), beliefen sich ihre Rentenbezüge aus erster und zweiter Säule nach der Pensionierung laut Veranlagung der Staats- und Gemeindesteuern 2001 nur noch auf Fr. 34'546.-. Diese Halbierung der Einkünfte fällt vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Beschwerdeführer in den Jahren 1990 bis 1998 lediglich Einkommen zwischen Fr. 6334.- und Fr. 10'300.- erzielte (Auszug aus dem Individuellen Konto der AHV vom 5. Februar 1999), massgeblich ins Gewicht. Die Ehegatten befänden sich mit diesen Werten im Bereich des Existenzminimums, zumal - wiederum laut Steuererklärung - keine flüssigen Vermögenswerte vorhanden sind. Ein anderer Grund für die tatsächlich erfolgte Aufgabe der unrentablen selbständigen Erwerbstätigkeit ist nicht ersichtlich. 
3.4 Hat der Beschwerdeführer bei der Neuanmeldung somit nachvollziehbare Gründe für einen hypothetischen Statuswechsel genannt, so ist glaubhaft dargelegt, dass sich eine massgebende Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse ergeben haben könnte. In Anbetracht dessen ist die Verwaltung zu Unrecht nicht auf die Neuanmeldung eingetreten. Sie wird demzufolge zu beurteilen haben, ob sich das Valideneinkommen tatsächlich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in anspruchserheblichem Ausmass verändert hat. 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
1. 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 30. Dezember 2005 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 17. Mai 2005 aufgehoben und es wird festgestellt, dass die IV-Stelle auf das Gesuch vom 27. Oktober 2003 einzutreten hat. 
2. 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
3. 
Die IV-Stelle des Kantons Thurgau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen. 
4. 
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben. 
5. 
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 25. Oktober 2006 
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
 
Die Präsidentin der II. Kammer: Der Gerichtsschreiber: