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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6S.383/2006 /rom 
 
Urteil vom 15. November 2006 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Wiprächtiger, Zünd, 
Gerichtsschreiber Stohner. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Roland Egli-Heine, 
 
gegen 
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8090 Zürich. 
 
Gegenstand 
Anordnung einer ambulanten Behandlung während des Strafvollzugs, 
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, II. Strafkammer, vom 23. Ma 2006. 
 
Sachverhalt: 
A. 
Das Obergericht des Kantons Zürich verurteilte X.________ am 23. Mai 2006 wegen Diebstahls, Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz sowie mehrfacher Übertretung desselben, einfacher Körperverletzung und Sachbeschädigung zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 10 Monaten (als Zusatzstrafe zum Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 15. September 2005). Für die Dauer des Strafvollzugs ordnete es eine ambulante Behandlung im Sinne von Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 6 StGB an. 
B. 
Gegen dieses Urteil führt X.________ Nichtigkeitsbeschwerde und beantragt sinngemäss, es sei das angefochtene Urteil in Bezug auf die Anordnung einer ambulanten Massnahme und den Vollzug der Freiheitsstrafe aufzuheben und die Sache zur Anordnung einer psychiatrischen Begutachtung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Des Weiteren ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. 
C. 
Sowohl das Obergericht als auch die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich haben auf eine Stellungnahme zur Beschwerde verzichtet. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
1.1 Nicht angefochten sind der Strafpunkt und das Strafmass. Der Beschwerdeführer rügt (einzig) eine Verletzung von Art. 13 und Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB. Die Vorinstanz habe es unterlassen, ein psychiatrisches Gutachten über seinen körperlichen und geistigen Zustand sowie über die für ihn zweckmässige Behandlung einzuholen. Da die Vorinstanz seine Drogenkrankheit anerkannt und ihm zugleich eine in mittlerem Grade verminderte Zurechnungsfähigkeit zugebilligt habe, wäre eine solche Begutachtung sowohl für die Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit als auch für die Bestimmung der sachgerechten Massnahme unverzichtbar gewesen. 
1.2 Die Vorinstanz stellt in Bezug auf den Massnahmenpunkt folgenden, für den Kassationshof verbindlichen Sachverhalt fest: 
 
Der Beschwerdeführer reiste 1996 in die Schweiz ein. Im Jahr 2000 begann er, sowohl Kokain als auch Heroin zu konsumieren. Bis April 2003 war der Beschwerdeführer zeitweilig in einer stationären Drogentherapie, ohne dass ihm dadurch jedoch die dauerhafte Loslösung von den Drogen gelang. Im Anschluss an seine rechtskräftige Verurteilung durch die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 15. September 2005 wurde der Beschwerdeführer in das Psychiatriezentrum Hard zum Entzug überführt. Aufgrund der zahlreichen Polizeirapporte betrachtet es die Vorinstanz insgesamt als erstellt, dass der Beschwerdeführer seit mindestens drei Jahren in erheblichem Mass Drogen konsumiert (angefochtenes Urteil S. 11). 
1.3 In rechtlicher Hinsicht schliesst die Vorinstanz, die vom Beschwerdeführer beantragte stationäre Massnahme sei nicht genügend indiziert. Hingegen sei die Zweckmässigkeit ambulanter Therapien bei drogensüchtigen Personen gerichtsnotorisch, weshalb eine solche Behandlung auch ohne Vorliegen eines ärztlichen Berichts angeordnet werden könne. Diese Therapie erscheine nicht unvereinbar mit dem Vollzug der Freiheitsstrafe, so dass von einem Aufschub abzusehen sei. Zusammenfassend stellt sich die Vorinstanz auf den Standpunkt, es könne aus Gründen der Verhältnismässigkeit auf eine psychiatrische Begutachtung des Beschwerdeführers verzichtet werden. 
2. 
2.1 Die urteilende Behörde hat eine Untersuchung des Beschuldigten anzuordnen, wenn sie Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit hat oder wenn zum Entscheid über die Anordnung einer sichernden Massnahme Erhebungen über dessen körperlichen oder geistigen Zustand nötig sind (Art. 13 Abs. 1 StGB). Das Bundesgericht hat dies beispielsweise unter bestimmten Voraussetzungen bei Drogenabhängigkeit angenommen (BGE 119 IV 120 E. 2a mit Hinweis auf BGE 116 IV 273 sowie BGE 106 IV 241 E. 1b). Art. 13 Abs. 1 StGB gebietet ferner, auch den Grad der Herabsetzung begutachten zu lassen. Ein Verstoss gegen diese Abklärungspflicht kann grundsätzlich mit eidgenössischer Nichtigkeitsbeschwerde angefochten werden (BGE 115 IV 90, nicht publ. E. 2b). Die erforderlichen Abklärungen sind durch Sachverständige vorzunehmen, welche sich zugleich darüber zu äussern haben, ob und in welcher Form eine Massnahme nach den Artikeln 42 - 44 StGB zweckmässig sei (Art. 13 Abs. 2 StGB). Das Gericht soll folglich seine Zweifel nicht selber beseitigen - etwa durch Zuhilfenahme psychiatrischer Fachliteratur -, sondern Sachverständige beiziehen. Erachtet es den Beschuldigten nicht für voll zurechnungsfähig, darf mit anderen Worten in der Regel nicht ohne psychiatrische Untersuchung über die verminderte Zurechnungsfähigkeit befunden werden (BGE 115 IV 90, nicht publ. E. 2b). 
2.2 Gestützt auf Art. 43 Ziff. 2 Abs. 2 StGB, der gemäss Art. 44 Ziff. 1 Abs. 1 und Ziff. 6 StGB auch auf Rauschgiftsüchtige anwendbar ist, kann das Gericht zwecks ambulanter Behandlung den Vollzug der Strafe aufschieben, um der Art der Behandlung Rechnung zu tragen. Die hier zur Diskussion stehende Massnahme setzt des Weiteren voraus, dass die verübten Taten in Zusammenhang mit der Suchtproblematik stehen. Schliesslich muss die Massnahme notwendig und geeignet sein, die Gefahr künftiger Verbrechen oder Vergehen zu verhüten. Gemäss BGE 105 IV 87 ff. ist ein Strafaufschub angezeigt, wenn die wirklich vorhandene Aussicht auf eine erfolgreiche Behandlung durch den sofortigen Vollzug der Freiheitsstrafe erheblich beeinträchtigt würde. Wie sich aus BGE 115 IV 92 ff. ergibt, sind die Massnahmebedürftigkeit und die Frage, ob der Strafvollzug zugunsten der Massnahme aufzuschieben sei, detailliert unter Berücksichtigung aller Umstände zu prüfen. Das Gericht holt, soweit erforderlich, ein Gutachten über den körperlichen und geistigen Zustand des Täters sowie über die Zweckmässigkeit der Behandlung ein (Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB). 
3. 
3.1 Die Vorinstanz attestiert dem Beschwerdeführer aufgrund seiner Drogensucht eine in mittlerem Masse beeinträchtigte Zurechnungsfähigkeit (angefochtenes Urteil S. 9). Da sie somit ausdrücklich Zweifel am geistigen Zustand des Beschwerdeführers hegt, wäre sie grundsätzlich gehalten gewesen, dessen psychiatrische Begutachtung anzuordnen (Art. 13 Abs. 1 StGB). Von dieser Abklärungspflicht abzuweichen, rechtfertigt sich allerdings, wenn die urteilende Behörde dem Beschuldigten ohne Begutachtung mindestens die von diesem behauptete Verminderung der Zurechnungsfähigkeit zubilligt und nicht ernsthaft mit einer noch grösseren Herabsetzung zu rechnen ist (BGE 115 IV 90, nicht publ. E. 2b). Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt. 
3.2 Von der Frage der Zurechnungsfähigkeit im engeren Sinn zu trennen ist der Gesichtspunkt der Massnahmebedürftigkeit. Wie dargelegt, schreibt Art. 13 Abs. 1 StGB eine Untersuchung des Beschuldigten vor, wenn zum Entscheid über die Anordnung einer sichernden Massnahme Erhebungen über dessen körperlichen und geistigen Zustand notwendig sind. 
 
Bei Drogenkranken sind solche weiterführenden Abklärungen über den Zusammenhang zwischen der Drogensucht und den begangenen Delikten und insbesondere über die Eignung der Massnahme und deren Verträglichkeit mit dem Strafvollzug in aller Regel unabdingbar. Zwar besteht gemäss Art. 44 Ziff. 1 Abs. 2 StGB insofern ein gewisser Ermessenspielraum, als dass ein Gutachten nur soweit erforderlich einzuholen ist. In der Praxis jedoch ist dieser Vorbehalt ohne grössere Bedeutung geblieben. Es ist unbestritten, dass die Voraussetzungen einer Massnahme, soweit sie dem psychiatrischen Fachbereich zuzuordnen sind, regelmässig gutachterlich abgestützt sein müssen, fehlt doch den Angehörigen der Justiz der nötige Erfahrungshorizont zur zuverlässigen Beurteilung dieser Aspekte. Zudem wird das den Gerichtsbehörden eingeräumte Ermessen faktisch deshalb nicht zum Tragen kommen, weil zumeist im Voraus kaum abschätzbar ist, welche Massnahmen Wirkung entfalten könnten. Schliesslich ist im Anwendungsbereich von Art. 44 StGB zu beachten, dass selbst bei eindeutigen Störungsbildern, wie sie bei Drogenabhängigkeit nicht selten sind, Drogenmissbrauch häufig mit anderen psychischen Störungen einhergeht. Deshalb dürfen sich die Entscheidungsträger bei Fragen nach der Notwendigkeit von Abklärungen nicht dazu verleiten lassen, ihr Augenmerk einzig auf die deutlichen Symptome der Suchtproblematik zu richten (vgl. zum Ganzen BGE 128 IV 241 E. 3.1 mit Hinweisen). 
 
Auch in der Lehre besteht Einigkeit darüber, dass sich die psychische Abhängigkeit, die Therapiebedürftigkeit und die Zweckmässigkeit bestimmter Massnahmen von den gerichtlichen Behörden ohne den Beizug von Sachverständigen meist nicht bewerten lassen (Marianne Heer, Basler Kommentar, Strafgesetzbuch I, N. 39 f. zu Art. 44; Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, 1989, § 12 N 20; Hans Schultz, Einführung in den allgemeinen Teil des Strafrechts, Bd. II, 4. Auflage 1982, S. 168; siehe ferner BGE 116 IV 1b am Ende; 115 IV 90 E. 3c). 
3.3 An der Notwendigkeit psychiatrischer Begutachtung vermag auch der Umstand nichts zu ändern, dass die Vorinstanz zum Ergebnis gelangte, die Aggression des Beschwerdeführers gegenüber seiner Ehefrau - und damit dessen Verurteilung wegen einfacher Körperverletzung i.S.v. Art. 123 Ziff. 1 Abs. 1 StGB - stehe in keinem Zusammenhang mit seiner Drogensucht (angefochtenes Urteil S. 9). Ganz abgesehen davon, dass die Vorinstanz diese Schlussfolgerung in keiner Weise begründet, ist hervorzuheben, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen Suchterkrankung und Deliktsbegehung nicht einzig in Fällen direkter oder indirekter Beschaffungskriminalität regelmässig erfüllt ist, sondern dass der Einfluss bewusstseinsverändernder Substanzen namentlich auch bei so genannten "Aggressionsdelikten" eine nicht unwesentliche Rolle spielt (Heer, a.a.O., N. 13 zu Art. 44). Zur verlässlichen Beurteilung dieser Frage mangelt es den gerichtlichen Behörden in aller Regel an der erforderlichen Fachkompetenz, so dass auch insoweit grundsätzlich kein Weg am Beizug von Sachverständigen vorbeiführt. 
3.4 In der Praxis allerdings wird diese weitreichende Abklärungspflicht insofern relativiert, als dass in einfachen Fällen von weniger grosser Tragweite - wie etwa bei der Anordnung ambulanter Massnahmen - nach dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit auf ein umfassendes Gutachten verzichtet werden kann. Selbst in solchen Konstellationen müssen sich die massgeblichen Fragen aber zumindest auf Grund eines so genannten Kurzgutachtens oder eines ärztlichen Berichts beantworten lassen (BGE 128 IV 241 E. 3.1). 
 
Vorliegend sind keine näheren, von Fachpersonen erstellten Informationen über den aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers vorhanden. Gestützt auf Art. 13 StGB wäre die Vorinstanz jedoch vor der Anordnung einer ambulanten Massnahme gehalten gewesen, solche weiterführenden Abklärungen von Amtes wegen in die Wege zu leiten. Dieser Verpflichtung zum Beizug von Sachverständigen kann sie sich insbesondere nicht mit dem Hinweis darauf entledigen, der Beschwerdeführer selbst habe die Einreichung entsprechender Gutachten bzw. Berichte zwar ausdrücklich in Aussicht gestellt, diese aber schliesslich trotzdem nicht vorgelegt. 
 
Es wird Aufgabe der Vorinstanz sein zu prüfen, ob die Einholung eines blossen Kurzgutachtens resp. eines Arztberichts im konkreten Fall den gesetzlichen Anforderungen gerecht, d.h. als Grundlage für die Verhängung von Massnahmen genügen würde, oder ob eine eingehende psychiatrische Untersuchung des Beschwerdeführers zur Beurteilung der Massnahmebedürftigkeit wie auch der Zweckmässigkeit allfälliger Behandlungen unentbehrlich ist. 
 
Die Nichtigkeitsbeschwerde ist folglich gutzuheissen, der angefochtene Entscheid aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
4. 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos; der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist angemessen zu entschädigen (Art. 278 Abs. 3 BStP). 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 23. Mai 2006 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückgewiesen. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben. 
3. 
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Roland Egli-Heine, wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- aus der Bundesgerichtskasse ausgerichtet. 
4. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, II. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 15. November 2006 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: