Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
7B_51/2023  
 
 
Urteil vom 24. Juli 2023  
 
II. strafrechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Abrecht, Präsident, 
Bundesrichter Hurni, Kölz, 
Gerichtsschreiber Schurtenberger. 
 
Verfahrensbeteiligte 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Kantonales Untersuchungsamt, 
Spisergasse 15, 9001 St. Gallen, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Kreso Glavas, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Strafverfahren; Begutachtung, 
 
Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 22. Februar 2023 (AK.2022.507-AK). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Kantonales Untersuchungsamt, führt gegen A.________ ein Strafverfahren wegen des Verdachts des versuchten Betrugs, des versuchten unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung oder Sozialhilfe und des Vergehens gegen das Bundesgesetz über die Invalidenversicherung. 
 
B.  
Mit Verfügung vom 5. Dezember 2022 ordnete die Staatsanwaltschaft eine polydisziplinäre Begutachtung von A.________ an und beauftrage damit Dr. med. B.________ und Dr. med. C.________ in der Fachdisziplin Psychiatrie inkl. neuropsychologische Symptomvalidierung, Dr. med. D.________ in der Fachdisziplin innere Medizin, und Dr. med. E.________ in der Fachdisziplin Orthopädie. Mit Eingabe vom 14. Dezember 2022 erhob A.________ bei der Anklagekammer des Kantons St. Gallen Beschwerde gegen den Gutachtensauftrag und beantragte, die Staatsanwaltschaft zu verpflichten, das Gutachten an das USZ Zürich oder Kantonsspital St. Gallen zu vergeben. 
Mit Entscheid vom 22. Februar 2023 hob die Anklagekammer die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zum neuen Entscheid an die Staatsanwaltschaft zurück. Im Wesentlichen hielt sie fest, der ernannte Gutachter Dr. med. B.________ habe im Jahr 2022 alleine 31 Gutachten für die IV-Stelle des Kantons St. Gallen verfasst. Damit würden Anhaltspunkte vorliegen, dass er der IV-Stelle, welche sich als Privatklägerin konstituiert habe, näher stehe als der beschuldigten Person, was für den Anschein der Befangenheit ausreiche. Ein besonderes Näheverhältnis zwischen Dr. med. B.________ und Dr. med. D.________ könne sodann nicht ausgeschlossen werden, weshalb es als gerechtfertigt erscheine, dass er an der Begutachtung ebenfalls nicht mitwirke. In Bezug auf die weiteren beiden Gutachter würden jedoch keine offensichtlichen Anhaltspunkte für ein relevantes Näheverhältnis zu Dr. med. B.________ oder zur IV-Stelle des Kantons St. Gallen vorliegen. 
 
C.  
Dagegen hat die Staatsanwaltschaft mit Eingabe vom 20. März 2023 beim Bundesgericht Beschwerde in Strafsachen erhoben. Sie beantragt, den angefochtenen Entscheid aufzuheben und ihre Verfügung vom 5. Dezember 2022 zu bestätigen. 
Die Vorinstanz hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. A.________ hat mit Eingabe vom 17. April 2023 eine Vernehmlassung eingereicht und beantragt die Abweisung der Beschwerde sowie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Beim angefochtenen Entscheid handelt es sich in der Sache nicht um einen Beschwerdeentscheid betreffend die Anordnung einer Begutachtung, sondern um einen Entscheid über ein Ausstandsgesuch gegen (mehrere) forensische Sachverständige. Dagegen steht die (direkte) Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht nach Art. 78 ff. BGG grundsätzlich offen (Art. 78 Abs. 1 BGG; Art. 59 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 80 BGG; Art. 92 Abs. 1 BGG; siehe dazu Urteil 1B_141/2017 vom 10. Oktober 2017 E. 1.2). Die weiteren Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten. 
 
2.  
 
2.1. Die Staatsanwaltschaft rügt in erster Linie eine offensichtlich unrichtige bzw. auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhende Feststellung des Sachverhalts (vgl. Art. 97 BGG). Der Sachverhalt, der dem angefochtenen Entscheid zugrunde liege, erweise sich in weiten Teilen als unvollständig und enthalte nicht alle relevanten Tatsachen, die zur Anwendung des massgebenden Rechts (Art. 56 StPO) nötig seien.  
 
2.2. Gemäss Art. 58 Abs. 2 StPO nimmt die betroffene Person Stellung zum Ausstandsgesuch einer Partei. Diese Stellungnahme dient der Sachaufklärung und ist deshalb zwingend (BGE 138 IV 222 E. 2.1; zur amtl. Publ. bestimmtes Urteil 1B_10/2023 vom 6. April 2023 E. 2.3; siehe auch Urteil 1B_110/2017 vom 18. April 2017 E. 3, betreffend einen forensischen Sachverständigen).  
 
2.3. Weder aus dem angefochtenen Entscheid noch aus den kantonalen Akten ist ersichtlich, dass die Vorinstanz die vom Ausstandsgesuch betroffenen Personen zur Stellungnahme aufgefordert hätte. Die Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist daher insoweit begründet, als die Vorinstanz den rechtserheblichen Sachverhalt, namentlich betreffend die Frage nach dem Bestehen eines "besonderen Näheverhältnisses" zwischen Dr. med. B.________ sowie den weiteren vom Beschwerdeführer abgelehnten Gutachtern, unvollständig festgestellt hat (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
2.4. Damit erübrigt es sich, auf die weiteren Rügen der Staatsanwaltschaft einzugehen. Die Vorinstanz wird die nach Art. 58 Abs. 2 StPO zwingend vorgeschriebenen Stellungnahmen einzuholen und hiernach erneut über das Ausstandsgesuch des Beschwerdeführers betreffend die vier Gutachter zu befinden haben.  
 
3.  
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen. Der angefochtene Entscheid der Vorinstanz ist aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an diese zurückzuweisen. 
Bei diesem Verfahrensausgang wird der unterliegende Beschwerdegegner grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Indessen stellt er ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Rechtsverbeiständung für das Verfahren vor Bundesgericht. Da die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind, kann dem Gesuch entsprochen werden (vgl. Art. 64 Abs. 1 BGG). Vorliegend rechtfertigt es sich, dem Beschwerdegegner Rechtsanwalt Kreso Glavas als unentgeltlichen Rechtsbeistand beizustellen und letzteren aus der Gerichtskasse angemessen zu entschädigen (Art. 64 Abs. 2 BGG). Der Beschwerdeführer wird darauf hingewiesen, dass er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 3 BGG). Es sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 64 Abs. 4 BGG). 
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 22. Februar 2023 wird aufgehoben. Die Sache wird zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
 
2.  
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen. 
 
2.1. Rechtsanwalt Kreso Glavas wird dem Beschwerdegegner als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben und es wird ihm aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- ausgerichtet.  
 
2.2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.  
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Lausanne, 24. Juli 2023 
 
Im Namen der II. strafrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Abrecht 
 
Der Gerichtsschreiber: Schurtenberger