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[AZA 7] 
I 373/01 Go 
 
IV. Kammer 
 
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; 
Gerichtsschreiber Hochuli 
 
Urteil vom 2. Mai 2002 
 
in Sachen 
Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer, 
 
gegen 
Z.________, 1990, Beschwerdegegner, handelnd durch seine Mutter V.________, Sur le Brand, 2610 Mont-Soleil, 
 
und 
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern 
 
A.- Mit Verfügung vom 30. November 2000 lehnte die IV-Stelle des Kantons Bern das wegen eines diagnostizierten frühkindlichen psychoorganischen Syndroms (POS) eingereichte Gesuch um Gewährung medizinischer Massnahmen (Ergotherapie) für den 1990 geborenen Z.________ ab, weil kein anspruchsbegründendes Geburtsgebrechen vorliege. 
 
B.- Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 26. April 2001 gut und sprach Z.________ die beantragten medizinischen Massnahmen zu Lasten der Invalidenversicherung zu. 
 
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des angefochtenen Entscheids. 
Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet Z.________ auf eine Vernehmlassung. 
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung: 
 
1.- Strittig und zu prüfen ist, ob Z.________ einen Anspruch auf Übernahme der Ergotherapie als medizinische Massnahme zu Lasten der Invalidenversicherung hat. 
 
2.- a) Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. 
Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für welche diese Massnahmen gewährt werden; er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2). 
Als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG gelten Gebrechen, die bei vollendeter Geburt bestehen. Die blosse Veranlagung zu einem Leiden gilt nicht als Geburtsgebrechen. 
Der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, ist unerheblich (Art. 1 Abs. 1 GgV). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang zur GgV aufgeführt; das Eidgenössische Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in dieser Liste enthalten sind, als solche im Sinne von Art. 13 IVG bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV). 
 
b) Ziff. 404 GgV Anhang umschreibt folgendes Geburtsgebrechen: 
Kongenitale Hirnstörungen mit vorwiegend psychischen und kognitiven Symptomen bei normaler Intelligenz (kongenitales infantiles Psychosyndrom, kongenitales hirndiffuses psychoorganisches Syndrom, kongenitales hirnlokales Psychosyndrom), sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor Vollendung des 9. Altersjahres behandelt worden sind. 
Nach der Verwaltungspraxis gelten die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang als erfüllt, wenn vor Vollendung des 9. Altersjahres mindestens Störungen des Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigung der Affektivität oder der Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit ausgewiesen sind. 
Diese Symptome müssen kumulativ nachgewiesen sein, wobei es genügt, wenn sie nicht alle gleichzeitig, sondern erst nach und nach auftreten. Werden bis zum 9. Geburtstag nur einzelne der erwähnten Symptome ärztlich festgestellt, sind die Voraussetzungen für Ziff. 404 GgV Anhang nicht erfüllt (Rz 404. 5 des Kreisschreibens des BSV über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME] in der ab 1. Januar 1994 gültigen Fassung [gleichbedeutend: 
Rz 404. 5 in der ab 1. November 2000 gültigen Fassung]). 
Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat gestützt auf die ständige Rechtsprechung zu den früher gültigen Verordnungsbestimmungen und Verwaltungsweisungen einerseits die Gesetzmässigkeit der Ziff. 404 GgV Anhang (in der seit 1. Januar 1986 geltenden Fassung) und anderseits die Verordnungskonformität der seit 1. Juni 1986 im wesentlichen unveränderten Verwaltungsweisungen (Rz 404. 5 KSME) bestätigt (ZAK 1988 S. 610 Erw. 1a mit Hinweisen; nicht veröffentlichte Urteile H. vom 7. Mai 1992, I 299/91, und M. vom 10. Oktober 1994, I 213/94). Die Verordnungsregelung beruht auf der medizinisch begründeten Annahme, dass das Gebrechen vor der Vollendung des 9. Altersjahres diagnostiziert und behandelt worden wäre, wenn es angeboren gewesen wäre (BGE 122 V 114 Erw. 1b, 105 V 22 Erw. b in fine, ZAK 1984 S. 32 Erw. 1). 
 
3.- a) Gestützt auf die vorliegenden Unterlagen steht fest und ist unbestritten, dass Z.________ die beiden eben genannten Anspruchsvoraussetzungen (vgl. Erw. 2b hievor: 
Diagnosestellung und Behandlung vor Vollendung des 
9. Altersjahres) erfüllt. Kinderarzt Dr. med. K.________, diagnostizierte erstmals im achten Lebensjahr des Versicherten (gemäss Bericht vom 31. Juli 1998 im März 1998) ein frühkindliches POS als Geburtsgebrechen im Sinne von Ziffer 404 GgV Anhang, das auf seine Verordnung hin seit Mai 1998 ergotherapeutisch behandelt wurde. Auch der Kinder- und Jugendpsychologe D.________ von der Kantonalen Erziehungsberatung B.________, der den Versicherten im Auftrag der IV-Stelle untersucht hatte, bestätigte mit Bericht vom 1. Dezember 1998, dass Ergotherapie angezeigt sei und fortgeführt werden sollte, wobei "später Spezialunterricht nötig" sein werde. 
 
 
b) Strittig ist jedoch, ob ein Intelligenzquotient (IQ) von 75 eine (weitere) Voraussetzung für die Übernahme der Ergotherapie als medizinische Massnahme unter dem Titel Geburtsgebrechen im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang darstellt, wie dies das BSV mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend macht. Das BSV weist darauf hin, dass die Abklärung des Versicherten durch den Kinderpsychologen D.________ einen IQ von 65 ergeben habe; ein Ergebnis, das "mit 10 Punkten deutlich unterhalb des massgebenden Grenzwertes" liege. Im Übrigen verweist das BSV auf ZAK 1983 S. 495 ff. 
 
aa) Zur grundsätzlichen Bedeutung des Begriffs "Intelligenzquotient" wies das Eidgenössische Versicherungsgericht in EVGE 1968 S. 55 f. Erw. 2f auf folgende Punkte hin (vgl. dazu das Gutachten, das in EVGE 1961 S. 322 erstattet wurde [publiziert in der Schweiz. Zeitschrift für Sozialversicherung, 1962, S. 29]; H. Hiltmann, Kompendium der psychodiagnostischen Tests, 2. Aufl. , 1966; ZAK 1962 S. 50 ff., vor allem S. 54/55). Der sogenannte Intelligenz-Quotient gäbe lediglich über das Verhalten der Versuchsperson zu den Aufgaben eines bestimmten Tests Auskunft. Ob die Versuchsperson hinsichtlich eines anderen Tests oder gegenüber den allgemeinen Anforderungen des Lebens relativ gleich viel zu leisten imstande sei, lasse sich bloss vermuten. Bedeutende Unterschiede seien möglich. So hätten die Fachleute in EVGE 1961 S. 322 einen Intelligenzquotienten von 85 nach Binet-Kramer, von 77 nach Binet-Simon-Probst und von 99 nach Hamburg-Wechsler ermittelt (EVGE 1968 S. 55 f.). Dass die Bedeutung des Intelligenzquotienten als Massstab für eine Vielzahl von kognitiven Fähigkeiten zu relativieren ist, zeigt sich unter anderem auch daran, dass dem Klinischen Wörterbuch von Pschyrembel in der 256. Auflage (Berlin und New York, 256. Aufl. 1990, S. 1205) zum Stichwort "Oligophrenie" noch eine Aufteilung in Unterbegriffe anhand einer Klassifikation nach den IQ-Werten zu entnehmen war (vgl. dazu nachfolgen Erw. 
3b/dd), während die aktuelle Ausgabe (Pschyrembel, a.a.O., 259. Auflage 2002, S. 1208) den Begriff "Oligophrenie" abschliessend nur noch als "veraltete Bezeichnung für geistige Behinderung" aufführt (vgl. dazu auch Roche, Lexikon Medizin, München-Wien-Baltimore, 4. Aufl. 1998, S. 1233). 
 
bb) Die Vorinstanz verwies zutreffend auf KSME Randziffer 404. 5, welche die Anspruchsvoraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang aufzählt, ohne von "normaler Intelligenz" zu sprechen und insbesondere ohne zu erläutern, welche Bedeutung diesem Kriterium gegebenenfalls zukomme und wie bzw. 
von wem es zu prüfen sei. KSME Randziffer 404. 1 erwähnt einzig, dass kongenitale Oligophrenie ausschliesslich nach Ziff. 403 GgV Anhang zu behandeln ist. Auch das Eidgenössische Versicherungsgericht hat sich in der in BGE 122 V 113 zusammengefassten Rechtsprechung zum POS gemäss Ziff. 404 GgV Anhang nicht zu einer allfälligen Anspruchsvoraussetzung der normalen Intelligenz geäussert. 
 
 
cc) Im Urteil K. vom 10. August 1983 (ZAK 1983 S. 496 Erw. 2a) entschied das Eidgenössische Versicherungsgericht, die Ziff. 404 (der Verordnung vom 20. Oktober 1971 über Geburtsgebrechen in der bis zum 31. Dezember 1985 gültig gewesenen Fassung [der Zusatz "bei normaler Intelligenz" fehlte in der damaligen Fassung von Ziff. 404]) betreffe offensichtlich nicht Störungen der gesamten Intelligenzfunktion im Sinne von Schwachsinn mit einem IQ unter 75; das bei Debilität, Imbezillität oder Idiotie vorhandene organische Hirnschädigungsbild werde IV-rechtlich dem Begriff eines infantilen POS im Sinne von Ziff. 404 nicht gleichgestellt - mit der Folge, dass die IV gemäss dieser Ziffer auch normalintelligenten Kindern mit entsprechender psychischer und kognitiver Symptomatik medizinische Leistungen gewähren könne. Deshalb werde mit der Ausschlussklausel in Ziff. 404 angeordnet, dass die kongenitalen Oligophrenien ausschliesslich unter Ziff. 403 zu subsumieren seien. 
"Oligophrenie" stellt eine "allgemeine Bezeichnung für [einen] ätiologisch uneinheitlichen, angeborenen oder frühzeitig erworbenen Intelligenzdefekt" dar, wobei die Einteilung in Schweregrade anhand des Hamburg-Wechsler-Intelligenztests erfolgt; die Bezeichnung Debilität steht für einen IQ von 60-79, die Bezeichnung Imbezillität für einen IQ von 40-59 und die Bezeichnung Idiotie für einen Wert kleiner als 40 (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, Berlin und New York, 256. Aufl. 1990, S. 1205). 
 
dd) Die Aufnahme des Zusatzes "bei normaler Intelligenz" in Ziff. 404 GgV Anhang gemäss Neufassung der Verordnung über Geburtsgebrechen vom 9. Dezember 1985 (in Kraft seit 1. Januar 1986) knüpft an das eben genannte Urteil (K. 
vom 10. August 1983 [ZAK 1983 S. 496 Erw. 2a]) an. Die vom BSV angerufene Rechtsprechung, wonach gemäss Ziff. 404 ausdrücklich "auch" normalintelligenten Kindern mit entsprechender Symptomatik medizinische Leistungen gewährt werden können (ZAK 1983 S. 496 Erw. 2a), schliesst mit Blick auf den vorliegenden Fall nicht aus, dass einem Kind mit infantilem POS und weiteren Behinderungen bei bei einem IQ von weniger als 75 unter dem Titel von Ziff. 404 GgV medizinische Massnahmen gewährt werden können, sofern nicht ausdrücklich eine "kongenitale Oligophrenie" im Sinne von Ziff. 403 GgV Anhang festgestellt worden ist, welche gegebenenfalls nur einen Anspruch auf Behandlung von erethischem und apathischem Verhalten vermittelt. Nach dem Gesagten ist der Zusatz "bei normaler Intelligenz" gemäss Ziff. 404 GgV Anhang nur im Sinne einer Verdeutlichung der Abgrenzung mit Ausschliesslichkeitscharakter gegenüber der "kongenitalen Oligophrenie" nach Ziff. 403 GgV Anhang zu verstehen. Der Auffassung des BSV, wonach die Anerkennung eines frühkindlichen POS als Geburtsgebrechen nach Ziff. 404 GgV Anhang einen IQ von mindestens 75 voraussetze, kann demnach nicht gefolgt werden. 
 
 
 
ee) Von "Oligophrenie" ist in den vorliegenden Akten nirgendwo die Rede. Vielmehr stellte Dr. med. K.________, dem der Versicherte wegen massiver Schulprobleme auf Empfehlung seines Lehrers zugewiesen worden war, neben dem frühkindlichen POS akustische Wahrnehmungsstörungen, gestörte Koordination und Feinmotorik sowie einen Verdacht auf Dyskalkulie und Legasthenie fest, ohne dass der Kinderarzt oder der Lehrer den IQ als pathologisch bezeichnet hätten (Bericht vom 31. Juli 1998). Die Vorinstanz hat somit im Ergebnis zu Recht erkannt, dass die beantragte Ergotherapie als medizinische Massnahme unter dem Titel eines Geburtsgebrechens nach Ziff. 404 GgV Anhang zu Lasten der Invalidenversicherung zu übernehmen ist. 
 
4.- Ob allenfalls Sonderschulmassnahmen nach Art. 19 IVG in Betracht fallen (gestützt auf den IQ von weniger als 75 [vgl. Art. 8 Abs. 4 lit. a IVV] im Vorschulalter z.B. im Sinne von Art. 10 Abs. 2 lit. c IVV oder ab Kindergartenstufe z.B. im Sinne von Art. 8ter Abs. 2 lit. c und d IVV), welche nicht an das Erfordernis erwerblich-beruflicher Eingliederung gebunden sind (Art. 8 Abs. 2 IVG), ist nicht in diesem Verfahren zu beurteilen (vgl. unveröffentlichte Urteile B. vom 10. März 1995, I 301/94, Erw. 5d und L. vom 17. Februar 1994, I 326/93, Erw. 4). 
 
 
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht: 
 
I. Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen. 
 
II. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. 
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern und 
 
 
dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt. 
Luzern, 2. Mai 2002 
Im Namen des 
Eidgenössischen Versicherungsgerichts 
Die Präsidentin der IV. Kammer: 
 
i.V. 
 
Der Gerichtsschreiber: