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Tribunale federale 
Tribunal federal 
 
{T 0/2} 
1P.731/2003 /grl 
 
Urteil vom 23. März 2004 
I. Öffentlichrechtliche Abteilung 
 
Besetzung 
Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident, 
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, 
Bundesrichter Féraud, 
Gerichtsschreiberin Gerber. 
 
Parteien 
A.________, 
p.A. Rechtsanwalt Martin Schnyder, 
Beschwerdeführer, 
 
gegen 
 
Büro des Grossen Rates des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude, 8510 Frauenfeld Kant. Verwaltung. 
 
Gegenstand 
Richtlinien des Büros des Grossen Rates des Kantons Thurgau zur Umsetzung von § 29 Absatz 2 der Kantonsverfassung betreffend Unvereinbarkeit, 
 
Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Entscheid des Büros des Grossen Rates des Kantons Thurgau vom 27. November 2003. 
 
Sachverhalt: 
A. 
§ 29 der Thurgauer Kantonsverfassung vom 16. März 1987 (KV) trägt die Überschrift "Unvereinbarkeit" und lautet: 
1 Niemand darf seiner unmittelbaren Aufsichtsbehörde angehören. 
2 Die Mitglieder des Regierungsrates, der Staatsschreiber, die Mitglieder und Ersatzmitglieder des Obergerichtes, des Verwaltungsgerichtes, der Anklagekammer und der Rekurskommissionen sowie die nicht vom Volk gewählten Mitarbeiter der Bezirksgerichte und der Gerichte und Verwaltungen des Kantons und seiner öffentlich-rechtlichen Anstalten dürfen nicht dem Grossen Rat angehören. 
3 Mitglieder und Ersatzmitglieder eines Gerichtes oder einer Gemeindebehörde dürfen nicht dem Regierungsrat angehören. 
4 Weitere Unvereinbarkeiten regelt das Gesetz." 
B. 
Am 17. November 2003 erliess das Büro des Grossen Rates Richtlinien zur Umsetzung von § 29 Abs. 2 KV betreffend Unvereinbarkeit. Diese haben folgenden Wortlaut: 
1. Das Büro des Grossen Rates legt als Richtlinien zur Handhabung der Unvereinbarkeitsbestimmungen gemäss § 29 Abs. 2 der Kantonsverfassung fest: 
 
Dem Grossen Rat dürfen angehören: 
a. Nicht vom Volk gewählte Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen der Bezirksgerichte sowie der Gerichte und Verwaltungen des Kantons und seiner öffentlich-rechtlichen Anstalten, deren Jahrespensum höchstens 15 Prozent des betreffenden Vollpensums beträgt; 
b. Angestellte der Bezirksgerichte sowie der Gerichte und Verwaltungen des Kantons und seiner öffentlich-rechtlichen Anstalten in einmaliger auf höchstens ein Jahr befristeter Anstellung; 
c. Praktikanten oder Praktikantinnen der Bezirksgerichte sowie der Gerichte und Verwaltungen des Kantons und seiner öffentlich-rechtlichen Anstalten in einmaliger auf höchstens ein Jahr befristeter Anstellung. 
2. Das Büro des Grossen Rates sorgt für die Einhaltung dieser Richtlinien." 
Die Richtlinien wurden im Amtsblatt vom 28. November 2003 veröffentlicht und sollen ab 26. Mai 2004 gültig sein. 
C. 
Am 1. Dezember 2003 erhob A.________ Stimmrechtsbeschwerde an das Bundesgericht. Er beantragt, der Entscheid des Büros des Grossen Rats vom 17. November 2003 sei aufzuheben. Das Büro des Grossen Rats beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. 
 
In seiner verspätet eingereichten Replik hält der Beschwerdeführer an seinen Anträgen fest und regt an, eine Verschiebung oder spätere Aufhebung der Grossratswahlen des Kantons Thurgau in Betracht zu ziehen, weil deren Vorbereitungen von den Richtlinien beeinflusst worden seien. 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung: 
1. 
Gemäss Art. 85 lit. a OG beurteilt das Bundesgericht Beschwerden betreffend die politische Stimmberechtigung der Bürger und betreffend kantonale Wahlen und Abstimmungen. 
1.1 Das Stimmrecht schliesst nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts den Anspruch ein, dass die durch das Volk gewählten Behörden nicht mit Personen besetzt werden, welche ein bestimmtes Amt aufgrund einer Unvereinbarkeit nicht übernehmen dürfen (BGE 128 I 34 E. 1b S. 36; 116 Ia 242 E. 1a S. 244, 477 E. 1a S. 480; 114 Ia 395 E. 3b S. 399 ff.). Die Rüge, durch die Richtlinien würde die Unvereinbarkeit gemäss § 29 Abs. 2 KV unzulässig eingeschränkt, ist daher grundsätzlich mit Stimmrechtsbeschwerde vorzubringen. 
1.2 Anfechtungsobjekt der Stimmrechtsbeschwerde können - im Gegensatz zur staatsrechtlichen Beschwerde nach Art. 84 Abs. 1 OG - nicht nur kantonale Erlasse oder Verfügungen (Entscheide) sein, sondern grundsätzlich alle staatlichen Handlungen, die geeignet sind, die politischen Rechte der Stimmbürger zu verletzen (Andreas Auer, La juridiction constitutionnelle en Suisse, Basel/Frankfurt a.M. 1993, Rz 431 S. 223; Auer/Malinverni/Hottelier, Droit constitutionnel suisse, vol. I, Bern 2000, Rz 2001 S. 720; Walter Kälin, Staatsrechtliche Beschwerde, 2. Aufl., S. 152/153; Christoph Hiller, Die Stimmrechtsbeschwerde, Zürich 1990, S. 165 f.). In BGE 123 I 97 E. 1b/dd S. 102 hielt das Bundesgericht fest, für die Zulässigkeit der Stimmrechtsbeschwerde sei entscheidend, dass die angefochtenen Vorschriften das Stimmrecht in ihrer Wirkung direkt berührten. 
1.3 Zu prüfen ist, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Verwaltungsverordnungen (Weisungen, Richtlinien, etc.), die sich an der Dienstaufsicht unterstellte Personen richten bzw. verwaltungsinterne und organisatorische Zwecke verfolgen, aber keine Rechte und Pflichten der Bürger umschreiben, Gegenstand der Stimmrechtsbeschwerde sein können. 
 
Die Rechtsprechung zur staatsrechtlichen Beschwerde gemäss Art. 84 OG lässt die direkte und abstrakte Anfechtung von Verwaltungsverordnungen wie etwa Weisungen nur zu, soweit sie geschützte Rechte des Bürgers berühren und somit Aussenwirkung entfalten, und wenn gestützt darauf keine Verfügungen bzw. Anordnungen getroffen werden, deren Anfechtung möglich und dem Betroffenen zumutbar ist (BGE 128 I 167 E. 4.3 S. 171 ff., mit zahlreichen Hinweisen). Diese Rechtsprechung beruht auf der Überlegung, dass ein aktuelles Rechtsschutzbedürfnis in der Regel erst besteht, wenn eine Weisung oder Richtlinie im konkreten Fall angewendet wird; erst dann werden die verfassungsmässigen Rechte des Bürgers berührt. 
 
Diese Überlegung gilt grundsätzlich auch im Bereich der Stimmrechtsbeschwerde. Generell-abstrakte Weisungen oder Richtlinien, die nur verwaltungsintern verbindlich sind, können die politischen Rechte der Stimmbürger nicht direkt beschränken; erst ihre Anwendung im Einzelfall kann zu einer Verletzung der politischen Rechte führen. Dagegen stehen den Stimmberechtigten in allen Kantonen Rechtsmittel zur Verfügung, sei es an ein Gericht, sei es an eine politische Instanz (vgl. die Übersicht bei Hiller, a.a.O., S. 55 ff.). Deren Entscheid kann mit Stimmrechtsbeschwerde beim Bundesgericht angefochten werden. 
 
Die direkte gerichtliche Kontrolle abstrakt-genereller Regelungen, namentlich von Verwaltungsverordnungen, ist dagegen in vielen Kantonen nicht vorgesehen. Würde das Bundesgericht die Anfechtung solcher Regelungen im Verfahren der Stimmrechtsbeschwerde generell zulassen, würde in vielen Fällen die kantonale Rechtsschutzinstanz ausgeschaltet. Es ist aber primär Aufgabe der kantonalen Instanzen, die nach kantonalem Recht eingeräumten politischen Rechte durch Auslegung des kantonalen Rechts zu konkretisieren und deren Schutz zu gewährleisten. 
 
 
Auch im Rahmen der Stimmrechtsbeschwerde rechtfertigt es sich deshalb nur ausnahmsweise, die abstrakte Anfechtung von Verwaltungsverordnungen (Richtlinien, Weisungen) zuzulassen, wenn hierfür ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis besteht. Dies ist der Fall, wenn es für den Stimmberechtigten unzumutbar wäre, die Umsetzung der Weisung im Einzelfall abzuwarten, um Rechtsmittel zu ergreifen. 
1.4 Im vorliegenden Fall sind Richtlinien des Büros des Grossen Rats zur Handhabung der Unvereinbarkeitsbestimmungen gemäss § 29 Abs. 2 KV angefochten. 
 
Es handelt sich dabei nicht um einen Erlass, wie schon die Bezeichnung als "Richtlinie" verdeutlicht. Das Büro des Grossen Rats verfügt denn auch nach Thurgauer Recht über keine Rechtsetzungsbefugnisse: Gemäss § 36 Abs. 3 KV kann der Grosse Rat (und nicht sein Büro) Verordnungen erlassen, und auch dies nur, soweit ihn die Verfassung hierzu ermächtigt. Insofern kann es sich bei den Richtlinien nur um eine verhaltenslenkende Verwaltungsverordnung handeln, mit der eine einheitliche und rechtsgleiche Handhabung der Unvereinbarkeitsbestimmung von § 29 Abs. 2 KV bezweckt wird. 
 
Das Büro des Grossen Rats steht jedoch keiner hierarchisch gegliederten Verwaltung vor und verfügt grundsätzlich nicht über Aufsichtskompetenzen gegenüber anderen Behörden. Insofern hat es weder das Recht, anderen Behörden gegenüber Weisungen im Einzelfall zu erteilen, noch deren Verhalten im Voraus durch Verwaltungsverordnungen zu lenken. Die Richtlinien können also nur für das Büro selbst verbindlich sein, indem sie festlegen, wie es in den nächsten Legislaturperioden die Unvereinbarkeit gemäss § 29 Abs. 2 KV handhaben und dem Grossen Rat Antrag stellen wird. Dies kommt in Ziff. 2 der Richtlinien zum Ausdruck, wonach das Büro für die Einhaltung der Richtlinien sorgt. 
Der Grosse Rat ist zuständig für die Genehmigung von Grossrats-, Regierungsrats- und Ständeratswahlen (§ 25 Ziff. 1 des Gesetzes vom 15. März 1995 über das Stimm- und Wahlrecht). Er befindet auf Antrag des Büros über die Ergebnisse der Wahlen, über Unstimmigkeiten und Wahlrekurse (§ 2 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Grossen Rates vom 22. März 2000). Als Wahlgenehmigungsbehörde ist er auch verpflichtet, die geeigneten Massnahmen zu treffen, um Unvereinbarkeiten zu beheben (§ 43 Abs. 2 der Verordnung des Regierungsrates vom 25. August 2003 zum Gesetz über das Stimm- und Wahlrecht [Stimm- und Wahlrechtsverordnung]). Daraus ergibt sich die Zuständigkeit des Grossen Rats, um im Einzelfall eine Unvereinbarkeit gemäss § 29 Abs. 2 KV festzustellen. Dabei ist er weder an die Richtlinien des Büros gebunden noch an einen auf die Richtlinien gestützten Antrag des Büros: Er kann vielmehr frei über die Auslegung von § 29 Abs. 2 KV und seine Anwendung im Einzelfall entscheiden. 
 
Erst der Beschluss des Grossen Rats, mit dem die Unvereinbarkeit im Einzelfall verneint und der Gewählte trotz seiner Beschäftigung beim Staat als Grossrat zugelassen wird, ist geeignet, die politischen Rechte der Stimmberechtigen zu verletzen. Dieser Beschluss kann von allen Thurgauer Stimmberechtigten beim Bundesgericht mit Stimmrechtsbeschwerde angefochten werden (vgl. BGE 128 I 34 E. 1b S. 36; 116 Ia 242 E. 1a S. 244, 477 E. 1a S. 480; 114 Ia 395 E. 3b S. 399 ff.). 
Dann aber besteht im vorliegenden Fall kein besonderes Rechtsschutzbedürfnis, das es rechtfertigen würde, die Stimmrechtsbeschwerde schon gegen die Richtlinien des Büros zuzulassen, noch bevor der Grosse Rat als zuständige kantonale Instanz über die Auslegung von § 29 Abs. 2 KV entschieden hat. 
1.5 Der Beschwerdeführer macht dagegen in seiner Replik geltend, in dem vom Büro des Grossen Rats in den Thurgauer Medien veröffentlichten Pressetext seien die Richtlinien als verbindlich dargestellt worden; die Bürger hätten daraus den Schluss ziehen müssen, dass Personen mit einem Beschäftigungsgrad von 15 % bei der Verwaltung nunmehr als Kandidaten aufgestellt und gewählt werden könnten. Dies sei eine Irreführung der Wahlberechtigten und sei geeignet, die bevorstehenden Grossratswahlen zu verfälschen. 
 
Dagegen ist zunächst einzuwenden, dass Anfechtungsobjekt der vorliegenden Beschwerde nicht der Pressetext, sondern die Richtlinien selbst sind, die klar als "Richtlinien" und damit als nach aussen (d.h. ausserhalb des Büros des Grossen Rates) nicht verbindlich gekennzeichnet sind. Das Anfechtungsobjekt der Beschwerde kann in der Replik (die im vorliegenden Fall zudem verspätet eingereicht worden ist) nicht erweitert werden. 
 
Im Übrigen ist zu bemerken, dass Personen, die in einem Beschäftigungsverhältnis zum Staat i.S.v. § 29 Abs. 2 KV stehen, durchaus kandidieren und gewählt werden dürfen; sie müssen lediglich nach erfolgter Wahl die Unvereinbarkeit beheben (vgl. § 43 Abs. 1 Stimm- und Wahlrechtsverordnung), indem sie sich entweder für ihre Tätigkeit in der kantonalen Verwaltung oder für das Grossratsmandat entscheiden und auf die jeweils andere, damit unvereinbare Funktion verzichten. 
2. 
Nach dem Gesagten ist auf die Stimmrechtsbeschwerde nicht einzutreten. Praxisgemäss werden keine Kosten erhoben. 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht: 
1. 
Auf die Stimmrechtsbeschwerde wird nicht eingetreten. 
2. 
Es werden keine Kosten erhoben und keine Parteientschädigungen zugesprochen. 
3. 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer und dem Büro des Grossen Rates des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt. 
Lausanne, 23. März 2004 
Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung 
des Schweizerischen Bundesgerichts 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin: