Wichtiger Hinweis:
Diese Website wird in älteren Versionen von Netscape ohne graphische Elemente dargestellt. Die Funktionalität der Website ist aber trotzdem gewährleistet. Wenn Sie diese Website regelmässig benutzen, empfehlen wir Ihnen, auf Ihrem Computer einen aktuellen Browser zu installieren.
Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Grössere Schrift
 
 
Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_300/2022  
 
 
Urteil vom 26. Januar 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichter Beusch, Bundesrichterin Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Nabold. 
 
Verfahrensbeteiligte 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdeführerin, 
 
gegen  
 
A.________, 
handelnd durch seine Eltern und diese vertreten durch Protekta Rechtsschutz-Versicherung AG, 
Beschwerdegegner. 
 
Gegenstand 
Invalidenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Mai 2022 (IV.2021.00520). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 2005 geborene A.________ meldete sich im Januar 2021 unter Hinweis auf eine seit 2018 bestehende starke Zwangsstörung mit starkem Untergewicht und Mangelernährung (Ess- und Trinkverweigerung) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an und beantragte medizinische und berufliche Massnahmen. Mit Verfügung vom 14. Juli 2021 lehnte die IV-Stelle des Kantons Zürich die Übernahme der Kosten für eine ambulante Psychotherapie und die stationäre Behandlung vom 23. Oktober 2020 bis 1. Februar 2021 in der integrierten Psychiatrie B.________ ab, da die Behandlungsmassnahmen nicht auf die Eingliederung ins Berufsleben, sondern auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet gewesen seien. 
 
B.  
Die von A.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 11. Mai 2022 gut und sprach ihm unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung Psychotherapie als medizinische Massnahme zu. 
 
C.  
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle des Kantons Zürich, es sei unter Aufhebung des kantonalen Urteils ihre Verfügung vom 14. Juli 2021 zu bestätigen. Gleichzeitig stellt die IV-Stelle ein Gesuch um aufschiebende Wirkung des erhobenen Rechtsmittels. 
Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). 
 
2.  
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzte, als es dem minderjährigen Versicherten zu Lasten der Invalidenversicherung Psychotherapie im Sinne einer medizinischen Massnahme zusprach. 
 
3.  
 
3.1. Am 1. Januar 2022 trat das revidierte Bundesgesetz über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) in Kraft (Weiterentwicklung der IV [WEIV]; Änderung vom 19.6.2020, AS 2021 705, BBl 2017 2535). Die hier angefochtene Verfügung erging vor dem 1. Januar 2022. Nach den allgemeinen Grundsätzen des intertemporalen Rechts und des zeitlich massgebenden Sachverhalts (statt vieler: BGE 144 V 210 E. 4.3.1; 129 V 354 E. 1 mit Hinweisen) sind daher die Bestimmungen des IVG und diejenigen der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV; SR 831.201) in der bis 31. Dezember 2021 gültig gewesenen Fassung anwendbar.  
 
3.2. Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr haben Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Art. 12 Abs. 1 IVG).  
Nach Rechtsprechung und Praxis werden medizinische Vorkehren bei Minderjährigen schon dann von der Invalidenversicherung übernommen, wenn ohne Behandlung das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden stabilen pathologischen Zustand führen würde (BGE 131 V 9 E. 4.2). Auch in derartigen Fällen muss indessen der angestrebte Erfolg medizinisch-prognostisch mit genügender Wahrscheinlichkeit voraussehbar sein (Urteile 8C_632/2017 vom 6. März 2018 E. 5.3.1 mit Hinweisen; I 64/07 vom 27. Juli 2007 E. 2). Es ist nicht entscheidend, ob eine Sofortmassnahme oder zeitlich ausgedehntere (aber nicht unbegrenzte) Vorkehr angeordnet wird. Die Massnahmen können sehr wohl eine gewisse Zeit andauern (Urteil 8C_805/2009 vom 26. April 2010 E. 3.2). Allerdings fallen Therapien, die, ob bei psychischen oder physischen Leiden, Dauercharakter haben, das heisst zeitlich unbegrenzt erforderlich sind, ausser Betracht (Urteil 9C_343/2021 vom 26. Oktober 2021 E. 5.3.1 mit weiteren Hinweisen). 
 
4.  
 
4.1. Es steht fest und ist unbestritten, dass der Versicherte an einer schweren Zwangsstörung in Form von Zwangsgedanken und -handlungen gemischt (ICD-10 F42.2) leidet. Bei diesen Gedanken und Handlungen stehen gemäss den vorinstanzlichen Feststellungen Wasch- und Hygienezwänge im Vordergrund, welchen Ängste um Verschmutzung und Ekel sowie die Sorge, die Verschmutzung auf Dritte zu übertragen, zugrunde liegen. Aufgrund der schweren Zwangsstörung war es dem Versicherten zwischen Herbst 2020 und dem 22. August 2021 nicht möglich, extern die Schule (3. Gymnasialklasse) zu besuchen; zeitweilig verweigerte der Versicherte gar eine Nahrungsaufnahme.  
 
4.2. Streitig ist der Anspruch des Versicherten auf eine Psychotherapie. Als Therapieziel wurde von den Fachpersonen formuliert, dass der Versicherte für einen Alltag ausserhalb der Klinik befähigt werden solle, um eine gelingende psychische, schulische und soziale Entwicklung zu ermöglichen. Gemäss den grundsätzlich verbindlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts ist die Therapie nicht ausschliesslich auf die Behandlung des Leidens des noch in Ausbildung befindlichen minderjährigen Versicherten gerichtet, sondern dient in erheblichen Umfang der beruflichen Eingliederung. Gemäss Vorinstanz ist davon auszugehen, dass die Zwangsstörung unbehandelt zumindest zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden pathologischen Zustand führen würde. Was die beschwerdeführende IV-Stelle gegen diese vorinstanzliche Erwägung vorbringt, vermag sie nicht als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen. Der Umstand, dass es während der Behandlung zu kurzzeitigen Kriseninterventionen kam, in denen nicht die berufliche Eingliederung, sondern das Überleben des Versicherten im Vordergrund stand, ändert nichts daran, dass bei einer Gesamtbetrachtung die Therapie in erheblichen Umfang der beruflichen Eingliederung diente.  
 
4.3. Das kantonale Gericht verneinte sodann einen den Anspruch gegen die Invalidenversicherung ausschliessenden Dauercharakter der Behandlung. Ein solcher ist rechtsprechungsgemäss nicht bereits dann zu bejahen, wenn eine Therapie längere Zeit dauert, sondern erst, wenn diese voraussichtlich zeitlich unbegrenzt erforderlich sein wird (vgl. E. 3.2 hievor). Im Zeitpunkt der leistungsablehnenden Verfügung waren zwei Jahre seit Beginn der Therapie vergangen; in dieser Zeit konnten namhafte Fortschritte erzielt werden. Kurz nach Erlass der Verfügung konnte der Versicherte den Unterricht in seiner Schule wieder besuchen und aus der Tagesklinik austreten. Auch wenn ein Ende der Therapie noch nicht festlegbar war, verstösst es entgegen den Vorbringen der beschwerdeführenden IV-Stelle nicht gegen Bundesrecht, wenn die Vorinstanz nicht von einer zeitlich unbegrenzten Behandlungsbedürftigkeit ausgegangen ist. Daran vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass der Versicherte allenfalls auch in Zukunft auf ungünstige Lebenssituationen erneut mit Zwangsgedanken reagieren könnte; selbst wenn er in einer solchen Phase erneut behandlungsbedürftig würde, wäre damit noch nicht eine ständige Behandlungsbedürftigkeit erstellt.  
 
4.4. Zusammenfassend verletzte das kantonale Gericht kein Bundesrecht, als es dem Versicherten zu Lasten der Invalidenversicherung eine Psychotherapie als medizinische Massnahme im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG zusprach. Die Beschwerde der IV-Stelle ist demgemäss abzuweisen.  
 
5.  
 
5.1. Mit diesem Entscheid in der Sache wird das Gesuch um aufschiebende Wirkung gegenstandslos.  
 
5.2. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Diese hat dem Beschwerdegegner überdies eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 BGG).  
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:  
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt. 
 
3.  
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen. 
 
4.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 26. Januar 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold