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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 7} 
I 744/06 
 
Urteil vom 30. März 2007 
II. sozialrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident, 
Bundesrichter Lustenberger und Seiler, 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann. 
 
Parteien 
M.________, 1967, Beschwerdeführerin, 
vertreten durch Rechtsanwältin Anita Hug, 
Centralstrasse 4, 2540 Grenchen, 
 
gegen 
 
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 
4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den 
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 25. Juli 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
M.________ (geb. 1967) arbeitete von September 1989 bis Juni 2000 mit verschiedenen Unterbrüchen als Hilfsarbeiterin. Im Dezember 2000 meldete sie sich unter Hinweis auf eine Ende Oktober 1999 erlittene Lumboischialgie und eine seit längerem bestehende Hautkrankheit mit Abszessen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der medizinischen und erwerblichen Verhältnisse lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn das Gesuch ab mit der Begründung, die Versicherte habe die ihr zumutbare Therapie (insbesondere eine chirurgische Intervention) nicht durchgeführt (Verfügung vom 17. Februar 2003, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 22. April 2003). 
 
Die von M.________ hiergegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn insoweit gut, als es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache an die IV-Stelle zurückwies, damit diese das Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchführe (d.h. der Versicherten unter Bezugnahme auf das von ihr geforderte Verhalten schriftlich mitteile, welche Folgen ihre Widersetzlichkeit nach sich ziehen könne, und sie - unter Ansetzung einer angemessenen Bedenkzeit - auffordere, ihrer Schadenminderungspflicht nachzukommen) und danach neu verfüge (Entscheid vom 28. Mai 2004). Der hierauf (am 29. Juni 2004) ergangenen Aufforderung der IV-Stelle, die Therapievorschläge (Behandlung mit Antibiotika sowie Roaccutan, chirurgischer Eingriff) konsequent durchzuführen, leistete die Versicherte innert der gesetzten Frist keine Folge mit der Begründung, die Massnahmen seien ihr unzumutbar (Schreiben vom 30. September 2004). 
 
Mit Verfügung vom 8. Dezember 2004 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf Leistungen unter Hinweis darauf, dass die Versicherte ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen sei, indem sie die ihr zumutbaren Massnahmen zur Verbesserung ihres Gesundheitszustandes abgelehnt habe. Daran hielt die Verwaltung auf Einsprache der Versicherten hin fest (Entscheid vom 24. Februar 2005). 
B. 
Die von M.________ mit dem Antrag auf Zusprechung einer Rente erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 25. Juli 2006 teilweise gut und hob den Einspracheentscheid insoweit auf, als es die IV-Stelle anwies, im Sinne der Erwägungen zu verfahren, d.h. zu überprüfen, ob die Versicherte bis zum Ablauf der Bedenkzeit (19. Juli 2004) Anspruch auf eine befristete Rente hat. 
C. 
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, es sei festzustellen, dass ihr die von der IV-Stelle vorgeschlagenen Massnahmen nicht zumutbar seien und sie aufgrund einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens 70 % Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung habe. 
 
Während die IV-Stelle auf die Akten verweist und sich eines formellen Antrages enthält, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395). 
2. 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Zu prüfen ist daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG). 
3. 
3.1 Entzieht oder widersetzt sich eine versicherte Person einer zumutbaren Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben, die eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine neue Erwerbsmöglichkeit verspricht, oder trägt sie nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu bei, so können ihr die Leistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder verweigert werden. Sie muss vorher schriftlich gemahnt und auf die Rechtsfolgen hingewiesen werden; ihr ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen. Behandlungs- und Eingliederungsmassnahmen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, sind nicht zumutbar (Art. 21 Abs. 4 ATSG). Diese Bestimmung ist im Bereich der Invalidenversicherung anwendbar (Art. 2 ATSG und Art. 1 Abs. 1 IVG). Art. 7 Abs. 1 IVG verpflichtet die anspruchsberechtigten Personen zusätzlich, unter Hinweis auf die Kürzungs- und Verweigerungsmöglichkeiten gemäss Art. 21 Abs. 4 ATSG, die Durchführung aller Massnahmen, die zur Eingliederung ins Erwerbsleben getroffen werden, zu erleichtern. 
 
Die Norm des Art. 21 Abs. 4 ATSG stimmt inhaltlich weitgehend mit der Regelung der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Bestimmungen der Art. 10 Abs. 2 IVG und Art. 31 IVG überein (BBl 1991 II 256, 1999 4567). Die hierzu ergangene Rechtsprechung bleibt somit gültig (Urteil I 462/05 vom 16. August 2006, E. 3.2; vgl. Kieser, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, N 54 ff. zu Art. 21). Dies betrifft insbesondere die formellen Erfordernisse des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens (BGE 122 V 218; SVR 2005 IV Nr. 30 S. 113 [Urteil I 605/04 vom 11. Januar 2005]; Urteile I 824/06 vom 13. März 2007, E. 2.3, und I 462/05 vom 16. August 2006, E. 3.3). 
 
Für die Beantwortung der Frage nach der Zumutbarkeit der Behandlung oder Eingliederungsmassnahme im Sinne von Art. 21 Abs. 4 ATSG kann auf die zu Art. 31 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung ergangene Rechtsprechung verwiesen werden, da sich diesbezüglich mit dem neuen Recht nichts geändert hat (vgl. auch Urteil I 824/06 vom 13. März 2007, E. 3.1.1). Danach sind die gesamten persönlichen Verhältnisse, insbesondere die berufliche und soziale Stellung des Versicherten, zu berücksichtigen. Massgebend ist aber das objektiv Zumutbare, nicht die subjektive Wertung des Versicherten (ZAK 1982 S. 495 E. 3; Urteil I 105/93 vom 11. März 1994, E. 2a; Meyer-Blaser, Zum Verhältnismässigkeitsgrundsatz im staatlichen Leistungsrecht, Diss. Bern 1985, S. 189). Die gesetzliche Vorgabe, wonach Massnahmen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, nicht zumutbar sind, bedeutet nicht, dass eine Massnahme, die keine solche Gefahr darstellt, automatisch zumutbar ist (ZAK 1985 S. 326 E. 1; Kieser, a.a.O., N 60 zu Art. 21; Meyer-Blaser, a.a.O., S. 138 f.); sie weist aber doch daraufhin, dass nur Gründe von einer gewissen Schwere zur Unzumutbarkeit führen. Die Zumutbarkeit ist sodann in Relation einerseits zur Tragweite der Massnahme, andererseits zur Bedeutung der in Frage stehenden Leistung zu beurteilen. Namentlich bei medizinischen Massnahmen, die einen starken Eingriff in die persönliche Integrität der versicherten Person darstellen können, ist an die Zumutbarkeit kein strenger Massstab anzulegen (ZAK 1985 S. 325 E. 1). Umgekehrt ist die Zumutbarkeit eher zu bejahen, wenn die fragliche Massnahme unbedenklich ist (RKUV 1995 Nr. U 213 S. 68 E. 2b). Sodann sind die Anforderungen an die Schadenminderungspflicht dort strenger, wo eine erhöhte Inanspruchnahme der Invalidenversicherung in Frage steht, namentlich wenn der Verzicht auf schadenmindernde Vorkehren Rentenleistungen auslöst (BGE 113 V 22 E. 4b S. 32; Urteil I 824/06 vom 13. März 2007, E. 3.1.1). 
3.2 Die Vorinstanz ist gestützt auf die in den Akten liegenden ärztlichen Berichte (der Dermatologischen Universitäts-Klinik und -Poliklinik am Spital X.________ vom 21. März 2002 und 3. Januar 2003, der Dermatologischen Klinik und Poliklinik des Kantonsspitals Y.________ vom 24. August 2004 und 25. April 2006, der Dr. med. S.________, Spezialärztin FMH für Dermatologie, vom 1. und 2. Juli 2002, sowie des Dr. med. B.________, Facharzt FMH für allgemeine Medizin, auf die Anfragen vom 9. April 2003 und 18. Januar 2005) davon ausgegangen, dass für das Leiden der Beschwerdeführerin grundsätzlich zwei Therapien zur Verfügung stehen, die beide mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Heilung oder doch mindestens eine wesentliche Besserung erwarten liessen, nämlich entweder ein chirurgischer Eingriff oder eine Therapie mit Roaccutan. Sie erwog, es könne offen bleiben, ob die mit einer Schwangerschaft unvereinbare Roaccutan-Therapie angesichts des Kinderwunsches der Beschwerdeführerin zumutbar sei, da dies jedenfalls hinsichtlich des chirurgischen Eingriffs der Fall sei. 
