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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
6S.211/2003 /kra 
 
Urteil vom 27. April 2004 
Kassationshof 
 
Besetzung 
Bundesrichter Schneider, Präsident, 
Bundesrichter Karlen, Zünd, 
Gerichtsschreiber Weissenberger. 
 
Parteien 
X.________, 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Ludwig Müller, 
 
gegen 
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Postfach, 8023 Zürich. 
 
Gegenstand 
Fahrlässige Tötung; Zurechnungsfähigkeit, 
 
Nichtigkeitsbeschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 7. April 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
X.________ war am 16. August 2000 damit betraut, im Serviceschacht zum Heizungsraum der Kantonsschule Bülach zusammen mit dem tags zuvor angestellten A.________ drei Heizkessel zu verschieben. X.________ liess A.________ alleine und ohne ausreichende Überwachungsmöglichkeit auf der Stirnseite des Heizkessels arbeiten. A.________ nahm in der Folge auf seiner Seite einen unsachgemässen und instabilen Unterbau des Heizkessels vor. X.________ überprüfte den Unterbau nicht. In Absprache mit ihm kroch A.________ unter den Heizkessel, um für den weiteren Verschiebungsvorgang die Panzerrollen zu unterbauen. Anschliessend verlangte er dafür nach weiteren Brettern. X.________ wies A.________ an, auf seine Rückkehr zu warten. Während er zusätzliche Bretter holen ging, stürzte der Heizkessel auf den Brustkorb des in diesem Moment rücklings unter dem Heizkessel liegenden A.________. Dieser erlitt dabei tödliche Verletzungen (Urteil Bezirksgericht, S. 7, 11, 13; angefochtenes Urteil, S. 17). 
B. 
Das Obergericht des Kantons Zürich sprach X.________ am 7. April 2003 zweitinstanzlich der fahrlässigen Tötung im Sinne von Art. 117 StGB schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 1'000.--. Es ordnete ferner die Löschung des Eintrags der Busse im Strafregister nach Ablauf einer Probezeit von einem Jahr an. 
 
Mit Zirkulationsbeschluss vom 25. Dezember 2003 wies das Kassationsgericht des Kantons Zürich eine Nichtigkeitsbeschwerde von X.________ ab, soweit es darauf eintrat. 
C. 
X.________ erhebt eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. 
 
Das Obergericht des Kantons Zürich verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe entgegen Art. 13 Abs. 1 StGB kein psychiatrisches Gutachten zur Frage seiner Zurechnungsfähigkeit eingeholt. Sein Hausarzt habe ihm nur wenige Tage vor dem Unfall eröffnet, er leide möglicherweise unter Multipler Sklerose. Der Hausarzt habe mit Schreiben vom 7. August 2000 einen spezialisierten Berufskollegen gebeten, den Beschwerdeführer neurologisch zu untersuchen. Er habe im Schreiben darauf hingewiesen, dass der Beschwerdeführer seit Herbst 1999 bei sich einen allgemeinen Leistungsknick und Konzentrationsstörungen festgestellt habe, welche zu Fehlleistungen am Arbeitsplatz geführt hätten. Diese und weitere Symptome seien vom Spezialisten ebenfalls festgestellt worden. Ausgehend von der krankheitsbedingten körperlichen und psychischen Beeinträchtigung hätte die Vorinstanz ernsthaften Anlass zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit des Beschwerdeführers haben müssen. 
1.1 Gemäss Art. 13 Abs. 1 StGB ist eine Untersuchung des Beschuldigten anzuordnen, wenn Zweifel an dessen Zurechnungsfähigkeit bestehen. Der Richter soll seine Zweifel nicht selber beseitigen, etwa indem er psychiatrische Fachliteratur beizieht. Vielmehr ergibt sich aus Art. 13 Abs. 2 StGB, dass er bei Zweifeln einen Sachverständigen beiziehen muss. Art. 13 StGB gilt nicht nur, wenn der Richter tatsächlich Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit hat, sondern auch, wenn er nach den Umständen des Falles Zweifel haben sollte (BGE 119 IV 120 E. 2a; 116 IV 273 E. 4a; 106 IV 242 E. 1a mit Hinweisen). Dabei genügt es, wenn ernsthafter Anlass zu Zweifeln an der Zurechnungsfähigkeit auf Grund eines solchen Umstandes bestand bzw. hätte bestehen müssen (BGE 98 IV 156 E. 1). Das Bundesgericht hat dies beispielsweise angenommen bei Drogenabhängigkeit (BGE 102 IV 74 und 106 IV 241 E. 2), bei einer Frau, die mit einer schizophrenen Tochter zusammenlebte (BGE 98 IV 157), bei einem Sexualdelinquenten mit möglicherweise abnorm starkem Geschlechtstrieb (BGE 71 IV 193) sowie bei einem Ersttäter, bei dem der Beginn der Straffälligkeit mit dem Ausbruch einer schweren allergischen oder psychosomatischen Hautkrankheit zusammenfiel (BGE 118 IV 6). 
 
Die Notwendigkeit, einen Sachverständigen zuzuziehen, ist erst gegeben, wenn Anzeichen vorliegen, die geeignet sind, Zweifel hinsichtlich der vollen Schuldfähigkeit zu erwecken, wie etwa ein Widerspruch zwischen Tat und Täterpersönlichkeit oder völlig unübliches Verhalten. Ein Sachverständiger ist ferner beizuziehen, wenn sich aus einem bei den Akten befindlichen Strafregisterauszug ergibt, dass ein Angeklagter in einem früheren Verfahren für vermindert schuldfähig erklärt worden war, wenn er in ärztlicher Behandlung stand oder steht, wenn die Schuldfähigkeit eines Epileptikers, eines geistig Zurückgebliebenen, eines Schwachsinnigen oder eines Hirngeschädigten zu beurteilen ist, sowie bei altersbedingtem psychischem Abbau, wenn die Tatausführung auffällige Eigenheiten zeigt oder die Tat mit der bisherigen Lebensführung unvereinbar erscheint. Gleiches kann, je nach den Umständen, bei wiederholten Sexualdelikten oder bei einer erstmals nach dem Klimakterium auftretenden Kriminalität gelten, wenn die Schuldfähigkeit durch Affektzustände beeinträchtigt sein kann oder wenn der Angeklagte seelische Abartigkeiten zeigt oder wenn in seiner bisherigen Lebensführung oder bei der seiner Angehörigen besondere Auffälligkeiten aufgetreten sind (BGE 116 IV 273 E. 4a). 
1.2 Nach den verbindlichen tatsächlichen Feststellungen der Vorinstanz litt der Beschwerdeführer im Unfallzeitpunkt schon seit längerem an Multipler Sklerose (angefochtenes Urteil, S. 11). Die Vorinstanz lehnt eine Begutachtung der Zurechnungsfähigkeit mit folgender Begründung ab: 
 
Die Aussagen des Beschwerdeführers im Verlauf der Untersuchung seien sehr kohärent und reich an Details gewesen. Bereits in der ersten Einvernahme am 16. August 2000 habe er den Ablauf der Geschehnisse und Details geschildert, wie etwa das Zurechtrücken des Heizkessels auf seiner Seite. Auch seine Wahrnehmung der Umgebung sei ungetrübt gewesen, habe er doch angeben können, wo sich alle drei übrigen Mitarbeiter im Unfallzeitpunkt befunden hätten und wie gross der Heizkessel gewesen sei. Mit dem späteren Opfer habe er sich abgesprochen, wer auf welcher Seite arbeite. Nachdem der Beschwerdeführer den Unfall festgestellt habe, habe er sofort zwei Arbeitskollegen um Hilfe gerufen. Ferner habe er den Vorgang zur Verschiebung des Heizkessels detailreich und folgerichtig geschildert. Er habe insbesondere bestätigt, dass er vor dem Beginn des Verschiebemanövers des Heizkessels die Panzerrollen unter dem Heizkessel neu habe positionieren müssen, weil sie am Vortag schlecht gestellt worden seien und der Heizkessel hätte umkippen können. Sodann habe er das Verschieben von zwei weiteren Kesseln zusammen mit dem späteren Opfer klar beschreiben können. Auf Hinweise zu Widersprüchen in seinen Aussagen habe der Beschwerdeführer in der letzten von insgesamt drei Befragungen am 16. August 2000 logisch und nachvollziehbar geantwortet. Ferner habe er die Protokolle handschriftlich mit logisch scheinenden Änderungen präzisiert. 
 
Zusammenfassend ergebe sich, dass keine der am Unfalltag durchgeführten Einvernahmen Hinweise enthielten auf ein spezielles Verhalten des Beschwerdeführers, etwa Unpässlichkeiten, gravierende Gedächtnislücken, "Aussetzer" oder Überforderung. Solches habe der Beschwerdeführer im ganzen Verfahren auch nicht geltend gemacht. Nach seinen detaillierten Schilderungen über den Verschiebevorgang des fraglichen Heizkessels und des Unfallherganges bestünden keine Zweifel an seiner vollen Zurechnungsfähigkeit im damaligen Zeitpunkt. Der Beschwerdeführer habe offenbar den unsicheren Aufbau des Heizkessels vom Vortag bemerkt und zusammen mit dem späteren Opfer korrigiert. Er habe diesen auf der anderen Seite des Heizkessels im Montageschacht arbeiten lassen und ihm Arbeitsanweisungen gegeben. Die Kommunikation zwischen ihm und dem späteren Opfer habe bis kurz vor dem Unfall problemlos funktioniert. Der Beschwerdeführer habe nach dem Unfall festgestellt, dass wahrscheinlich die Kanthölzer auf der Seite des Opfers voneinander gefallen seien. Er sei ferner der Auffassung gewesen, dass er - wenn er auf der Seite des Opfers gewesen wäre - gewusst hätte, wie er die Hölzer hätte unterlegen müssen. Aus dem Gesagten ergebe sich, dass mangels Anhaltspunkte für eine Trübung des Bewusstseins oder einen "Aussetzer" des Beschwerdeführers im fraglichen Zeitraum keine Begutachtung im Sinne von Art. 13 Abs. 1 StGB anzuordnen sei (angefochtenes Urteil, S. 13 ff.). 
1.3 Dem Beschwerdeführer ist einzuräumen, dass Multiple Sklerose je nach Krankheitsbild und Delikten sowie Begehungsform zur Verminderung oder gar zum Ausschluss der Steuerungsfähigkeit führen kann. Multiple Sklerose ist primär eine entzündliche Erkrankung des Zentralnervensystems, die zu einer Vielzahl von Symptomen führen kann. In Betracht kommen u.a. zerebrale und spinale Symptome, insbesondere spastische Paresen und Sensibilitätsstörungen. Vor allem in späten Krankheitsstadien können psychische Symptome wie hirnorganisches Psychosyndrom, depressives Syndrom, Euphorie, reaktive Störungen, sowie (selten) paranoide Psychose auftreten (Pschyrembel, klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., Berlin/New York 2002, S. 1092 f.; vgl. auch Günther Latzel/Elisabeth Fischbacher, Aide informelle et aide professionelle en Suisse pour les personnes atteintes de sclérose en plaques: résultats d'un travail de recherche, Sécurité sociale 2000, Heft 2, S. 88 ff.). 
 
Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, er habe die Errichtung des Unterbaus durch das Opfer nicht beaufsichtigt und den Unterbau nicht geprüft, bevor das Opfer unter den Heizkessel gekrochen sei (angefochtenes Urteil, S. 24 ff.). Es handelt sich dabei nicht um einen kurzen Augenblick, sondern um eine längere Zeitdauer. Die vom Beschwerdeführer, seinen Ärzten und seinem Vorgesetzten vorgebrachten Krankheitssymptome (vgl. angefochtenes Urteil, S. 11 f.) wie chronische Müdigkeit, Langsamkeit im Denken und Handeln, Gefühllosigkeit auf der linken Körperhälfte, Schwierigkeiten, Konstruktionspläne in die räumlichen Gegebenheiten umzusetzen und logische Schlüsse zu ziehen, Beeinträchtigung des Erinnerungsvermögens sowie ein "Kribbeln" bzw. "Ameisen" im Kopf begründen insoweit keine ernsthaften Zweifel an seiner Zurechnungs- bzw. Steuerungsfähigkeit im Zeitpunkt des Vorfalls. Wie die Vorinstanz zutreffend ausführt, sind die Aussagen des Beschwerdeführers am Unfalltag zum Geschehensablauf durchwegs klar und logisch. Sie enthalten keine Anhaltspunkte, die auf ein krankheitsbedingtes, mit der von der Vorinstanz bejahten Sorgfaltspflichtverletzung übereinstimmendes Versagen hinweisen würden. Aufgrund der Aktenlage spricht mit anderen Worten nichts für einen Zusammenhang der Krankheitssymptome des Beschwerdeführers mit seinem sorgfaltswidrigen Verhalten am Unfalltag. Zudem macht der Beschwerdeführer nicht geltend, er sei krankheitsbedingt depressiv und mit seinen Gedanken abwesend gewesen. Unter diesen Umständen ist es bundesrechtlich nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz auf den Beizug eines Sachverständigen verzichtet hat. 
2. 
Die Nichtigkeitsbeschwerde erweist sich somit als unbegründet und ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 278 BStP). Seiner finanziellen Lage wird mit einer reduzierten Gerichtsgebühr Rechnung getragen. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen. 
2. 
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 27. April 2004 
Im Namen des Kassationshofes 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: