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Bundesgericht 
Tribunal fédéral 
Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
 
 
 
9C_281/2022  
 
 
Urteil vom 28. Juni 2023  
 
III. öffentlich-rechtliche Abteilung  
 
Besetzung 
Bundesrichter Parrino, Präsident, 
Bundesrichterinnen Moser-Szeless, Scherrer Reber, 
Gerichtsschreiber Williner. 
 
Verfahrensbeteiligte 
A.________, 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Markus Krapf, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen  
 
Ausgleichskasse des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, 
Beschwerdegegnerin. 
 
Gegenstand 
Alters- und Hinterlassenenversicherung, 
 
Beschwerde gegen das Urteil des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 9. April 2022 (AB.2021.00032). 
 
 
Sachverhalt:  
 
A.  
Der 1954 geborene A.________, Vater zweier 1989 und 1993 geborener Töchter, bezog nach dem Tod seiner Ehefrau ab dem 1. Juli 2001 eine Witwerrente. Mit Schreiben vom 29. September 2011 stellte die Ausgleichskasse des Kantons Zürich (nachfolgend: Ausgleichskasse) die Witwerrente per Ende Juli 2007 (recte: Ende Oktober 2011) ein, weil die jüngste Tochter das 18. Altersjahr vollendet habe und damit der Anspruch erloschen sei. 
Im Dezember 2020 meldete sich A.________ unter Hinweis auf das Urteil der 3. Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 20. Oktober 2020 erneut zum Bezug einer Witwerrente an. Die Ausgleichskasse verneinte einen Anspruch am 9. Dezember 2020 vorerst formlos mit der Begründung, A.________ beziehe bereits eine Altersrente und habe des Weiteren keine minderjährigen Kinder mehr. Auf dessen Ersuchen hin erliess die Verwaltung am 18. Januar 2021 eine anfechtbare Verfügung, worin sie den Antrag um Ausrichtung einer Witwerrente abwies. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 23. März 2021 fest.  
 
B.  
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Urteil vom 9. April 2022 ab. 
 
C.  
A.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei ihm unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids für die Zeit vom 1. November 2011 bis zum 31. Mai 2019 eine Witwerrente zuzusprechen. 
Das bundesgerichtliche Verfahren wurde bis zum Erlass des Urteils 78630/12 der Grossen Kammer des EGMR vom 11. Oktober 2022 ausgesetzt (Verfügungen vom 5. Juli 2022 und vom 21. Februar 2023). 
Die Ausgleichskasse beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme. 
A.________ gelangt am 22. März 2023 mit einer weiteren Eingabe ans Bundesgericht. 
 
 
Erwägungen:  
 
1.  
 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).  
 
1.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Indes prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (vgl. Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1).  
 
2.  
 
2.1. Die Vorinstanz erwog, in Bezug auf die vor dem EGMR hängige Streitsache 78630/12 Beeler gegen die Schweiz liege bislang kein endgültiges Urteil vor. Sollte die Grosse Kammer den Entscheid der 3. Kammer bestätigen, wäre eine Anpassung der Gesetzes- und Verordnungsbestimmungen vonnöten. Dabei sei unklar, wie eine solche Regelung aussehen würde. Die vom Beschwerdeführer angedachte direkte Anwendung des Urteils auf sein Gesuch vom Dezember 2020 um rückwirkende Ausrichtung der Witwerrente sei jedenfalls so nicht vorgesehen. Art. 8 Ziff. 1 EMRK habe denn auch primär die Funktion eines Abwehrrechts, weshalb ein staatlicher Leistungsanspruch gestützt auf diese Norm in Verbindung mit Art. 14 EMRK schon im Grundsatz überaus fraglich sei.  
 
2.2. Der Beschwerdeführer wendet dagegen ein, die Bundesbehörden einschliesslich des Bundesgerichts gingen einig, dass Art. 24 Abs. 2 AHVG diskriminierend sei. Ein konventionskonformer Zustand müsse deshalb auch ohne (endgültiges) Urteil des EGMR hergestellt werden. Entgegen der Vorinstanz sei für eine diskriminierungsfreie Lösung keine Gesetzesanpassung notwendig. Stattdessen genüge es, ihn so zu behandeln, wie eine Frau in gleicher Situation behandelt würde; eine entsprechende Regelung finde sich bereits im Gesetz. Der Beschwerdeführer weist weiter auf die Möglichkeit hin, bei Abweisung der Beschwerde seinerseits an den EGMR zu gelangen. Ein solches Vorgehen sei indessen aus prozessökonomischen Gründen nicht sinnvoll und würde - aufgrund der sehr langen Verfahren vor dem EGMR - eine Rechtsverweigerung darstellen. Er müsse deshalb sofort diskriminierungsfrei behandelt werden. Was sodann die vorinstanzliche Argumentation anbelange, wonach Art. 8 ERMK primär die Funktion eines Abwehrrechts habe, versuche er mit seiner Beschwerde gerade eine Diskriminierung und den Entzug eines Rechts abzuwehren.  
Mit Blick auf das zwischenzeitlich ergangene endgültige EGMR-Urteil vom 11. Oktober 2022 und die dazu bei der Verwaltung eingeholte Stellungnahme weist der Beschwerdeführer am 22. März 2023 zusätzlich darauf hin, die Einstellung seiner Witwerrente sei nie in eine anfechtbare Verfügung gekleidet worden. Dies bedeute, dass die Ausgleichskasse am 18. Januar 2021 entweder erstmals über den Anspruch verfügt oder aber eine frühere Verfügung in Wiedererwägung gezogen habe. So oder anders sei der Entscheid über seinen Rentenanspruch am 11. Oktober 2022 hängig gewesen und müsse - auch mit Blick auf die diesbezüglich vom BSV erlassenen Weisungen - nach neuer Rechtslage beurteilt werden. 
 
3.  
Nach Art. 24 Abs. 2 AHVG erlischt der Anspruch auf eine Witwerrente, zusätzlich zu den in Art. 23 Abs. 4 AHVG aufgezählten Gründen (Wiederverheiratung bzw. Tod der Witwe oder des Witwers), wenn das letzte Kind des Witwers das 18. Altersjahr vollendet hat. 
Mit Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 entschied die Grosse Kammer des EGMR, dass durch diese Bestimmung Witwer diskriminiert werden, indem ihre Hinterlassenenrente, anders als jene von Witwen, mit der Volljährigkeit des jüngsten Kindes erlischt. Er stellte in diesem Zusammenhang eine Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) in Verbindung mit Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) fest. Somit ist zwecks Herstellung eines konventionskonformen Zustandes in vergleichbaren Konstellationen fortan darauf zu verzichten, die Witwerrente allein aufgrund der Volljährigkeit des jüngsten Kindes aufzuheben (vgl. BGE 143 I 50 E. 4.1 und 4.2; 143 I 60 E. 3.3; vgl. auch die Urteile 9C_481/2021 und 9C_749/2020 vom 9. Januar 2023 je E. 2.1). Das erkannte auch das BSV in seinen Mitteilungen Nr. 460 vom 21. Oktober 2022 an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen. Die Mitteilungen sehen unter anderem für Witwer mit Kindern, welche die Rentenaufhebungsverfügung angefochten haben und deren Fall am 11. Oktober 2022 hängig ist, eine Übergangsregelung vor. Gemäss dieser soll die auf der Grundlage von Art. 23 AHVG gewährte Witwerrente nicht mehr mit Vollendung des 18. Altersjahres des jüngsten Kindes enden.  
Mit Blick auf dieses (endgültige) Urteil des EGMR erübrigen sich Weiterungen zu den Vorbringen des Beschwerdeführers betreffend den diskriminierenden Charakter von Art. 24 Abs. 2 AHVG. Zu prüfen bleiben allfällige Folgen dieses Urteils auf den vorliegenden Fall. 
 
4.  
 
4.1. Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fallen, können in Anwendung von Art. 51 Abs. 1 ATSG in einem formlosen Verfahren behandelt werden. Die betroffene Person kann nach Art. 51 Abs. 2 ATSG den Erlass einer Verfügung verlangen. Zwar bezieht sich Art. 51 ATSG ausdrücklich nur auf das zulässige formlose Verfahren, doch erachtet es die Rechtsprechung - in Analogie zu Art. 51 Abs. 2 ATSG - auch dann als angezeigt, dass die betroffene Person einen Entscheid in Form einer Verfügung verlangen kann, wenn der Versicherungsträger zu Unrecht formlos und nicht mittels Verfügung entschieden hat (BGE 134 V 145 E. 5.1). Die Frist für eine solche Intervention gegen den unzulässigerweise formlos mitgeteilten Entscheid beträgt im Regelfall ein Jahr seit der Mitteilung. Ohne fristgerechte Intervention erlangt der Entscheid rechtliche Wirksamkeit, wie wenn er zulässigerweise im Rahmen von Art. 51 Abs. 1 ATSG ergangen wäre (BGE 134 V 145 E. 5.3 und 5.4; Urteil 8C_536/2017 vom 5. März 2018 E. 3.4 mit Hinweis).  
Die Ausgleichskasse hatte dem Beschwerdeführer am 29. September 2011 formlos mitgeteilt, seine jüngste Tochter vollende am 4. Juli 2007 (recte: 7. Oktober 2011) das 18. Altersjahr, womit der Anspruch auf die Witwerrente erlösche; der monatliche Rentenbetrag werde im Juli 2007 (recte: Oktober 2011) letztmals ausbezahlt. Wie die Verwaltung vernehmlassend geltend macht, brachte der Beschwerdeführer damals keine Einwände gegen diese Renteneinstellung vor. Er intervenierte erst Jahre später mit Schreiben vom Dezember 2020. In diesem Zeitpunkt war die Renteneinstellung längst in Rechtskraft erwachsen unabhängig davon, ob die Ausgleichskasse seinerzeit formlos darüber hätte entscheiden dürfen. Damit geht der Einwand fehl, die Ausgleichskasse habe am 18. Januar 2021 möglicherweise erstmals über den Anspruch entschieden. Eine Rechtshängigkeit des Entscheids über den Rentenanspruch im Zeitpunkt vom 11. Oktober 2022 lässt sich damit nicht begründen. 
 
4.2. Die hier zu beurteilende Situation entspricht insoweit derjenigen, die dem EGMR-Urteil 78630/12 Beeler gegen Schweiz vom 11. Oktober 2022 zugrunde lag, als auch die Witwerrente des Beschwerdeführers allein aufgrund der Volljährigkeit seines jüngsten Kindes aufgehoben wurde. Die Konstellationen divergieren indessen dahingehend entscheidend, dass der Beschwerdeführer die Renteneinstellung nach dem Dargelegten unangefochten hat in Rechtskraft erwachsen lassen. Damit zielt auch der Einwand ins Leere, er versuche mit der Beschwerde eine Diskriminierung und den Entzug eines Rechts abzuwehren. Ein rückwirkender Leistungsanspruch kann nur bejaht werden, wenn entweder der Rückkommenstitel der prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) oder jener der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) gegeben ist (vgl. zum Ganzen BGE 127 V 10 E. 4b).  
Ein prozessualer Revisionsgrund ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Weiterungen dazu erübrigen sich (vgl. E. 1.2 hievor). Insofern der Beschwerdeführer stattdessen einwendet, die Ausgleichskasse habe mit Verfügung vom 18. Januar 2021 möglicherweise eine frühere Verfügung in Wiedererwägung gezogen, indem sie den Anspruch auf Witwerrente voraussetzungs- und vorbehaltlos materiell beurteilt habe, überzeugt dies nicht. Das Dispositiv der Verfügung lautet wohl auf Abweisung des Antrags um Ausrichtung einer Witwerrente, was prima vista eine materielle Prüfung nahelegen mag. Indessen sind Verwaltungsverfügungen respektive Einspracheentscheide nicht nach ihrem bisweilen nicht sehr treffend verfassten Wortlaut, sondern - vorbehältlich des (hier nicht interessierenden) Vertrauensschutzes - nach ihrem wirklichen rechtlichen Bedeutungsgehalt zu verstehen (BGE 141 V 255 E. 1.2; BGE 132 V 74 E. 2; BGE 120 V 496 E. 1a; Urteil 9C_777/2019 vom 24. November 2020 E. 5.2.1, nicht publ. in: BGE 147 V 73). Der Beschwerdeführer meldete sich im Dezember 2020 mit dem dafür vorgesehenen Formular (erneut) zum Leistungsbezug an. Dass er damit um Wiedererwägung eines früheren Entscheids ersucht hätte, macht er nicht geltend und ist nicht ersichtlich. Ebenso wenig ist aber im Ansatz erkennbar, dass die Verwaltung diesen oder einen anderen Rückkommenstitel von sich aus geprüft und bejaht hätte. So verneinte die Ausgleichskasse den Leistungsanspruch vorerst formlos und dann verfügungs- bzw. einspracheweise mit derselben Begründung, mit welcher sie seinerzeit die Aufhebung der Witwerrente begründet hatte. Im Wesentlichen erschöpfen sich die diesbezüglichen Ausführungen seit je her in einem Verweis auf die geltende Gesetzeslage (Art. 23 und 24 Abs. 2 AHVG). Demgegenüber fehlen namentlich Hinweise darauf, dass die Verwaltung die zweifellose Unrichtigkeit der Renteneinstellung nach damaliger Sach- und Rechtslage einschliesslich der damaligen Rechtspraxis (vgl. BGE 144 I 103 E. 2.2; 141 V 405 E. 5.2; 140 V 77 E. 3.1; je mit Hinweisen) geprüft hätte. Im Lichte dessen verbietet sich der Schluss, die Ausgleichskasse sei wiedererwägungsweise auf ihre ursprüngliche Renteneinstellung zurückgekommen. Bezeichnenderweise hatte denn auch der Beschwerdeführer weder im vorinstanzlichen Verfahren noch in seiner Beschwerde ans Bundesgericht vom 31. Mai 2022 derlei geltend gemacht. Erst im Rahmen seiner Eingabe vom 22. März 2023 wies er auf diese Möglichkeit hin. Dies im Übrigen ohne sich seinerseits auch nur ansatzweise mit den Wiedererwägungsvoraussetzungen auseinanderzusetzen, auf welche sich eine gerichtliche Überprüfung zu beschränken hätte (vgl. BGE 119 V 475 E. 1b/cc, 117 V 8 E. 2b/cc, 116 V 62). 
 
4.3. Nach dem Dargelegten ist ein rückwirkender Leistungsanspruch in Ermangelung eines entsprechenden Rückkommenstitels ausgeschlossen. Die Beschwerde ist abzuweisen. Dem Beschwerdeführer steht der von ihm in Aussicht gestellte Gang an den EGMR offen. Sofern er aufgrund der dort zu erwartenden langen Verfahrensdauer aber eine Rechtsverweigerung befürchtet, vermag er daraus offensichtlich nichts zu seinen Gunsten für das vorliegenden Verfahren abzuleiten.  
 
5.  
Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
 
 
1.  
Die Beschwerde wird abgewiesen. 
 
2.  
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt. 
 
3.  
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt. 
 
 
Luzern, 28. Juni 2023 
 
Im Namen der III. öffentlich-rechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
 
Der Präsident: Parrino 
 
Der Gerichtsschreiber: Williner