3.3 Bei den Feststellungen über die möglichen Therapien sowie deren Erfolgswahrscheinlichkeit und Risiken handelt es sich um Sachverhaltsfeststellungen, welche das Bundesgericht nur mit eingeschränkter Kognition überprüft (E. 2 hiervor). Die von der Beschwerdeführerin gegen die vorinstanzlichen Feststellungen vorgebrachten Einwendungen sind - soweit überhaupt substantiiert - nicht geeignet, diese als offensichtlich unrichtig oder unvollständig erscheinen zu lassen. Es trifft zu, dass jeder Operation ein gewisses Risiko innewohnt, was sie jedoch nicht unzumutbar macht, solange sich dieses Risiko in einem begrenzten Rahmen hält. Diese Voraussetzung ist bei dem in Frage stehenden Eingriff erfüllt, wurde dieser doch auch durch das Universitätsspital A.________ als Standardbehandlung mit verantwortbarem Risiko bezeichnet und dessen Durchführung empfohlen (Schreiben vom 25. April 2006). Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt sich den medizinischen Unterlagen sodann entnehmen, dass die Narbenbildung im Normalfall die Arbeitsfähigkeit nicht beeinträchtigt (Schreiben des Universitätsspitals A.________ vom 25. April 2006). Soweit die Beschwerdeführerin schliesslich geltend macht, entgegen der Behauptung des Spitals X.________ in seinem Bericht vom 21. März 2002 habe sie unter der Achsel eine Operation vornehmen lassen, welche indessen ohne Erfolg geblieben sei, geht aus dem Schreiben des Spitals X.________ vom 3. Januar 2003 hervor, dass bisher nur kleinherdige Exzisionen, Abszessinzisionen und Drainagen vorgenommen worden sind, aber eine erfolgversprechende grosszügige Exzision der befallenen Areale im Gesunden mit konsekutiven plastisch rekonstruktiven Massnahmen nicht durchgeführt worden ist. 
3.4 Bei dieser Sachlage ist die operative Therapie mit der Vorinstanz als zumutbar zu bezeichnen. Des Weitern ist darauf hinzuweisen, dass auch die Roaccutan-Therapie nicht grundsätzlich unzumutbar wäre, nachdem dabei eine Schwangerschaft gemäss den Angaben des Unispitals A.________ um maximal 19 Monate aufgeschoben werden müsste. 
4. 
Soweit die Beschwerdeführerin geltend macht, sie habe bis zur Beendigung der angeblich zumutbaren Massnahme Anspruch auf eine Rente, kann ihr nicht beigepflichtet werden. Denn es trifft zwar zu, dass ein Rentenanspruch entstehen kann, solange das Mahn- und Bedenkzeitverfahren nicht durchgeführt worden ist. Dieser dauert indessen nur solange, als die Erwerbsunfähigkeit nicht (oder noch nicht) mit geeigneten Eingliederungs- und Selbsteingliederungsmassnahmen tatsächlich behoben oder in einer für den Rentenanspruch erheblichen Weise verringert wird, oder aber solange, bis aufgrund des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens zur Sanktion des Rentenentzugs geschritten werden darf (vgl. dazu AHI 1997 S. 36 E. 5a). In diesem Sinne hat die Vorinstanz die Sache zutreffend an die IV-Stelle zurückgewiesen, damit sie prüfe, ob die Versicherte bis zum Ablauf des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens, ab welchem Zeitpunkt die mit einer Leistungsverweigerung zu sanktionierende Widersetzlichkeit der Versicherten feststeht, eine Rente beanspruchen kann. 
5. 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 Satz 2 OG in der seit 1. Juli 2006 geltenden Fassung). Die Gerichtskosten werden der Beschwerdeführerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet. 
3. 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, der Caisse de compensation de l'industrie horlogère, La Chaux-de-Fonds, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt. 
Luzern, 30. März 2007 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: